Gericht | OLG Brandenburg 4. Senat für Familiensachen | Entscheidungsdatum | 25.05.2011 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | 13 WF 185/10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
1. Es entspricht grundsätzlich nicht dem Kindeswohl, eine bereits vollzogene einstweilige Anordnung zur Aufenthaltsbestimmung ohne schwerwiegende Gründe abzuändern (vgl. OLG Hamm FamRZ 2006, 1478 m.w.N.). Das würde einen erneuten Ortswechsel des Kindes für den (regelmäßig nur kurzen) Zeitraum bis zum Erlass der Entscheidung des Familiengerichts in der Hauptsache zur Folge haben, ohne dass bei ihm Gewissheit darüber besteht, wo es in Zukunft leben sollen. Eine solche Maßnahme ist ihm aber nicht ohne weiteres zuzumuten.
2. Mehrere Anträge zu Teilbereichen der elterlichen Sorge (hier Aufenthaltsbestimmung, Gesundheit und Antragsrecht), führen zu keiner Werterhöhung (vgl. Schulte-Bunert/Weinreich/Keske, FamFG Kommentar, 2. Auflage, § 45 FamGKG Rn. 2 m.w.N).
Die Beschwerde der Beteiligten zu 1. gegen den Beschluss des Amtsgerichts Neuruppin vom 08.11.2010 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Beschwerdeführerin zu tragen.
I.
Das Amtsgericht hat der Beteiligten zu 1. als alleiniger Inhaberin des Sorgerechts mit Beschluss vom 14.10.2010 vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre vier in ihrem Haushalt lebenden Kinder P…, J…, M…und F… entzogen und das Jugendamt Neuruppin zum Ergänzungspfleger bestellt. Zur Begründung hat es ausgeführt, ihr weiterer Sohn Fl…, der vom 13.02.2006 bis 04.09.2008 in ihrem Haushalt gelebt hatte, habe gegenüber seiner Erzieherin glaubhaft geschildert, als früheres Haushaltsmitglied neben seinem Bruder P… Opfer sexueller Misshandlungen durch den Lebensgefährten der Kindesmutter geworden zu sein; diese verleugne dessen Verdacht und schütze ihre Kinder in ihrem Haushalt unzureichend vor möglichen sexuellen Übergriffen durch ihren Lebensgefährten.
Nachdem J… wegen wiederholter Wutausbrüche und aufgrund einer suizidalen Äußerung am 25.10.2010 in die Kinder- und Jugendpsychiatrie Neuruppin eingewiesen wurde und die Kindesmutter hierzu keine Zustimmung erteilte, entzog das Amtsgericht ihr mit Beschluss vom 26.10.2010 das Recht der Gesundheitsfürsorge für P… und ihre drei Töchter.
Nach mündlicher Verhandlung vom 22.10.2010 hat das Amtsgericht seine Beschlüsse vom 14. und 26.10.2010 durch Beschluss vom 08.11.2010 aufrecht erhalten. Neben der fortbestehenden mangelnden Vorsorge gegen mögliche Übergriffe ihres Lebensgefährten träten Verhaltensauffälligkeiten aller Kinder, die bei P… und J… behandlungsbedürftig, kindeswohlgefährdend und in einem Hauptsacheverfahren aufklärungsbedürftig seien. Die Entziehung der Gesundheitsfürsorge sei wegen fehlender Zustimmung zu nötigen Maßnahmen weiterhin erforderlich.
Die Beschwerdeführerin hält die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes für unverhältnismäßig. Auch die Entziehung der Gesundheitssorge sei zu Unrecht erfolgt, da sie die Beendigung der Behandlung J…s nicht gefordert habe. Wäre sie gefragt worden, hätte sie die notwendige Zustimmung erteilt. Sie befürworte zudem eine Unterbringung P…s in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und arbeite mit dem Jugendamt und der evangelischen Jugendhilfe Wittstock zusammen.
II.
Die nach §§ 57 Satz 2 Nr. 1, 58, 63 Abs. 2 Nr. 1 FamFG statthafte und zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Der Beschluss des Amtsgerichts, der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitsfürsorge und das Recht, Anträge bei Behörden, u. ä. zu stellen, vorläufig zu entziehen und dem Jugendamt als Ergänzungspfleger zu übertragen, begegnet bei der hier vorzunehmenden summarischen Prüfung im Ergebnis keinen durchgreifenden Bedenken und hält den Beschwerdeangriffen stand.
Eingriffe in das Recht der Personensorge wegen Fehlverhaltens des Sorgeberechtigten gemäß §§ 1666, 1666 a BGB kommen in Betracht, wenn das Wohl des Kindes gefährdet wird, sofern die Sorgeberechtigten nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr selbst abzuwenden. Die Trennung des Kindes von den sorgeberechtigten Eltern darf gemäß § 1666 a Abs. 1 BGB nur erfolgen, wenn das Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht hat, dass das Kind in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist und dieser Gefahr nicht auf andere Weise - auch nicht durch öffentliche Hilfe - begegnet werden kann (BVerfG, FamRZ 2002, 1021).
Wird, wie hier vom Jugendamt, die Gefährdung des Kindeswohls geltend gemacht (§ 1666, 1666 a BGB), ist das Gericht verpflichtet, den Erlass einer einstweiligen Anordnung unverzüglich nach der Verfahrenseinleitung zu prüfen, § 157 Abs. 3 FamFG. Eine einstweilige Anordnung ist zu erlassen, wenn ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht, § 49 FamFG. Dieses liegt vor, wenn ein Abwarten bis zur endgültigen Entscheidung nicht möglich ist, weil diese zu spät kommen würde, um die zu schützenden Interessen, hier das Kindeswohl, zu wahren (vgl. Keidel/Giers, FamFG, § 49, Rz. 13).
Die danach gebotene summarische Prüfung dieser Voraussetzungen im einstweiligen Anordnungsverfahren führt hier dazu, eine entsprechende Gefährdung des Kindeswohls zu bejahen. Insoweit besteht auch zur Überzeugung des Beschwerdegerichts die Befürchtung, dass ohne Erlass der in Rede stehenden Entscheidung vor der abschließenden Klärung eine nachhaltige Beeinträchtigung des Kindeswohls eintreten könnte.
1. Missbrauchsverdacht
a) Der Verdacht des sexuellen Missbrauchs an den Söhnen ist nicht von der Hand zu weisen. Der Sohn Fl… hat entsprechendes Verhalten wiederholt gegenüber unterschiedlichen Personen geschildert (14.06.2010 Fr Sch…, vgl. 59 BA; 13.10.2010, Fr. H…; 19.10.2010, vgl. 60 BA; Verfahrensbeistand, vgl. 32 GA, staatsanwaltschaftliche Vernehmung 21.02.2011, vgl. 167 GA). Seine Bekundungen waren in sich im Wesentlichen strukturgleich und er konnte sie – abgesehen von seiner staatsanwaltschaftlichen Vernehmung - auf Nachfrage mit der Situation weiter verflechten und auffächern in passende emotionale Begleiterlebnisse (z.B. nicht gehaltenes Belohnungsversprechen, 2 GA).
Die Geschehnisse schilderte er ohne eine „Verfolgungstendenz“, d.h. ohne sichtbar darauf abzuzielen, den Freund der Kindesmutter ins Gefängnis zu bringen.
Sie fügen sich auch objektiv nahtlos in seine massive Verhaltensstörung zum Zeitpunkt seines Verlassens des Kindesmutter-Haushaltes (vgl. Arztbericht 26.11.2008, 55 BA) und in die ebenfalls auffällige und behandlungsbedürftige Verhaltensstörung ihres in ihrem Haushalt verbliebenen Sohnes P….
Aus derzeitiger Sicht spricht auch im Ermittlungsverfahren alles dafür, ein Glaubwürdigkeitsgutachten über Fl…s Aussage einzuholen (vgl. 78 BA).
b) Das Verhalten der Mutter, die ihren Sohn - statt dessen Aussagen auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen - massiv mit den Worten beschimpft hat „Du reitest uns alle in die Scheiße“, ist geprägt von einer ausgeprägten Abwehrhaltung, die die objektiv für die Richtigkeit der Aussage sprechenden Gesichtspunkte nachhaltig ausblendet; dementsprechend hat die Kindesmutter von sich aus keinerlei Schutzvorkehrungen oder Vorsichtsmaßnahmen zugunsten ihrer in ihrem Haushalt lebenden Kinder ergriffen, obwohl diese sich ohne Widerlegung der objektiv für die Richtigkeit der Schilderung Fl…s Umstände unabweisbar aufgedrängt hätten.
Bei dieser Sachlage erscheint nach Anhörung der Mutter der Ausspruch eines bloßen Umgangsverbotes für den Freund der Mutter mit ihren Kindern in deren Wohnung ungenügend. Vor allem vermittelte die Mutter bei ihrer Anhörung im Termin dem Senat nicht den Eindruck, ein solches Umgangsverbot strikt durchsetzen zu wollen oder zu können. So erklärte sie etwa auf die Frage nach möglichen Konsequenzen gegenüber ihrem Lebensgefährten, diese zwar mit Sicherheit und unumkehrbar ziehen zu wollen, allerdings nur, falls sich der Vorwurf bewahrheite.
Bei diesem Gesamtverhalten vermag der Senat eine mögliche Verdunklungsgefahr durch entsprechende Beeinflussung der Kinder ebenso wenig hinreichend sicher auszuschließen, wie eine nachhaltige Vertiefung eines Loyalitätskonfliktes der Kinder.
2. Verwahrlosung
Die Behandlungsbedürftigkeit von J… und P… wegen Verhaltensauffälligkeiten ist unstreitig.
Desgleichen steht fest, dass alle vier Kinder in ihrem Haushalt verhaltensauffällig waren, was die Schulen aller vier Kinder bereits des Öfteren mitgeteilt hatten, und dass die Kinder bei ihrer Unterbringung in Wittstock sehr ungepflegt waren, Läuse hatten, Probleme hatten, sich sinnvoll zu beschäftigen und durch eine stark sexualisierte Sprache auffielen (Bericht evangelische Jugendhilfe, 37 ff GA). Auch dies liefert greifbare Anhaltspunkte für gravierende Erziehungsdefizite der Mutter, die, wie bereits im Hauptsacheverfahren eingeleitet, abermals die Begutachtung ihrer Erziehungsfähigkeit nahelegen. Auch hier konnte die Beschwerdeführerin, die bislang an einer auch aus Sicht des Senates unverzichtbaren Begutachtung nicht mitgewirkt hat, ein Problembewusstsein für mögliche Erziehungsdefizite nicht vermitteln.
Die von ihr zur Beschwerdebegründung herangezogene Zusammenarbeit mit dem Jugendamt ließ sich so nicht feststellen. Weder konnte die Beschwerdeführerin dartun, welche Änderung sie in ihrem Erziehungsverhalten aufgrund einer Zusammenarbeit mit dem Jugendamt in Betracht zöge, noch hat das Jugendamt eine konstruktive Zusammenarbeit bestätigt.
3. Gesundheitssorge
Es bestehen erhebliche Zweifel, ob die Kindesmutter hinreichend in der Lage ist, die gesundheitlichen Belange der Kinder zu erkennen und gegebenenfalls erforderliche Schritte in die Wege zu leiten. Ihr Verhalten ist insofern insgesamt geprägt durch eine unverständliche Passivität. Nachdem sich ihr Sohn Fl… wegen massivster Störungen (u.a. Koten in die Zimmerecken) vom 04.09. bis 18.12.2008 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Neuruppin aufgehalten hatte und von dort in eine Pflegefamilie gegeben wurde, beschränkt sich ihr Vortrag, obwohl anwaltlich vertreten, insoweit auf die lapidare Ausführung, die Klinik habe ihr nie mitgeteilt, dass Fl… Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden sei (vgl. 58 GA). Mögliche Ursachen seiner massiven Störungen hat die Kindesmutter offensichtlich weder bei den Ärzten noch bei dem Jugendamt, dem ein Arztbericht vom 26.11.2008 hierzu vorlag (vgl. 55 BA), nachgefragt oder erörtert.
Desgleichen konnte die Beschwerdeführerin in ihrer Anhörung ihren völligen Mangel an Initiative nach der Einlieferung von J… nicht nachvollziehbar erläutern. Es hätte sich der damals noch sorgeberechtigten Mutter nach Kenntnis von der Notaufnahme eine sofortige Zustimmung hierzu und zur unverzichtbaren Behandlung unabweisbar aufdrängen müssen.
Nicht zuletzt ergab nach dem vom Verfahrensbeistand mit Schriftsatz vom 20.04.2011 eingereichten Anhörungsprotokoll vom 23.03.2011 aus dem Verfahren 55 F 6/11 – Amtsgericht Neuruppin – eine Nachfrage bei dem von der Beschwerdeführerin benannten Kinderarzt, dass dort weder Impfungen noch U-Untersuchungen durchgeführt worden waren (vgl. 191 GA).
4. Bei einer Gesamtbetrachtung der vorstehenden Umständen war die Entziehung der streitgegenständlichen Teile der elterlichen Sorge durch das Familiengericht auch verhältnismäßig i. S. d. § 1666a I BGB, zumal es sich dabei nur um eine vorübergehende Maßnahme handelt und vor vollständiger Aufklärung des Missbrauchsverdachtes und der Erziehungseignung der Mutter nicht beurteilt werden kann, ob und gegebenenfalls welche alternativen Maßnahmen in Betracht kommen, um die sich hier als greifbar darstellenden Gefährdungen für die Kinder abzuwenden.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass alle Kinder seit Mitte Oktober 2010 nicht mehr im mütterlichen Haushalt leben und dass es grundsätzlich nicht ihrem Wohl entspricht, die bereits vollzogene einstweilige Anordnung ohne schwerwiegende Gründe abzuändern (vgl. OLG Hamm FamRZ 2006, 1478 m.w.N.). Das würde einen erneuten Ortswechsel der Kinder für den (regelmäßig nur kurzen) Zeitraum bis zum Erlass der Entscheidung des Familiengerichts in der Hauptsache zur Folge haben, ohne dass bei ihnen Gewissheit darüber besteht, wo sie in Zukunft leben sollen. Eine solche Maßnahme ist ihnen aber - auch vor dem Ergebnis ihrer Anhörung - nicht ohne weiteres zuzumuten.
Die älteste, am 24.04.1995 geborene Tochter F… hat, wie bereits gegenüber dem Verfahrensbeistand und bei ihrer Anhörung am 23.03.2011 bekräftigt, auch bei ihrer Anhörung durch den Senat den festen Wunsch geäußert, dauerhaft und unabhängig vom Ausgang des Hauptsacheverfahrens in der Einrichtung zu bleiben und ihre Mutter, zu der sie wie auch ihre Geschwister eine feste Bindung hat, nur noch zu besuchen. Diesem Wunsch ist, da F… 16 Jahre alt ist und ihn rational abwägend hergeleitet hat, beträchtliches Gewicht beizumessen. Er ist ernsthaft und beachtlich, kontrastiert allerdings deutlich mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin, wonach F… die Einrichtung unbedingt verlassen und in den mütterlichen Haushalt zurückkehren wolle.
Auch die am 16.03.2000 geborene M… tendierte zur ihrem jetzigen Wohnort mit Wochenendbesuchen bei der Kindesmutter. Die am 09.07.2001 geboren J…, die sich nach ihrer Rückkehr aus Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wittstock noch nicht so integriert hat, wie ihre Schwestern, zieht es nach Hause, weil sie dort Fernsehen gucken könne. Der am 27.11.2003 geborene P… wollte nach Hause, wenngleich es ihm in seiner jetzigen Schule gefalle und er auch mit F… zusammenbleiben wolle. Damit entsprach vor dem Hintergrund eines mit abnehmendem Alter schwindenden Gewichtes des Kindeswunsches die Beibehaltung der amtsgerichtlichen Entscheidung auch der Beachtung des Kindeswohls unter den Gesichtspunkten der erforderlichen Erziehungskontinuität und vor allem der Bindung der Kinder aneinander.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG.
Der Gebührenstreitwert beträgt 1.500 €, §§ 45 Abs. 1 Nr. 1, 41 FamGKG. Mehrere Anträge zu Teilbereichen der elterlichen Sorge (hier Aufenthaltsbestimmung, Gesundheit und Antragsrecht), führen zu keiner Werterhöhung (vgl. Schulte-Bunert/Weinreich/Keske, FamFG Kommentar, 2. Auflage, § 45 FamGKG Rn. 2 m.w.N). Desgleichen hat eine Werteaddition wegen der Betroffenheit mehrerer Kinder zu unterbleiben, § 45 Abs. 2 FamGKG.