Gericht | VG Potsdam 13. Kammer | Entscheidungsdatum | 27.01.2020 | |
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Aktenzeichen | 13 K 3670/16.A | ECLI | ECLI:DE:VGPOTSD:2020:0127.13K3670.16.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 60 Abs 5 AufenthG, § 113 Abs 5 S 1 VwGO, § 92 VwGO |
Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. September 2016 wird in Nr. 4 bis 6 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, für die Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz hinsichtlich Afghanistans festzustellen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Kläger sind afghanische Staatsangehörige tadschikischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit (schiitisch) und haben zunächst die Anerkennung als Asyl-berechtigte begehrt, hilfsweise die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Asylgesetz (AsylG), weiter hilfsweise subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG und weiter hilfsweise die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthaltsG) vorliegen.
Nach eigenen Angaben lebten die Kläger zuletzt in Herat, im Bezirk Hakir Bekabad und verließen Afghanistan Ende Januar 2015. Am 24. September 2015 reisten sie auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie am 30. November 2015 Asylanträge stellten.
In der Anhörung nach § 25 AsylG am 26. August 2016 gab der Kläger zu 1. an, dass er sich mit seiner Familie zunächst acht Monate mit einem Touristenvisum im Iran aufgehalten habe, das Leben im Iran aber schwierig gewesen sei und er dort für andere Länder in den Krieg habe ziehen sollen. Er und seine Familie haben von Anfang an vorgehabt, nach Deutschland zu gehen. Die Reise in den Iran habe insgesamt 2.000 US-$ gekostet, die Reise nach Deutschland habe weitere 30 Millionen Toman gekostet. Das Geld habe er aus seiner Arbeit als Holzhändler gehabt. Er sei in Maschhad im Iran geboren und mit elf Jahren nach Afghanistan zurückgekehrt. Seine Eltern leben weiterhin in Herat. Er habe noch drei Tanten, drei Brüder und drei Schwestern, die in Afghanistan leben. Er habe die Schule bis zur siebten Klasse besucht. Er habe als Tischler und Holzhändler monatlich 30.000 Afghani verdient. Er habe ein eigenes Haus gehabt, das er nunmehr vermietet habe. Er habe keinen Wehrdienst geleistet. Er habe mit seiner Familie Afghanistan verlassen, weil ihr Leben in Gefahr gewesen sei. Er sei von Taliban in dem Gebiet, in dem er Holz ankaufte (Shorau) und später auch von Taliban an seinem Wohnort bedroht worden. Er sei gläubiger Schiit und habe sich am Gemeindeleben seiner Moschee beteiligt. Er sei verdächtigt worden, für den Iran zu arbeiten. Ihm sei ins Bein geschossen worden, als er mit einem Bus nach Shorau gefahren sei. Der Busfahrer habe Taliban, die den Bus mit etwa 40 Reisenden haben stoppen wollen, ignoriert, woraufhin die Taliban auf den Bus geschossen und ihn getroffen haben. Etwa einen Monat später, am 14. November 2014, sei sein Sohn A... S... entführt worden. Am nächsten Tag sei eine Lösegeldforderung von 50.000 US-$ gestellt worden. Mit Hilfe seines Bruders und seines Vaters habe er 10.000 US-$ zusammen bekommen. Am 17. November 2014 habe er von den Entführern einen Anruf bekommen - ihm sei gesagt worden, er solle ins Krankenhaus kommen. Dort habe er seinen Sohn angetroffen, dessen rechter Arm sehr stark geblutet habe und so verletzt gewesen sei, dass er ihn verloren habe. Der stellvertretende Krankenhausleiter habe ihn aufgefordert, mit seinem Sohn so schnell wie möglich woanders hinzugehen, da man seinem Sohn nicht helfen könne. Er habe ihm geholfen, einen Pass und ein Visum zu besorgen und er sei dann mit seinem Sohn in den Iran, wo er in einem Krankenhaus in Maschhad behandelt worden sei. Er sei etwa einen Monat im Iran geblieben und sei dann zurück nach Afghanistan, um seine restliche Familie zu holen und Afghanistan zu verlassen. Er sei wegen der Vorfälle nicht bei der Polizei gewesen, da diese ihm nicht habe helfen können. Die Verletzung seines Sohnes führt er darauf zurück, dass er von den geforderten 50.000 US-$ nur 10.000 US-$ habe zahlen können. Die Bedrohung durch die Taliban habe etwa ein halbes Jahr vor der Entführung seines Sohnes angefangen. Er sei in der Zeit zweimal im Monat in der Region zum Holz-einkaufen gewesen. Er sei noch nie vor Gericht gestanden, sei nie bestraft oder verurteilt worden, habe keine Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Stellen gehabt, habe sich nicht politisch betätigt und sei nicht Mitglied einer Partei gewesen. Im Falle einer Rückkehr seien sein Leben und die seiner Familie in Gefahr.
Die Klägerin zu 2. machte in ihrer Anhörung zur Flucht und der Entführung ihres Sohnes im Wesentlichen dieselben Angaben wie der Kläger zu 1. und gab darüber hinaus an, aus Griechenland seien sie von den Behörden direkt nach Deutschland gebracht worden. Ihre Eltern leben beide in Herat. Sie habe zwei Brüder und zwei Schwestern. Sie habe die Schule bis zur siebten Klasse besucht und sei danach Hausfrau geworden.
Mit Bescheid vom 15. September 2016 lehnte das Bundesamt die Anerkennung der Kläger als Asylberechtigte ab, erkannte ihnen weder die Flüchtlingseigenschaft noch subsidiären Schutz zu und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach
§ 60 AufenthaltsG vorliegen. Gleichzeitig forderte das Bundesamt die Kläger auf, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen und drohte ihnen für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Afghanistan an.
Mit ihrer am 21. September 2016 bei Gericht eingegangenen Klage haben die Kläger ihr Begehren weiterverfolgt. Sie sind der Auffassung, dass jedenfalls Abschiebungsverbote bestehen.
Mit der Klage haben die Kläger zunächst auch die Anerkennung als Asylberechtigte, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise subsidiären Schutz beantragt, diesen Antrag aber in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen. Sie beantragt nunmehr noch,
den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. September 2016 teilweise aufzuheben und festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf die Begründung des angefochtenen Bescheides den Antrag angekündigt, |
die Klage abzuweisen.
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 26. März 2018 nach § 76 Abs. 1 AsylG auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Im Termin der mündlichen Verhandlung sind die Kläger zu 1. und 2. informatorisch befragt worden. Das zunächst vermietete Haus der Kläger sei inzwischen verkauft worden und die Eltern des Klägers zu 1. leben inzwischen auch im Iran. Ergänzend wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Mit Schriftsatz vom 21. Januar 2020 hat der Bevollmächtigte der Kläger einen Bericht der O...-R... G... G... - S... Z... an den R... K... vom 8. Januar 2020 zu den Akten gereicht, aus dem sich ergibt, dass der Kläger zu 4. deutliche Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung aufweist. |
Die vom Beklagten für die Kläger geführten Verwaltungsvorgänge haben vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf diese und die Gerichtsakte Bezug genommen.
Trotz des Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung konnte abschließend über die Klage entschieden werden, da die Beklagte in der Ladung zum Termin auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist und das persönliche Erscheinen nicht angeordnet worden war (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Nach Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter entscheidet dieser anstelle der Kammer (§ 76 Abs. 1 AsylG).
Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
Die Klage ist zulässig - insbesondere ist sie innerhalb der Frist nach § 74 Abs. 1 Halbsatz 2, § 36 AsylG erhoben worden - und - soweit noch über sie zu entscheiden war - begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 15. September 2016 ist hinsichtlich der Ziffern 4 bis 6 rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger haben im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. |
Nach § 60 Abs. 5 AufenthaltsG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl. 1952 II S. 658) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Reichweite der Schutznormen des § 60 Abs. 5 AufenthaltsG in Verbindung mit Art. 3 EMRK ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, die allein auf der humanitären Lage und den allgemeinen Lebensbedingungen beruht, ist in Einzelfällen denkbar (Bayerischer VGH, Beschluss vom 30. September 2015 - 13a ZB 15.30063 -, juris, Rn. 5 m.w.N.). Humanitäre Verhältnisse im Zielstaat verletzen Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind. Dieses Kriterium ist erfüllt, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf Armut zurückzuführen sind oder auf fehlende staatliche Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen kann - wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führen - eine Verletzung darin zu sehen sein, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelingt, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, angemessen zu befriedigen. Weiter ist darauf abzustellen, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer in Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen oder mit hinreichend sicherer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers Art. 3 EMRK. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungs-niveau voraus. Nur dann ist ein außergewöhnlicher Fall anzunehmen, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind.
Schlechte humanitäre Bedingungen können eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK setzt dabei voraus, dass der Betroffene im Falle einer Rückkehr einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre. Dies ist insbesondere auch dann der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (Bayerischer VGH, Urteil vom 21. November 2014 - 13a B14.30285 -, juris, Rn. 17). |