Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 10.05.2012 | |
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Aktenzeichen | L 13 SB 126/08 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 69 SGB 9 |
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 25. April 2008 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ – Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht – erfüllt.
Bei der 1957 geborenen Klägerin hatte der Beklagte im Jahre 2000 wegen folgender Behinderungen
a) Wirbelsäulenfunktionsbehinderung mit Parese der unteren Extremitäten und Wurzelreizsyndrom der Arme (100),
b) gemischte Harninkontinenz (10),
einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen "G"), einer außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen "aG"), der Notwendigkeit der ständigen Benutzung eines Rollstuhls und der Notwendigkeit ständiger Begleitung (Merkzeichen "B") festgestellt.
Den Antrag der Klägerin vom 7. Juni 2005 auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11. Juli 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2006 ab. Hierbei stellte der Beklagte fest, dass ab Antragstellung die gesundheitlichen Voraussetzungen der Hilflosigkeit (Merkzeichen "H") vorliegen.
Die daraufhin erhobene Klage hat das Sozialgericht Potsdam nach Einholung von Befundberichten mit Urteil vom 25. April 2008 als unbegründet abgewiesen: Die Klägerin erfülle nicht die medizinischen Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF“.
Mit der Berufung gegen diese Entscheidung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Orthopäde Dr. S angehört worden, der im Gutachten vom 18. September 2009 ausgeführt hat, die Klägerin müsse aufgrund erheblicher Schmerzen und seit September 2008 neu hinzu gekommener Panikattacken mit Entwicklung von Agoraphobie auf den Besuch öffentlicher Veranstaltungen verzichten.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Nervenarztes Dr. A vom 20. Mai 2010, der ausgeführt hat, dass die Klägerin neben einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung an keiner psychiatrischen Störung und ganz gewiss nicht an einer Agoraphobie leide. Unüberwindbare psychische Hemmschwellen, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, lägen nicht vor.
Der nach § 109 SGG gehörte Neurologe Dr. G ist im Gutachten vom 5. April 2012 zu dem Schluss gelangt, dass die Klägerin in der Lage sei, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, wenn sie dorthin gebracht und begleitet wird. Unüberwindbare psychische Hemmschwellen beständen nicht.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 25. April 2008 und den Bescheid des Beklagten vom 11. Juli 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2006 aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, bei ihr ab 7. Juni 2005 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält seine Entscheidung unter Berufung auf diverse versorgungsärztliche Stellungnahmen für zutreffend.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet.
Sie hat keinen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihr die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erforderlichen Nachteilsausgleichs „RF“ vorliegen (vgl. § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuches, Neuntes Buch - SGB IX -).
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrages werden auf Antrag folgende natürliche Personen und deren Ehegatten im ausschließlich privaten Bereich von der Rundfunkgebührenpflicht befreit:
behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 vom Hundert beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger als 30 Minuten dauern, also nicht nur Ereignisse kultureller Art, sondern auch Sportveranstaltungen, Volksfeste, Messen, Märkte und Gottesdienste (vgl. BSG, Urteil vom 17. März 1982, 9a/9 RVs 6/81, SozR 3870 § 3 Nr. 15 = BSGE 53, 175). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen kann nur dann bejaht werden, wenn der Schwerbehinderte in einem derartigen Maße eingeschränkt ist, dass er praktisch von der Teilnahme am öffentlichen Gemeinschaftsleben ausgeschlossen und an das Haus gebunden ist. Mit dieser sehr engen Auslegung soll gewährleistet werden, dass der auch aus anderen Gründen problematische Nachteilsausgleich „RF“ (vgl. insbesondere BSG, Urteile vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91, in: Breith 1994, S. 230, und vom 16. März 1994, 9 RVs 3/93, bei Juris, das die Auffassung vertritt, es erscheine wegen der nahezu vollständigen Ausstattung aller Haushalte in Deutschland mit Rundfunk- und Fernsehgeräten zunehmend zweifelhaft, dass durch den Nachteilsausgleich „RF“ tatsächlich ein behinderungsbedingter Mehraufwand ausgeglichen werde) nur Personengruppen zugute kommt, die den ausdrücklich genannten Schwerbehinderten (Blinden und Hörgeschädigten) und den aus wirtschaftlicher Bedrängnis sozial Benachteiligten vergleichbar sind.
Der Senat vermag den vorliegenden ärztlichen Äußerungen nicht zu entnehmen, dass die Klägerin die geschilderten Voraussetzungen erfüllt. Zwar wurde ihr ein GdB von 100 zuerkannt. Bei ihr bestehen jedoch keine Leiden im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrages, die sie ständig daran hinderten, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Die Klägerin leidet unter schweren Bewegungsstörungen, deretwegen das Versorgungsamt die Merkzeichen "G", "aG" und "B" sowie die Notwendigkeit der ständigen Benutzung eines Rollstuhls zuerkannte. Allerdings ist es ihr zuzumuten, öffentliche Veranstaltungen unter Verwendung eines Rollstuhls und mit Hilfe einer Begleitperson zu besuchen. Durch die Notwendigkeit eines Rollstuhls und einer Begleitperson ist ein Schwerbehinderter nicht von öffentlichen Veranstaltungen ständig ausgeschlossen (so BSG, Urteil vom 3. Juni 1987, 9a RVs 27/85, SozR 3870 § 3 Nr. 25).
Zwar kann ein Schwerbehinderter auch aufgrund psychischer Leiden ständig gehindert sein, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen (siehe BSG, Urteil vom 16. Februar 2012 a.a.O.), jedoch liegen bei der Klägerin derartige Erkrankungen nicht vor. Der fachfremden Einschätzung des Orthopäden Dr. S im Gutachten vom 18. September 2009, dass die Klägerin unter Angst- und Panikattacken leide, wird nicht gefolgt, da sie nicht nachvollziehbar ist. Denn der Gutachter hat nicht dargelegt, auf welchen psychopathologischen Befund er sich stützt. Überzeugend sind die Darlegungen des Nervenarztes Dr. A im Gutachten vom 20. Mai 2010, der nach Untersuchung der Klägerin außer einer somatoformen Schmerzstörung keine psychiatrische Störung hat feststellen können. Den Einwänden der Klägerin gegen das Gutachten, es basiere auf einer falsch erfassten Lebensachverhaltsdarstellung, ist der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13. August 2010 entgegengetreten. Die Ergebnisse, zu denen der Nervenarzt Dr. A gelangt ist, sind für den Senat nachvollziehbar aus dem von dem Gutachter erhobenen differenzierten psychopathologischen Befund und der ihm vorgetragenen Krankheitsgeschichte abgeleitet. Im Übrigen werden sie von dem auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG gehörten Nervenarzt Dr. G im Gutachten vom 5. April 2012 vollständig bestätigt.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (siehe Urteil vom 23. Februar 1987, 9a RVs 72/85, SozR 3870 § 3 Nr. 24) ist ein Schwerbehinderter von öffentlichen Veranstaltungen auch dann ständig ausgeschlossen, wenn ihm dies mit Rücksicht auf die Störung anderer Anwesender nicht zugemutet werden kann. Das ist immer dann der Fall, wenn es den anderen Teilnehmern an öffentlichen Veranstaltungen unzumutbar ist, Behinderte wegen Auswirkungen ihrer Behinderungen zu ertragen, insbesondere, wenn diese durch ihre Behinderungen auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken, zB durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können, oder bei ekelerregenden oder ansteckenden Krankheiten (siehe BSG, Urteil vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91, SozR 3-3870 § 48 Nr. 2).
Der Umstand, dass die Klägerin an einer Harninkontinenz leidet, hindert sie nicht, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Denn Schwerbehinderten mit dieser Erkrankung ist zuzumuten, Windelhosen zu benutzen, die den Harn bis zu zwei Stunden ohne Geruchsbelästigung für andere Menschen aufnehmen (siehe BSG, Urteil vom 12. Februar 1997, 9 RVs 2/96, SozR 3-3870 § 4 Nr. 17 unter Hinweis auf die Urteile vom 11. September 1991, 9a RVs 1/90, und vom 9. August 1995, 9 RVs 3/95).
Auch hat der gerichtliche Sachverständige Dr. A ausdrücklich verneint, dass die Klägerin wegen ihrer Behinderung unzumutbar abstoßend oder störend auf die Umgebung wirkt. Dieser Einschätzung hat der Neurologe Dr. G sich in seinem Gutachten vom 5. April 2012 angeschlossen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.