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Grad der Behinderung - Gutachten - Beweiswürdigung


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat Entscheidungsdatum 15.08.2014
Aktenzeichen L 13 SB 300/10 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 69 SGB 9

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 1. September 2010 geändert sowie der Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 23. Mai 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2007 verpflichtet, bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 50 ab August 2012 festzustellen.

Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens zur Hälfte zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

Die 1955 geborene Klägerin beantragte am 18. Januar 2007 die Feststellung eines GdB und der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „G“. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der ihm vorliegenden Unterlagen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 23. Mai 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2007 bei ihr für die Behinderungen

a) verheilter Wirbelbruch, Wirbelsäulenverformung (20),

b) Anpassungsstörungen (20),

c) Aneurysma (10)

einen Gesamt-GdB von 30 fest, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ ab.

Mit der bei dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) erhobenen Klage hat die Klägerin einen GdB von mindestens 50 begehrt. Ihren zunächst gestellten Antrag, den Beklagten zu verpflichten, die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ festzustellen, hat sie während des Klageverfahrens nicht weiterverfolgt.

Neben Befundberichten der behandelnden Ärzte hat das Sozialgericht das Gutachten des Facharztes für Chirurgie und Sozialmedizin Dr. B vom 27. November 2008 eingeholt, der als Gesundheitsstörungen

a) Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule, Zustand nach in Fehlform verheilter Wirbelkörperfraktur (20),

b) Anpassungsstörungen (20)

festgestellt und mit einem Gesamt-GdB von 30 bewertet hat.

Auf den Antrag der Klägerin ist der Facharzt für Orthopädie Dr. A gehört worden, der nach Untersuchung der Klägerin am 10. Dezember 2009 in seinem Gutachten und der ergänzenden Stellungnahme vom 19. Februar 2010 einen Gesamt-GdB von 50 vorgeschlagen hat. Dem hat er folgende Behinderungen zugrunde gelegt:

a) Verformung der Brustwirbelsäule mit erheblicher statischer Auswirkung und chronisches Schmerzsyndrom der Brustwirbelsäule, Spondylarthrose der Lendenwirbelsäule (40),

b) beginnende Myelopathie bzw. unklare sensomotorische L5-Symptomatik links, Anpassungsstörungen (20).

In seiner Stellungnahme vom 9. Juni 2010 hat der Sachverständige Dr. B an seiner Bewertung festgehalten.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 1. September 2010 abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, dass der Beklagte bei der Klägerin zu Recht einen Gesamt-GdB von 30 festgestellt habe. Es ist hierbei im Wesentlichen dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B gefolgt.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr auf Feststellung eines GdB von mindestens 50 gerichtetes Begehren weiter. Im August 2012 hat sie einen Herzinfarkt erlitten.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. S vom 22. Juli 2013, der nach Untersuchung der Klägerin folgende Funktionsbeeinträchtigungen ermittelt hat:

a) Funktionsstörungen bei Verschleiß der Hals- und Lendenwirbelsäule, Bewegungseinschränkungen der Brustwirbelsäule nach vierfacher Brustwirbelkörperfraktur 2006 (20),

b) Bluthochdruck, abgelaufener Herzinfarkt mit nachfolgender Implantation von drei Stents (20, ab August 2012),

c) Ausweitung einer Schlagader im Gehirn (10),

d) Leistennervenirritation nach Bluterguss der rechten Leiste (10).

Ferner hat der Senat den Befundbericht des die Klägerin behandelnden Dipl.-Psych. W vom 16. September 2013 und das Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. C vom 19. März 2014 eingeholt. Der Sachverständige hat auf seinem Fachgebiet ein chronisches Schmerzsyndrom im Hals- und Brustwirbelsäulenbereich mit psychischen und organischen Faktoren sowie eine Depression und deutlich vermehrte Ängste, insbesondere seit dem Herzinfarkt, festgestellt. Das Wirbelsäulensyndrom hat er mit einem Einzel-GdB von 20, die psychischen Störungen mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet. Der Gesamt-GdB betrage vom Zeitpunkt des Herzinfarktes an 40.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 15. August 2014 hat die Klägerin ihr Begehren auf die Feststellung eines GdB von 50 ab August 2012 beschränkt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 1. September 2010 zu ändern sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 23. Mai 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2007 zu verpflichten, bei ihr einen Grad der Behinderung von 50 ab August 2012 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Ansicht, dass die sozialgerichtliche Entscheidung zutreffend ist.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist, nachdem die Klägerin ihr Begehren auf die Feststellung eines GdB von 50 ab August 2012 beschränkt hat, in diesem Umfang begründet.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz und der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) zu bewerten, die als antizipierte Sachverständigengutachten gelten. Heranzuziehen sind entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum die Fassungen der AHP von 2005 und von 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ in Form einer Rechtsverordnung in Kraft getreten, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.

Überzeugend hat der Allgemeinmediziner Dr. S in dem vom Senat im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten vom 22. Juli 2013 dargelegt, dass bei der Klägerin ab Antragstellung für die Funktionsstörungen bei Verschleiß der Hals- und Lendenwirbelsäule sowie die Bewegungseinschränkungen der Brustwirbelsäule nach vierfacher Brustwirbelkörperfraktur 2006 ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen ist. Nach den Feststellungen des Sachverständigen ist die Beweglichkeit der Halswirbelsäule gering- bis mittelgradig, die der Brustwirbelsäule mittelgradig eingeschränkt. Derartige Funktionsstörungen sind nach Nr. 26.18 der AHP bzw. Teil B Nr. 18.9 der Anlage zur VersMedV mit einem GdB von 20 zu bewerten. Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten, die einen höheren GdB rechtfertigen würden, bestehen bei der Klägerin nicht. Hiermit stimmen die Feststellungen des im Klageverfahren herangezogenen Sachverständigen Dr. B im Gutachten vom 27. November 2008 überein. Die Ansicht des Gutachters Dr. A, die Wirbelsäulenschäden würden einen GdB von 40 bedingen, sind mit den Vorgaben in den AHP bzw. der Anlage zur VersMedV nicht vereinbar.

Der Bluthochdruck der Klägerin sowie der abgelaufene Herzinfarkt mit nachfolgender Implantation von drei Stents bedingen nach Nr. 26.9 der AHP bzw. Teil B Nr. 9.2 und 9.3 der Anlage zur VersMedV einen Einzel-GdB von 20 ab August 2012.

Hinsichtlich der Ausweitung einer Schlagader im Gehirn und der Leistennervenirritation nach Bluterguss der rechten Leiste folgt der Senat dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. S, hierfür jeweils einen Einzel-GdB von 10 anzusetzen.

Den Darlegungen des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. C im Gutachten vom 19. März 2014 zufolge leidet die Klägerin insbesondere seit dem Herzinfarkt im August 2012 an einer Depression und deutlich vermehrten Ängsten. Hierbei handelt es sich um stärker behindernde Störungen. Hierfür ist nach Nr. 26.3 der AHP bzw. Teil B Nr. 3.7 der Anlage zur VersMedV ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 vorgesehen. Der Senat folgt dem Vorschlag des Gutachters, diese psychischen Störungen mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten, nicht. Denn dessen Begründung, es fände keine Behandlung statt und durch die Behandlung wäre eine gewisse Besserung zu erreichen, ist nicht überzeugend. Aus demBefundbericht des die Klägerin behandelnden Dipl.-Psych. W vom 16. September 2013 ergibt sich vielmehr, dass die Behandlung über den Zeitpunkt des Befundberichts hinaus fortgesetzt worden ist. Angesichts des massiven sozialen Rückzugs der Klägerin, deren soziale Aktivitäten sich darauf reduzieren, bisweilen am Nachmittag mit der Nachbarin spazieren zu gehen, hält der Senat einen Einzel-GdB von 40 für angemessen, zumal auch der Sachverständige für den – hier zutreffenden – Fall, dass eine Behandlung stattfinde, einen GdB in dieser Höhe als gerechtfertigt erachtet hat.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Nr. 19 Abs. 3 der AHP bzw. Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Der höchste Einzel-GdB von 40 für die Depression und die deutlich vermehrten Ängste ist zwar nicht im Hinblick auf das Wirbelsäulensyndrom zu erhöhen, da insoweit nach den gutachterlichen Feststellungen Überschneidungen bestehen, wohl aber mit Rücksicht auf die Funktionsstörungen bei Verschleiß der Hals- und Lendenwirbelsäule, Bewegungseinschränkungen der Brustwirbelsäule nach vierfacher Brustwirbelkörperfraktur 2006 mit einem Einzel-GdB von 20 sowie den Bluthochdruck und den abgelaufenen Herzinfarkt mit nachfolgender Implantation von drei Stents mit einem Einzel-GdB von 20 ab August 2012. Die beiden letztgenannten Behinderungen hat der Sachverständige Dr. S überzeugend mit einem zusammengefassten GdB von 30 bewertet. Die Ausweitung einer Schlagader im Gehirn und die Leistennervenirritation nach Bluterguss der rechten Leiste sind hingegen nicht geeignet, den Gesamt-GdB anzuheben. Denn nach Nr. 19 Abs. 4 der AHP bzw. Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die (wie die genannten Erkrankungen) nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt, dass der Gesundheitszustand der Klägerin sich erst im Laufe des Berufungsverfahrens verschlechtert, der Beklagte jedoch hierauf nicht durch eine Erhöhung des zunächst korrekt festgestellten Gesamt-GdB von 30 auf 50 reagiert hat.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.