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Krankenversicherung - Arzneimittelversorgung - Phlogenzym bei Multipler Sklerose - Nicht verschreibungspflichtig - Fehlen vertragsärztlicher Versorgung - Keine dokumentierte Datenlage - Keine Behandlungsdokumentation


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 9. Senat Entscheidungsdatum 29.02.2012
Aktenzeichen L 9 KR 54/09 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 31 SGB 5, § 34 SGB 5

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 9. Dezember 2008 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt im Berufungsverfahren noch ihre künftige Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Phlogenzym.

Das apotheken-, aber nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel Phlogenzym wird als Filmtablette verabreicht und enthält pflanzliche Wirkstoffe, die Schwellungen und Wasseransammlungen im Gewebe, die durch Entzündungen oder Verletzungen hervorgerufen werden, verringern. Die Enzyme, die in Phlogenzym enthalten sind, vermindern außerdem die Blutgerinnung, indem es die Zeit bis zur Bildung eines Blutgerinnsels verlängert. Außerdem hat Phlogenzym entzündungshemmende Effekte. Es ist für folgende Anwendungsgebiete arzneimittelrechtlich zugelassen (Quelle: Gebrauchsinformation Stand Dezember 2005, www.dimdi.de):

- Ödeme, Entzündungen oder Schmerzen aufgrund von Traumen
- Thrombophlebitis,
- Entzündung des Urogenitaltrakts, auch in Kombination mit Antibiotika,
- Rheumatische Erkrankungen,‘
- Aktive Phasen von Osteoarthrosen, extraartikuläre rheumatische Erkrankungen.

Bei der 1965 geborenen Klägerin wurde im Jahre 1990 Multiple Sklerose festgestellt. Seit 2002/2003 ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. Seit 2003 bezieht sie Rente wegen Erwerbsunfähigkeit; seit Juli 2003 ist sie mit Pflegestufe III pflegebedürftig im Sinne des SGB XI.

Nach den jüngsten bei der Akte befindlichen ärztlichen Unterlagen (Arztbericht Klinik Stift Rottal vom 21. April 2008 und vorläufige Epikrise der Klinik für Psychiatrie im Klinikum Ernst von Bergmann vom 19. Mai 2008) leidet sie unter folgenden Erkrankungen:

- Multiple Sklerose mit primär chronisch-progredientem Verlauf,
- Schlaffe rechtsbetonte Tetraparese,
- Dysarthrie,
- Neurogene Harnblaseninkontinenz,
- Organisch wahnhafte Störung.

Am 5. Dezember 2005 wandte die Klägerin sich an die Beklagte und bat um Kostenübernahme für die während des stationären Aufenthalts in der Vita Natura Klinik für Ganzheitsmedizin vom 29. Juni 2005 bis 3. August 2005 eingeleitete phytotherapeutische Therapie u.a. mit Phlogenzym. Ihr behandelnder Arzt, der Facharzt für Allgemeinmedizin Lehmann, befürwortete dies, verordnete der Klägerin die begehrten Arzneimittel aber nicht.

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg (MDK, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S) nahm am 20. Januar 2006 auf Veranlassung der Beklagten hierzu schriftlich Stellung; es existiere keine durch wissenschaftliche Untersuchungen belegte medizinische Indikation zur Empfehlung der beantragten Behandlung einer multiplen Sklerose mit Phytotherapeutika und Enzymen.

Mit Bescheid vom 15. Februar 2006 lehnte die Beklagte die beantragte Kostenübernahme ab. Nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel seien grundsätzlich von der Versorgung durch die gesetzlichen Krankenkassen ausgeschlossen. Zur Behandlung der multiplen Sklerose gebe es anerkannte Alternativen. Die Verordnung von Arzneimitteln liege in der alleinigen Verantwortung des behandelnden Arztes.

Zur Begründung ihres hiergegen erhobenen Widerspruchs führte die Klägerin aus, ihre schulmedizinische Behandlung sei aufgrund der starken Nebenwirkungen beendet worden. Die Behandlung mit Phytotherapeutika sowie die Enzymtherapie sei demgegenüber erfolgreicher und auch kostengünstiger.

Im Bemühen um weitere Sachaufklärung wandte die Beklagte sich daraufhin an den behandelnden Allgemeinmediziner Lehmann, der keine Angaben zur Sache machte und die Beklagte an den Neurologen Dr. F verwies. Dieser teilte mit Schreiben vom 10. April 2006 mit, die Klägerin befinde sich seit Juni 2005 bei ihm in Behandlung; ein weiterer Krankheitsschub sei seitdem nicht bekannt; die Klägerin erhalte häusliche Krankenpflege, Physiotherapie, manuelle Lymphdrainage und Ergotherapie.

In einer Stellungnahme vom 24. April 2006 hielt der MDK (Dr. S) daraufhin an seiner vorangegangenen Einschätzung fest.

Im weiteren Verlauf bat die Klägerin, jedenfalls der Therapie mit Phlogenzym zuzustimmen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17. August 2006 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Eine Versorgung mit Phlogenzym zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung könne nicht beansprucht werden. Es müsse bei der gesetzlich vorgegebenen Regel bleiben, dass nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen umfasst seien, zumal keine wissenschaftlichen Belege für eine Wirksamkeit von Phlogenzym bei Behandlung der multiplen Sklerose existierten.

Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage, die auch noch auf Kostenerstattung für die Zeit seit 1. Januar 2005 zielte, hat die Klägerin vorgebracht, die Behandlung mit Phlogenzym sei erfolgreich und mindere ihr Leiden. Die bei stationären Aufenthalten erfolgte Phlogenzymtherapie sei von der Beklagten finanziert worden. Sie sei wesentlich preiswerter als die schulmedizinische Alternative. Nicht zuletzt aufgrund grundrechtlicher Gewährleistungen müsse die Beklagte die Kosten übernehmen.

Das Sozialgericht Potsdam hat die Klage mit Urteil vom 9. Dezember 2008 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V sei Phlogenzym als nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel von der Versorgung ausgeschlossen. Ein Ausnahmetatbestand greife nicht. Das Arzneimittel gehöre nicht zum Therapiestandard bei Behandlung der multiplen Sklerose. Es fehle an einer ärztlichen Verordnung des begehrten Arzneimittels; stets hätten die behandelnden Ärzte nur Empfehlungen abgegeben. Die Behandlung der multiplen Sklerose gehöre nicht zum Zulassungsbereich von Phlogenzym. Auch grundrechtliche Gewährleistungen hülfen nicht weiter, denn die multiple Sklerose sei, bei der unbestreitbaren Schwere dieser Erkrankung, keine solche, bei der ein tödlicher Verlauf oder ein nicht kompensierbarer Verlust einer wichtigen Körperfunktion innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums drohten (Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 27. März 2007, B 1 KR 17/06 R, dort Rdnr. 23).

Gegen das ihr am 19. Januar 2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12. Februar 2009 Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie im Wesentlichen auf ihr bisheriges Vorbringen Bezug nimmt.

Die Klägerin beantragt nur noch,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 9. Dezember 2008 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. Februar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. August 2006 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, sie künftig mit dem Arzneimittel Phlogenzym zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und weist darauf hin, dass es an einer vertragsärztlichen Verordnung fehle.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung war.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig, hat aber keinen Erfolg.

Zu Recht hat das Sozialgericht Potsdam die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Phlogenzym; es fehlt an allen entscheidenden Anspruchsvoraussetzungen.

Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V sind nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel – wie Phlogenzym – von der Versorgung nach § 31 SGB V ausgeschlossen. In den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 34 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ist Phlogenzym nicht als ausnahmsweise verordnungsfähig aufgeführt. Schon hieran scheitert der Versorgungsanspruch der Klägerin.

Hiervon abgesehen fehlt es für einen Versorgungsanspruch der Klägerin an einer vertragsärztlichen Verordnung des begehrten Arzneimittels. Mit der Abgabe vertragsärztlich verordneter Arzneimittel erfüllt die Krankenkasse ihre im Verhältnis zum Versicherten bestehende Pflicht zur Krankenbehandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und § 31 SGB V In der vertragsärztlichen Verordnung liegt das zentrale Element der Arzneimittelversorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung. Mit ihr konkretisiert der Vertragsarzt das Rahmenrecht des Versicherten auf Arzneimittelversorgung als Sachleistung; sie dokumentiert, dass das Medikament als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 2 Abs. 2 SGB V) auf Kosten der Krankenkasse an den Versicherten abgegeben wird (st. Rspr.; vgl. nur Bundessozialgericht, Urteil vom 17. Dezember 2009, B 3 KR 13/08 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 17). Liegt eine vertragsärztliche Verordnung nicht vor, besteht umgekehrt kein Anspruch auf Sachleistung. So liegt es im Falle der Klägerin, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die behandelnden Ärzte durchweg nur Empfehlungen im Hinblick auf das begehrte Arzneimittel gegeben haben, die Verantwortung für die Versorgung mit ihm aber nicht in Gestalt einer vertragsärztlichen Verordnung übernommen haben.

Das Arzneimittel ist auch nicht für die Behandlung der multiplen Sklerose zugelassen, so dass sein Einsatz auch nur in Form des so genannten Off-label-use in Betracht käme. Unabhängig von der Frage der Therapiealternativen ist hier aber keine Datenlage ersichtlich (und wird auch nicht behauptet), die die begründete Aussicht böte, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. In der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur „Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose“ findet der Therapieansatz mit Phlogenzym nicht einmal Erwähnung.

Nichts anderes ergibt sich schließlich bei grundrechtsorientierter Prüfung (vgl. hierzu allgemein Bundessozialgericht, Urteil vom 14. Dezember 2006, B 1 KR 12/06 R; in Zusammenhang mit der sekundär-progredienten Verlaufsform der multiplen Sklerose: Urteil vom 27. März 2007, B 1 KR 17/06 R, dort Rdnr. 23). Der Senat muss die Krankheit der Klägerin an dieser Stelle keiner Wertung unterziehen und insbesondere nicht klären, ob sie den vom Bundessozialgericht in den zitierten Entscheidungen geforderten Schweregrad erreicht, so dass von einer notstandsähnlichen Situation gesprochen werden kann (vgl. hierzu Urteil des Senats vom 22. September 2010, L 9 KR 268/06, zitiert nach juris, dort Rdnr. 34). Um den grundrechtsorientierten Lösungsansatz fruchtbar zu machen, müsste nämlich ein Mindestmaß ärztlicher Dokumentation in Bezug auf die Behandlung mit dem begehrten Arzneimittel vorliegen, was indessen nicht der Fall ist (vgl. zum Erfordernis der Dokumentation Bundessozialgericht, Urteil vom 4. April 2006, B 1 KR 7/05 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 49). Risiko und Wirkweise der Behandlung sind so in keiner Weise nachvollziehbar, so dass eine Stattgabe auch unter dem Aspekt einer notstandsähnlichen Situation nicht ansatzweise in Betracht kommt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil hierfür kein Grund nach § 160 Abs. 2 SGG vorlag.