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Vietnam; Duldungsanspruch; familiäre Gemeinschaft mit Vietnamesin und zwei Kleinkindern; gemeinsames Kleinkind; deutsches Kind von anderem Vater; tatsächliche Vater-Kind-Beziehung; Trennung; gemeinsame Rückkehr; Zumutbarkeit; Grenzübertrittsbescheinigung; Stattgabe; PKH


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat Entscheidungsdatum 20.01.2014
Aktenzeichen OVG 11 S 2.14, OVG 11 M 3.14 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG, § 60a AufenthG, Art 6 GG, § 114 VwGO, § 123 Abs 1 VwGO, § 146 Abs 4 VwGO

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 16. September 2013 wird geändert, soweit hierin der hilfsweise gestellte Antrag des Antragstellers auf Verpflichtung des Antragsgegners im Wege einstweiliger Anordnung abgelehnt wurde, seinen weiteren Aufenthalt zu dulden und von seiner Abschiebung abzusehen, und soweit diesbezüglich auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt wurde.

Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren eine Duldung zu erteilen.

Dem Antragsteller wird unter Beiordnung von Rechtsanwältin ... erstinstanzlich Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung hinsichtlich seines Begehrens auf Erteilung einer Duldung im Wege einstweiliger Anordnung bewilligt.

Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens trägt Antragsteller zu ein Drittel und Antragsgegner zu zwei Drittel, die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Antragsgegner.

Die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung wird ebenfalls geändert und der dortige Streitwert auf 3.750 EUR festgesetzt, wovon auf das Duldungsbegehren 2.500 EUR entfallen. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Die rechtzeitig erhobene und begründete Beschwerde des vietnamesischen Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 16. September 2013, mit der er nur sein erstinstanzlich hilfsweise geltend gemachtes Begehren auf Verpflichtung des Antragsgegners im Wege einstweiliger Anordnung zur Erteilung einer Duldung bzw. Untersagung von Abschiebemaßnahmen und Gewährung von Prozesskostenhilfe insoweit weiterverfolgt, hat auf der Grundlage des Beschwerdevorbringens und der hierbei erfolgten Glaubhaftmachung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

1. Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Versagung vorläufigen Rechts-schutzes hinsichtlich des Duldungs- bzw. Abschiebungsschutzbegehrens ist auf der nach § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO maßgeblichen Grundlage des Beschwerdevorbringens begründet. Denn ihm steht ein Anspruch auf Verpflichtung des Antragsgegners zur Erteilung einer Duldung im Wege einstweiliger Anordnung bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu.

Dass ihm im Hinblick auf einen Antrag bei der Härtefallkommission eine Grenzübertrittsbescheinigung mit einer Ausreisefrist bis zum 22. April 2014 erteilt wurde, stellt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - abgesehen vom unterschiedlichen zeitlichen Geltungsbereich - nicht in Frage. Denn eine solche Bescheinigung regelt anders als die Duldung nicht die aufenthaltsrechtliche Stellung eines Ausländers, sondern ermöglicht nur die Kontrolle seiner Ausreise (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Juni 2012 - 18 E 491.12 -, juris Rz. 10 f. m.w.N.).

Der Antragsteller ist unstreitig Vater eines am 13. Februar 2013 in Deutschland geborenen vietnamesischen Kindes, für das ihm gemeinsam mit der vietnamesischen Kindesmutter - seiner Lebensgefährtin H. - das Sorgerecht zusteht und die zusammen eine familiäre Lebensgemeinschaft bilden. Hierzu gehört ferner ein weiteres, am 15. Februar 2011 geborenes Kind der Lebensgefährtin, das die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, und im Hinblick auf das H. eine - derzeit bis zum 6. Juni 2014 gültige - Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG besitzt. Der Vater dieses Kindes lebt in Aachen. Ausweislich einer im Beschwerdeverfahren vorgelegten eidesstattlichen Versicherung der Kindesmutter vom 15. Oktober 2013 sowie einer vorangegangenen handschriftlichen Erklärung vom 23. September 2013 hat dieses ältere Kind regelmäßig Kontakt mit seinem Vater und sehen sich beide mindestens einmal im Monat über das Wochenende.

Dass diese Vater-Kind-Beziehung tatsächlich nicht besteht, ist derzeit jedenfalls nicht hinreichend sicher feststellbar. Soweit der Antragsgegner auf eine Stellungnahme der Arbeiterwohlfahrt vom 14. Oktober 2013 gegenüber der Härtefallkommission verweist, wonach der zweijährige Sohn „kaum Kontakt“ zu seinem (leiblichen) Vater habe, kann dem schon angesichts fehlender Darlegung, auf welchen Erkenntnissen und Grundlagen diese Behauptung beruht, gegenüber der o.g. eidesstattlich versicherten Erklärung der H. kein entscheidendes Gewicht beigemessen werden, zumal auch der Begriff „kaum“ inhaltlich wenig aussagekräftig ist.

Vor diesem Hintergrund würde die vom Verwaltungsgericht für zumutbar gehaltene Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft des Antragstellers mit seiner vietnamesischen Lebensgefährtin, dem gemeinsamen vietnamesischen Baby und diesem Kind in Vietnam dazu führen, eine möglicherweise bestehende tatsächliche Vater-Kind-Beziehung zu seinem in Deutschland lebenden Vater zu trennen. Erscheint das jedoch offen, muss die Interessenabwägung im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens zu Gunsten des Antragstellers ausfallen. Denn eine tatsächliche Vater-Kind-Beziehung ist auch im Falle einer nicht bestehenden Haushaltsgemeinschaft schutzwürdig ist und zwar insbesondere dann, wenn hiervon - wie vorliegend - ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, weil dieses selbst einen nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen kann und ihn rasch als endgültigen Verlust erfährt. Das ist gerade auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung hinreichend geklärt (vgl. nur BVerfG, Beschlüsse vom 1. Dezember 2008 - 2 BvR 1830.08 -, juris 26 ff., und vom 9. Januar 2009 - 2 BvR 1064/08 -, NVwZ 2009, 387, 388). Davon, dass als Alternative eine Trennung der familiären Lebensgemeinschaft des Antragstellers von seiner Lebensgefährtin und beiden Kindern, u.a. dem gemeinsamen Baby, derzeit nicht in Betracht kommt, geht zu Recht auch das Verwaltungsgericht aus. Dass der Antragsgegner dies anders beurteilt, ist nicht ersichtlich.

Angesichts dessen mag letztlich dahinstehen, ob die Annahme des Verwaltungsgerichts zutrifft, dass die deutsche Staatsangehörigkeit des älteren Kindes der gemeinsamen Übersiedlung mit seiner vietnamesischen Mutter sowie dem Antragsteller und dem gemeinsamen Baby nach Vietnam nicht entgegenstehe, da dieses sein Freizügigkeitsrecht aus Art. 11 GG angesichts seines Alters noch nicht eigenständig ausüben könne und sich die Abschiebungsandrohung auch nicht gegen dessen - das Aufenthaltsbestimmungsrecht ausübende - Eltern richte. Zwar folgt aus der deutschen Staatsangehörigkeit eines Kindes nicht, dass diesem eine Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft im Ausland ohne Hinzutreten besonderer Umstände stets unzumutbar wäre, jedoch hängt der durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK gewährleistete Schutz der gelebten Familiengemeinschaft und die Zumutbarkeit einer Ausreise eines deutschen Kindes davon ab, welche Folgen eine - ggf. bis zur Volljährigkeit andauernde, aber jedenfalls vorübergehende - Fortführung der Familiengemeinschaft im Ausland für das Kind hätte, ob und ggf. welche Alternativen denkbar wären und wie sich ein derartiger Aufenthalt im Ausland ggf. auf die rechtlich gesicherte Möglichkeit einer späteren Rückkehr und Reintegration auswirken würde (BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15.12 -, juris Rz. 17 m.w.N.). Dies wird der Antragsgegner vorliegend im Einzelnen zu prüfen haben. Im Übrigen bedarf es auch der Feststellung, ob dem deutschen Kind überhaupt eine Übersiedlung nach Vietnam möglich wäre (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2008 - 2 BvR 588.08 -, juris Rz. 16). Dass vorliegend derartige Feststellungen getroffen wurden, ist nicht ersichtlich.

2. Im Hinblick hierauf und angesichts seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse - als Bezieher von Leistungen nach dem AsylbLG vermag der Antragsteller die Kosten der Prozessführung nicht aufzubringen -, war ihm gemäß § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 und 121 ZPO Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung für das erstinstanzliche Verfahren zu bewilligen und seine Verfahrensbevollmächtigte beizuordnen, soweit dies dort für das hilfsweise geltend gemachte Duldungs- bzw. Abschiebungsschutzbegehren abgelehnt worden war.

Die Kostenentscheidung folgt für das Beschwerdeverfahren aus §§ 154 Abs. 1 und für das erstinstanzliche Verfahren aus 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 und 63 Abs. 3 GKG, wobei für das erstinstanzliche Verfahren betreffend die isolierte Abschiebungsandrohung der hälftige Auffangstreitwert und für das Verfahren betreffend die Duldung der volle Auffangstreitwert zugrundegelegt und beides wegen des vorliegend nur begehrten vorläufigen Rechtsschutzes halbiert wird (Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, Ziffern 1.5 und 8.3).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).