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Baunachbarschutz; vorläufiger Rechtsschutz; Errichtung eines Einfamilienhaus; Bebauungsplan; textliche Festsetzung; überbaubare Grundstücksfläche; Mindestabstand; Befreiung; nachbarschützende Wirkung; städtebauliche Gründe; Rücksichtnahmegebot; Rechtsmissbrauch; eigener Abstandsflächenverstoß


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 2. Senat Entscheidungsdatum 01.09.2011
Aktenzeichen OVG 2 S 65.11 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 80 Abs 5 S 1 VwGO, § 80a Abs 1 VwGO, § 80a Abs 3 VwGO, § 146 Abs 4 S 4 VwGO, § 146 Abs 4 S 6 VwGO, § 31 Abs 2 BauGB

Tenor

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 15. Juni 2011 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Beschwerde einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt die Antragstellerin.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 3 750 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Antragstellerin ist Eigentümerin des mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks T…in P…. Unter dem 8. März 2011 erteilte der Antragsgegner dem beigeladenen Eigentümer des Nachbargrundstücks T…unter Befreiung von der textlichen Festsetzung Nr. 6 des Bebauungsplanes Nr. 86 „Tornow/Küssel“ eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Einfamilienwohnhauses mit 2 Stellplätzen. Gegen die Baugenehmigung hat die Antragstellerin am 5. April 2011 Widerspruch und nach Erlass des Widerspruchsbescheids am 22. Juni 2011 Klage erhoben. Ihren vor Klageerhebung gestellten Antrag auf Anordnung der nach § 212 a BauGB ausgeschlossenen aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (§ 80 a Abs.1 und 3, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO) hat das Verwaltungsgericht abgelehnt, da der Antragstellerin kein wehrfähiger Abwehranspruch gegen das Vorhaben der Beigeladenen zur Seite stehe.

Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet. Die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist nicht aus den von der Antragstellerin dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, zu beanstanden.

Dem Ausgangspunkt des Verwaltungsgerichts, dass die objektive Rechtswidrigkeit einer Baugenehmigung bzw. einer Befreiung einem Nachbarrechtsbehelf nicht zum Erfolg verhelfen könne, tritt die Beschwerde nicht entgegen. Soweit in der Beschwerdebegründung ausführlich das Fehlen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB für die Zulassung einer Befreiung erörtert wird, beruht dies auf der von den Feststellungen des Verwaltungsgerichts abweichenden Auffassung, die textliche Festsetzung Nr. 6 des Bebauungsplans Nr. 86 „Tornow/Küssel“, von der der Antragsgegner dem Beigeladenen eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB erteilt hat, sei nachbarschützend. Der genannten textlichen Festsetzung zufolge ist innerhalb im einzelnen bezeichneter Flächen die Errichtung einer zweiten Baureihe im Abstand von mindestens 30 m, gemessen zwischen den nächstliegenden Punkten der einander zugewandten Außenwände der Hauptgebäude, zulässig (Satz 1). Derartige Festsetzungen eines Bebauungsplans über die überbaubare Grundstücksflächen sind nach dem zutreffenden Ausgangspunkt des Verwaltungsgerichts nicht schlechthin nachbarschützend, sondern nur dann, wenn sich aus den Festsetzungen des Bebauungsplans, seiner Begründung oder anderweitigen Materialien über die Willensbildung des zuständigen Beschlussorgans hinreichende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Satzungsgeber eine solche Wirkung ausnahmsweise gewollt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Oktober 1995 – 4 B 215.95 -, BRS 57 Nr. 219). Diesen rechtlichen Ausgangspunkt verfehlt die Antragstellerin, soweit sie geltend macht, dass die Festsetzung Nr. 6 des Bebauungsplans Nr. 86 „Tornow/Küssel“ den Gebietscharakter nicht unberührt lasse und auch „Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke“ habe.

Da es nur vom Willen der Gemeinde als Planungsträger abhängt, ob Festsetzungen eines Bebauungsplans über die überbaubaren Grundstücksflächen drittschützend sind, hat das Verwaltungsgericht eine nachbarschützende Wirkung der Festsetzung Nr. 6 des Bebauungsplans Nr. 86 „Tornow/Küssel“ mit der nachvollziehbaren Begründung verneint, dass die Festsetzung eines Mindestabstands von 30 m bei Errichtung einer zweiten Baureihe ausweislich der Planbegründung erfolgt sei, um den aufgelockerten, stark durchgrünten Charakter des Wohngebietes zu erhalten, mithin aus städtebaulichen Gründen. Für ihre Behauptung, die Festsetzung solle gleichzeitig auch „zur Einhaltung des Wohnfriedens durch Schutz vor übermäßiger Beengung und Einsicht“ und damit gerade auch dem individuellen Schutz einzelner Grundstücksanlieger dienen, bleibt die Antragstellerin einen konkreten Beleg unter Auswertung der Planbegründung oder anderweitiger Materialien über die Willensbildung der Gemeinde schuldig. Mit dem schlichten Hinweis, der nachbarschützende Charakter der Festsetzungen des Bebauungsplanes ergebe sich bereits „unmittelbar“ aus den Festsetzungen selbst, genügt das Beschwerdevorbringen nicht den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO.

Soweit die Beschwerde im Ausgangspunkt zutreffend ausführt, dass § 31 Abs. 2 BauGB auch bei einer fehlerhaften Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln kann, wenn nämlich die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die vom Bauherrn beantragte Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen des Nachbarn genommen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Juli 1998 – 4 B 64.98 -, NVwZ-RR 1999, 8), fehlt es an einer nachvollziehbaren Darlegung eines Verstoßes gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme. Soweit die Beschwerde der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass das Rücksichtnahmegebot im Regelfall nicht verletzt sei, wenn die nach der Landesbauordnung erforderlichen Abstandsflächen eingehalten werden, mit dem Hinweis darauf entgegentritt, dass der Plangeber bewusst von der bauordnungsrechtlichen Regelung über die einzuhaltende Abstandsfläche abgewichen sei, unterstellt sie erneut, dass die textliche Festsetzung Nr. 6 des Bebauungsplans Nr. 86 „Tornow/Küssel“, der zufolge innerhalb im einzelnen bezeichneter Flächen die Errichtung einer zweiten Baureihe im Abstand von mindestens 30 m, gemessen zwischen den nächstliegenden Punkten der einander zugewandten Außenwände der Hauptgebäude, zulässig ist, nicht nur städtebaulichen Zwecken, sondern auch dem individuellen Schutz einzelner Grundstücksanlieger dienen soll. Dafür, dass der Plangeber mit der Festlegung der „Abstandsflächen“ von mindestens 30 m nicht nur - wie als Planungsziel in der Planbegründung hervorgehoben - den Charakter eines durchgrünten Wohngebiets mit relativ geringer baulicher Dichte erhalten, sondern in besonderem Maße der Erhaltung des Wohnfriedens, der Belichtung, der Besonnung und Belüftung Rechnung tragen wollte, besteht indes – wie ausgeführt – auf der Grundlage des Beschwerdevorbringens kein Anhaltspunkt.

Auf die weiteren Erwägungen des Verwaltungsgerichts, dass die Berufung auf Nachbarrechte wegen der Nichteinhaltung eigener Abstandsflächen hier rechtsmissbräuchlich erscheine und es grob unbillig wäre, wenn der Beigeladene einen Abstand von 30 m zu dem Gebäude der Antragsteller einhalten müsste, obwohl dieses in Teilen auf seinem Grundstück stehe, kommt es nach alledem nicht an. Auch insoweit kann das Beschwerdevorbringen allerdings nicht ansatzweise überzeugen. Dass das Gebäude der Antragstellerin „nur einige Zentimeter“ über die Grundstücksgrenze überbaut sei, lässt die bei einem Erfolg ihres Rechtschutzbegehrens eintretende offensichtliche Störung des Systems nachbarlicher Ausgleichs- und Rücksichtnahmepflichten zu Lasten des Beigeladenen ebenso wenig entfallen wie der Hinweis darauf, dass die Antragstellerin selbst nicht über die Grundstücksgrenze gebaut und der Plangeber die Festsetzung „im Angesicht der Bestandssituation“ getroffen habe.

Die abschließende Überlegung der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung ihrer gegen den Bauvorbescheid vom 29. Januar 2009 erhobenen Klage könne auch dem Vollzug der angefochtenen Baugenehmigung entgegengehalten werden, ist gedanklich nicht nachvollziehbar.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, der unterlegenen Antragstellerin auch die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen aufzuerlegen, da dieser einen Antrag gestellt und sich daher einem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO). Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG; hinsichtlich der Höhe des Streitwerts folgt der Senat der erstinstanzlichen Entscheidung.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).