Gericht | FG Berlin-Brandenburg 4. Senat | Entscheidungsdatum | 14.02.2011 | |
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Aktenzeichen | 4 K 4137/09 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG, § 32 Abs 4 S 2 EStG, § 70 Abs 2 EStG, § 2 Abs 2 SGB 9, SGB 12 |
Der Bescheid vom …2008 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom ...2009 werden aufgehoben, soweit die Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar bis Juli 2007 aufgehoben und das gezahlte Kindergeld zurückgefordert worden ist.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden zu 5/12 der Klägerin und zu 7/12 der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, wenn nicht diese vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Die Klägerin ist Mutter der am …1982 geborenen D und durch Beschluss des Amtsgerichts E vom …2006 zu deren Betreuerin mit den Aufgabenkreisen Gesundheitsvorsorge, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten und Vertretung gegenüber Behörden bestellt worden. D hat laut dem Schwerbehindertenausweis vom …2003 einen Grad der Behinderung von 80 % mit den Merkzeichen "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung ist nachgewiesen) und "aG" (außergewöhnlich gehbehindert). Laut dem Schwerbehindertenausweis vom …2002 hatte D zuvor bereits einen Grad der Behinderung von 50 % mit dem Merkzeichen "G" (gehbehindert).
Mit Bescheid vom …2006 gewährte die Beklagte der Klägerin für das Kind D laufend Kindergeld ab August 2006 in Höhe von 154,- € monatlich.
In der Erklärung vom …2007 gab die Klägerin gegenüber der Beklagten an, D sei ledig, lebe in einem eigenen Haushalt und beziehe Hilfe zum Lebensunterhalt. Beigefügt war ein Bescheid des Bezirksamtes F vom …2007 über die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für D, wonach vom Rententräger eine Erwerbsunfähigkeit auf Zeit - bis X.X.2009 - bestätigt worden sei, wodurch in Verbindung mit der Gehbehinderung von D ein Mehrbedarf bewilligt werden könne. Anlage des Bescheides war eine Bedarfsberechnung für Februar 2007, wonach D einen monatlichen Bedarf an Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 1.037,53 € und an Hilfe zur Pflege nach Kapitel 5-9 SGB XII in Höhe von 9,20 € bei einem Einkommenseinsatz von 0,00 € hatte. Die Hilfe zum Lebensunterhalt gliederte sich auf in:
Regelbedarf (§ 28 Abs. 1 SGB XII) | 345,00 € |
Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit | 58,65 € |
Kranken- und Pflegeversicherung (§ 32 SGB XII) | (122,40 € und 17,30 € =) 139,70 € |
Kosten der Unterkunft/Miete (§ 29 Abs. 1 SGB XII) | 444,83 € |
Heizungskosten abzüglich im Warmwasseranteil | (55,88 € - 6,53 € =) 49,35 € |
Summe Hilfe zum Lebensunterhalt | 1.037,53 € |
Die Summe der laufenden Sozialhilfe von (1.037,53 € + 9,20 € =) 1.046,73 € wurde in Höhe von 897,83 € der Tochter D, in Höhe von 9,20 € der G-Hilfe und in Höhe von 139,70 € der Krankenkasse zugeordnet. Der – frühere – Bescheid vom X.X.2006 wurde mit Wirkung ab 01.01.2007 widerrufen.
Mit Bescheid vom 13.02.2008 lehnte die Beklagte den Kindergeldantrag vom 29.11.2007 ab Januar 2008 ab, weil das Kind durch eigene Einkünfte und Bezüge imstande sei, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der dagegen erhobene Einspruch wurde durch Einspruchsentscheidung vom 01.07.2008 zurückgewiesen.
Bereits unter dem Datum vom 13.02.2008 hatte die Beklagte die Klägerin des weiteren dazu angehört, dass sie für den Zeitraum von Januar bis Dezember 2007 Kindergeld in Höhe von 1.848,- € erhalten habe, obwohl die Bezüge der Tochter im Jahr 2007 deren Bedarf überstiegen hätten.
Mit Bescheid vom …2008 hob sie die Festsetzung des Kindergeldes für D ab Januar 2007 auf, weil das Kind aufgrund der eigenen Einkünfte und Bezüge im Stande sei, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Das überzahlte Kindergeld für den Zeitraum von Januar bis Dezember 2007 in Höhe von 1.848,- € sei zu erstatten.
Die Klägerin erhob hiergegen am …2008 Einspruch.
Durch Einspruchsentscheidung vom ...2009 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, der notwendige Lebensbedarf der behinderten Tochter bestehe aus dem Grundbedarf, der sich am Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 7.680,- €, monatlich also 640,- € orientiere, sowie dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf. Da Letzterer nicht durch Einzelnachweise nachgewiesen worden sei, bestimme er sich bei Kindern, die nicht vollstationär untergebracht seien, in Anlehnung an den Behinderten-Pauschbetrag des § 33b Abs. 3 EStG, so dass unter Berücksichtigung der Eintragungen im Schwerbehindertenausweis 1.060,- €, monatlich 88,33 € anerkannt werden könnten. Der Gesamtbedarf von D betrage daher monatlich (640,- € + 88,33 € =) 728,33 €. Dem stünden Einkünfte und Bezüge der Tochter in Gestalt der Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 897,83 € abzüglich einer Kostenpauschale von 15,- €, zusammen also monatlich 882,83 € gegenüber, die ausreichten, den lebensnotwendigen Bedarf abzudecken.
Mit der erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur Begründung hat sie – unter anderem in dem ebenfalls anhängig gemachten Verfahren auf Vollziehungsaussetzung - ausgeführt, die Beklagte ignoriere bei der Bedarfsermittlung, dass D eine Wohnung bewohne und die sozialhilferechtlichen Voraussetzungen für die Übernahme der tatsächlichen Mietkosten vorlägen. Vor Feststellung der Erwerbsunfähigkeit habe D Leistungen nach dem SGB II erhalten, die der Gewährung des Kindergeldes nicht entgegengestanden hätten. Es könne aber keinen Unterschied machen, ob ein behindertes Kind Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII erhalte.
Auf Anfrage des Berichterstatters in dem Verfahren auf Vollziehungsaussetzung hat die Klägerin mitgeteilt, durch Bescheid des Bezirksamtes F vom …2006 sei der Unterhaltsanspruch der Tochter gegen die Eltern wegen der gewährten Hilfe nach dem SGB XII in Höhe von …,- € auf das Sozialamt übergeleitet und von diesem geltend gemacht worden. Der Betrag sei von ihnen auch laufend geleistet worden. Laut dem in Kopie beigefügten Bescheid war der Ehemann der Klägerin zu monatlichen Leistungen seit dem …2006 in Höhe von …,- € verpflichtet. Nach § 94 Abs. 2 SGB XII gehe der Unterhaltsanspruch grundsätzlich in Höhe eines Festbetrages von insgesamt ..,- € monatlich auf den Träger der Sozialhilfe über, wenn neben der Grundsicherung noch Eingliederungshilfe bzw. Hilfe zur Pflege gewährt werde.
Auf erneute Anfrage des Berichterstatters hat die Klägerin im Februar 2011 erklärt, die letzte Zahlung der …,- € an das Bezirksamt F sei am 31.07.2007 erfolgt. Zum Beleg hat sie eine Zwangsgeldandrohung des Bezirksamtes vom …2009 vorgelegt, wonach auf das Schreiben vom …2006 ab August 2007 keine Zahlungen mehr geleistet worden seien. Der Rückstand für die Zeit vom 01.08.2007 bis 30.09.2008 betrage (14 Monate x …,- € =) …,- €. Weiter vorgelegt hat sie ein Schreiben vom …2009, mit dem sie und ihr Ehemann dem Bezirksamt in Erwiderung auf die Zwangsgeldandrohung mitgeteilt haben, die Familienkasse habe für das Jahr 2007 das Kindergeld für D aufgehoben. Da sie laut Schreiben des Bezirksamtes vom 06.12.2006 unter der Voraussetzung des Erhalts des Kindergeldes für D als leistungsfähig angesehen worden seien, sei der Sachverhalt zu prüfen, und zwar auch darauf, ob die geleisteten Unterhaltszahlungen wieder zu erstatten seien.
Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,
den Bescheid vom …2008 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom ...2009 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
für den Fall des Unterliegens die Revision zuzulassen.
Ergänzend trägt sie vor, das Kind habe bis Dezember 2006 Leistungen nach dem SGB II bezogen, die mit einem monatlichen Auszahlungsbetrag von 713,- € unter dem Gesamtbedarf von 728,33 € gelegen hätten. Ab Januar 2007 hätten die Leistungen nach dem SGB XII in Höhe von 882,83 € über dem Gesamtbedarf gelegen, so dass damit der Kindergeldanspruch entfallen sei. In der mündlichen Verhandlung hat sie vorgetragen, mit § 94 Abs. 2 SGB XII habe der Gesetzgeber eine begrenzte Inanspruchnahme der Eltern auf Unterhalt für das behinderte Kind eingeführt. Das dürfe aber ihres Erachtens nicht dazu führen, in derartigen Fällen automatisch einen Kindergeldanspruch zu bejahen.
Der Senat hat der Klägerin durch Beschluss vom 06.09.2010 die beantragte Aussetzung der Vollziehung gewährt.
Wegen der Ablehnung von Kindergeld ab Januar 2008 durch Bescheid vom ...2008 und Einspruchsentscheidung vom ...2008 hat die Klägerin am 01.08.2008 Klage erhoben.
Die Klage ist zulässig, aber nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Der Bescheid vom ...2008 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom ...2009 sind rechtswidrig und verletzen die Rechte der Klägerin, soweit die Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar bis Juli 2007 aufgehoben und das insoweit gezahlte Kindergeld in Höhe von 1.078,- € zurückgefordert worden ist, § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Im Übrigen sind die Bescheide rechtmäßig.
Die Beklagte hat die Kindergeldfestsetzung für Januar bis Juli 2007 zu Unrecht nach § 70 Abs. 2 EStG aufgehoben, da der Klägerin für diesen Zeitraum ein Anspruch auf Kindergeld zugestanden hat. Denn die D zur Verfügung stehenden Mittel haben zur Deckung ihres behinderungsbedingt erhöhten Lebensbedarfs nicht ausgereicht.
Gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG in der hier maßgeblichen Fassung wird ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, für das Kindergeld berücksichtigt, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
Als behinderte Kinder im Sinne dieser Vorschrift kommen insbesondere Kinder in Betracht, deren Schwerbehinderung festgestellt ist, § 2 Abs. 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), oder die einem schwer behinderten Menschen gleichgestellt sind, § 2 Abs. 3 SGB IX. "Schwerbehindert" im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB IX ist danach eine Person, wenn bei ihr ein Grad der Behinderung (GdB) von wenigstens 50 % vorliegt (vgl. Bundesfinanzhof [BFH], Urteil vom 26.7.2001 - VI R 56/98 -, Bundessteuerblatt II [BStBl II] 2001, 832). Ausweislich des Schwerbehindertenausweises vom …2003 ist für das Kind D der Klägerin bereits in dessen 22. Lebensjahr ein Grad der Behinderung von 80 % festgestellt worden, so dass diese Voraussetzung vorliegt.
Nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten, ist ein Kind dann, wenn es wegen der Behinderung (Ursächlichkeit) nicht über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensunterhalts ausreicht. Ist folglich ein Kind trotz seiner (gegebenenfalls erheblichen) Behinderung etwa aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu. Der Gesetzgeber fordert insoweit eine konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes nach den Gesamtumständen des Einzelfalles (BFH, Urteil vom 19.11.2008 - III R 105/07 -, Sammlung der Entscheidungen des BFH [BFH/NV] 2009, 638; BFH, Urteil vom 15.10.1999 - VI R 183/97 -, BStBl II 2000, 72; BFH, Urteil vom 15.10.1999 - VI R 40/98 -, BStBl II 2000, 75). Dazu ist ein auf den Kalendermonat bezogener Vergleich der dem Kind zur Verfügung stehenden Mittel mit seinem gesamten notwendigen Lebensbedarf anzustellen (BFH, Urteil vom 24.08.2004 - VIII R 59/01 -, BFH/NV 2004, 1715).
Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes zur einheitlichen steuerrechtlichen Auslegung des Tatbestandsmerkmals "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten" sowohl hinsichtlich der Gewährung des Kindergeldes als auch des Kinderfreibetrags (vgl. BFH, Urteil vom 15.10.1999 - VI R 40/98 -, a.a.O.) ergibt die dazu anzustellende Vergleichsbetrachtung allerdings zunächst, dass unter Zugrundelegung des Grenzbetrages gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG die Mittel des Kindes D ausreichen, sich selbst zu unterhalten.
Auf der einen Seite der Vergleichsbetrachtung setzt sich der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Für den Streitzeitraum Januar bis Dezember 2007 kann der Grundbedarf grundsätzlich in Anlehnung an den als Maßstab anzuwendenden Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG mit 7.680 € für das Jahr bemessen werden (vgl. BFH, Urteil vom 15.10.1999 - VI R 40/98 -, a.a.O.; BFH, Urteil vom 15.10.1999 - VI R 183/97 -, a.a.O.; BFH, Urteil vom 19.11.2008 - III R 105/07 -, a.a.O.; BFH, Beschluss vom 15.02.2007 - III B 145/06 -, BFH/NV 2007, 1112). Dieser umfasst neben Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und Heizung in vertretbarem Umfang auch persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens wie etwa Beziehungen zur Umwelt (Kontakte zur Familie, Teilnahme am kulturellen Leben). Hinzu kommt ein individueller behinderungsbedingter Mehraufwand, den gesunde Kinder nicht haben. Zum behinderungsbedingten Mehrbedarf gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen. Dabei können jedoch nicht jegliche ursächlich auf die Behinderung zurückzuführende Aufwendungen erfasst werden, sondern nur solche, die sich in den Grenzen der Angemessenheit halten. Erbringt der Steuerpflichtige keinen Einzelnachweis, kann der jeweils maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag gemäß § 33b Abs. 1 bis 3 EStG als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen (BFH, Urteil vom 19.11.2008 - III R 105/07 -, a.a.O., m.w.N.; BFH, Beschluss vom 15.02.2007 - III B 145/06 -, a.a.O.).
Auf der anderen Seite der Vergleichsbetrachtung sind die dem Kind zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel zu prüfen. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes bringt die Verweisung in § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zum Ausdruck, dass der steuerrechtliche Begriff des Außerstandeseins zum Selbstunterhalt im Sinne einer einheitlichen steuerrechtlichen Auslegung auch im Kindergeldrecht anzuwenden ist (BFH, Urteil vom 15.10.1999 - VI R 183/97 -, a.a.O.). Unter Einkünften und Bezügen sind daher - wie auch bei nicht behinderten Kindern - die Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 2 EStG und alle Zuflüsse in Geld oder Geldeswert zu verstehen, die nicht bei der einkommensteuerrechtlichen Einkunftsermittlung erfasst werden und zur Unterhaltsbestreitung bestimmt oder geeignet sind. Lediglich diejenigen Beträge, die von Gesetzes wegen dem Kind oder dessen Eltern tatsächlich nicht zur Verfügung stehen, sondern anderen Zwecken als der Bestreitung des Unterhaltes zu dienen bestimmt sind, sind nicht einzubeziehen (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 11.01.2005 - 2 BvR 167/02 -, Entscheidungen des BVerfG [BVerfGE] 112, 164). In die Gesamtberechnung sind auch behinderungsbedingte Bezüge als zur Verfügung stehende Mittel einzubeziehen, wobei dann auf der Bedarfsseite der entsprechende behinderungsbedingte Mehrbedarf anzusetzen ist (vgl. Loschelder, in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 32 Rn. 44). Zu den dem Kind zur Verfügung stehenden Mitteln rechnen - jedenfalls dann, wenn die Eltern entweder nicht unterhaltsverpflichtet sind oder nicht in Regress genommen werden (können) - auch tatsächlich erfolgte Zahlungen der Sozialleistungsträger (BFH, Urteil vom 26.11.2003 - VIII R 32/02 -, BStBl II 2004, 588; BFH, Urteil vom 17.11.2004 - VIII R 22/04 -, BFH/NV 2005, 541; Loschelder, in Schmidt, a.a.O., § 32 Rn. 44; Selder, in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 32 EStG Rn. 110). Hilfeleistungen der Eltern haben dagegen außer Betracht zu bleiben; sie sind weder mittelerhöhend noch bedarfsmindernd zu berücksichtigen, da ansonsten genau die Unterhaltsbeiträge der Eltern zum Ausschluss des Kindergeldanspruches führen können, die das Kindergeld abgelten soll (BFH, Urteil vom 24.08.2004 - VIII R 59/01 -, a.a.O.).
Nach diesen Maßstäben wäre die Tochter D der Klägerin im Streitjahr 2007 in allen Monaten zum Selbstunterhalt fähig gewesen.
Der Bedarf ist wie folgt zu errechnen:
Bedarf: | Jahresbezogen: | Monatsbezogen: |
Grundbedarf, | 7.680,00 € | 640,00 € |
Behindertenpauschbetrag | 1.060,00 € | 88,33 € |
Summe: | 728,33 € |
Die Unterkunftskosten der Tochter D wären nach den vorstehenden Grundsätzen grundsätzlich nicht zusätzlich zu berücksichtigen. Denn ebenso wie bei nicht behinderten Kindern sind sie in dem Betrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG enthalten. Dass es sich insoweit (teilweise) um einen behinderungsbedingten Mehrbedarf handelt, etwa weil die Miete besondere, auf die Bedürfnisse der behinderten Tochter zugeschnittene Ausstattungsmerkmale zusätzlich abgilt, ist im Streitfall nicht dargelegt worden.
Die D – monatlich - zur Verfügung stehenden Mittel ergeben sich wie folgt:
Leistungen nach dem SGB XII - Auszahlungsbetrag: | 897,83 € |
./. Kostenpauschale …,- €/Jahr | … € |
./. Überleitung Unterhaltsansprüche an das Bezirksamt, | … € |
Summe: | 856,83 € |
Was die Inanspruchnahme der Eltern durch das Bezirksamt gemäß § 94 Abs. 2 SGB XII wegen der an das Kind erbrachten Leistungen betrifft, könnte im Rahmen der Berechnung, ob das Kind sich selbst unterhalten kann, eine Kürzung der dem Kind zur Verfügung stehenden Mittel (zunächst) um den Betrag der tatsächlichen Inanspruchnahme - hier …,- € - vorgenommen werden. Soweit nach § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII im Streitfall sogar ein weiterer Anspruchsübergang in Höhe von …,- € in Betracht gekommen wäre, stünden unter Zugrundelegung der maximalen Inanspruchnahme in Höhe von dann …,- € dem Bedarf von 728,33 € Einkünfte und Bezüge in Höhe von immer noch 836,83 € gegenüber.
Bei dieser Rechtslage kann es dahinstehen, ob der dem Kind vom Bezirksamt monatlich gewährte Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 30 Abs. 1 SGB XII in Höhe von (17 % von 345,- € =) 58,65 € zusätzlich - neben dem Behindertenpauschbetrag gemäß § 33b Abs. 1 bis 3 EStG - als behinderungsbedingter Mehrbedarf berücksichtigt werden könnte bzw. müsste. Denn der sich dann ergebenden Bedarf von (728,33 € + 58,65 € =) 786,98 € könnte mit den tatsächlichen Einkünften und Bezügen in Höhe von 836,83 € gedeckt werden.
Hiervon ausgehend bestünde für Januar bis Dezember 2007 kein Anspruch der Klägerin auf Kindergeld.
Gleichwohl hat die Klage jedoch Erfolg, was die Monate Januar bis Juli 2007 betrifft. Denn der Bundesfinanzhof hat den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht für maßgebend gehalten, wenn aufgrund der tatsächlich gezahlten Hilfe zum Lebensunterhalt feststeht, dass der Grundbedarf des behinderten Kindes im konkreten Fall wegen der örtlichen Besonderheiten höher liegt (zu § 11 Bundessozialhilfegesetz - BSHG -; BFH, Urteil vom 17.11.2004 - VIII R 22/04 -, a.a.O.). So liegt der Fall aber hier.
In der genannten Entscheidung hat der Bundesfinanzhof zu Recht hervorgehoben, dass der Gesetzgeber den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nur für die von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG erfassten Kinder festgelegt und diese gesetzliche Typisierung nicht auf behinderte Kinder erstreckt hat. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich bei der Beschränkung des Jahresgrenzbetrages auf die in Nr. 1 und 2 des § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG geregelten Fälle um ein gesetzgeberisches Redaktionsversehen handeln könnte. Zwar ist der Jahresgrenzbetrag für die Ermittlung des notwendigen Grundbedarfs eines behinderten volljährigen Kindes in der Regel ein geeigneter Maßstab. Das bedeutet aber nicht, dass der Jahresgrenzbetrag immer maßgebend ist. Würde der Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entgegen dem Gesetzeswortlaut zwingend und ausnahmslos auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG erstreckt, würde das eine Typisierung zu Lasten der Steuerpflichtigen und Kindergeldberechtigten darstellen, die der Gesetzgeber selbst als nicht angemessen erachtet hat.
Wenn dementsprechend aufgrund der tatsächlich gezahlten Hilfe zum Lebensunterhalt feststeht, dass der Grundbedarf des Kindes im konkreten Fall wegen der örtlichen Besonderheiten höher liegt, und das Kind in der Folge außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, ist daher das behinderte Kind auch dann noch gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen, wenn ihm zur Deckung seines Grundbedarfs Mittel zur Verfügung stehen, die den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG übersteigen. Dieser Auffassung schließt sich der Senat an.
Im Streitfall hat das Kind im streitigen Zeitraum Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel SGB XII erhalten (Regelbedarf, Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung, Kosten der Unterkunft, §§ 28, 29, 30, 32 SGB XII). Gemäß § 19 Abs. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt Personen zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, beschaffen können. Der notwendige Lebensunterhalt umfasst insbesondere Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens einschließlich Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben in vertretbarem Umfang, § 27 Abs. 1 SGB XII. Leistungen für die Unterkunft werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht; übersteigen die Aufwendungen für die Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang, sind sie insoweit als Bedarf der Personen, deren Einkommen und Vermögen nach § 19 Abs. 1 zu berücksichtigen sind, anzuerkennen, § 29 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB XII. Daraus ergibt sich, dass die ungekürzte Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel SGB XII erforderlich, aber auch hinreichend ist, um den notwendigen Grundbedarf des volljährigen behinderten Kindes abzudecken.
Hieraus folgt, dass bei einem Kind, das Hilfe zum Lebensunterhalt erhält, die Fähigkeit, seinen notwendigen Grundbedarf aus eigenen Mitteln bestreiten zu können, entfällt, wenn - wie hier - bei den Eltern Regress genommen wird und wenn ihm keine weiteren Mittel zur Deckung seines Grundbedarfs zur Verfügung stehen (BFH, Urteil vom 17.11.2004 – VIII R 22/04 -, a.a.O.; BFH, Urteil vom 26.11.2003 – VIII R 32/02 -, a.a.O.). Denn ist die Hilfe zum Lebensunterhalt zur Bestreitung des notwendigen Grundbedarfs erforderlich, hat jede Kürzung zwangsläufig zur Folge, dass die eigenen Mittel des Kindes für die Deckung dieses Bedarfs nicht mehr ausreichen. Eine Kürzung liegt auch dann vor, wenn im Ergebnis der ermittelte Grundbetrag zwar in einer Summe von dem Sozialleistungsträger an das Kind ausgezahlt wird, gleichwohl ein Teil der Mittel aber aus zweckgebundenen Zahlungen der Eltern für den Unterhalt des Kindes an den Sozialleistungsträger stammt, bei wirtschaftlicher Betrachtung also auch aus ihren Mitteln bestritten wird. Denn diese Zahlbeträge finden der Höhe nach – wie bereits dargelegt – als Unterhaltszahlungen der Eltern gerade keinen Eingang in die Ermittlung der dem Kind zur Verfügung stehenden Mittel (BFH, Urteil vom 24.08.2004 – VIII R 59/01 -, a. a. O.) Letztlich führt auch eine derartige Auslegung zu einem dem Zweck des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG entsprechenden Ergebnis. Nur wenn das Kind eine ausreichende Leistungsfähigkeit hat, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert (BVerfG, Beschluss vom 29.05.1990 - 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 -, BVerfGE 82, 60). Zweck der Vorschrift liegt erkennbar darin, den Eltern volljähriger behinderter Kinder eine steuerliche Entlastung und Kindergeld zukommen zu lassen, wenn sie mit unabwendbaren, existenzsichernden Unterhaltsleistungen für diese Kinder belastet sind. Dies ist aber ausnahmslos der Fall, wenn die Eltern der Kinder, die Hilfe zum Lebensunterhalt beziehen, vom Sozialleistungsträger zu einem Unterhaltsbeitrag herangezogen werden (BFH, Urteil vom 17.11.2004 – VIII R 22/04 -, a.a.O.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Beklagte einen Kindergeldanspruch für die Monate Januar bis Juli 2007 zu Unrecht verneint. Denn in diesem Zeitraum wurden die Klägerin und ihr Ehemann, mithin die Eltern des Kindes, gemäß § 94 Abs. 2 SGB XII zu einem Unterhaltsbeitrag herangezogen, so dass das Kind D seinen notwendigen Grundbedarf bei wirtschaftlicher Betrachtung zum Teil auch mit Mitteln der Klägerin bestritten hat. Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und Rückforderung des Kindergeldes für diesen Zeitraum war daher rechtswidrig und aufzuheben.
Hinsichtlich der verbleibenden Monate August bis Dezember 2007 war das Kind D dagegen zum Selbstunterhalt imstande, weil die Klägerin für diese Monate tatsächlich nicht zu einer Unterhaltszahlung herangezogen worden ist. Das Kind hat damit seinen Unterhalt vollständig aus der Leistung der Sozialhilfe bestreiten können, ohne dass die Eltern tatsächlich mit Unterhaltsleistungen belastet waren. Zwar hat das Bezirksamt F mit Bescheid vom …2006 den Unterhaltsanspruch des Kindes D gegen die Eltern wegen der gewährten Hilfe nach dem SGB XII auch für diese Monate in Höhe von …,- € auf das Sozialamt übergeleitet. Das hat einen Gläubigerwechsel zur Folge, durch den sich die Rechtsnatur des Unterhaltsanspruches nicht verändert. Das Bestehen eines – auf das Sozialamt übergeleiteten - "Rechtsanspruches" des Kindes gegen die Eltern auf Unterhalt stellt allerdings weder Einkünfte noch Bezüge dar. Denn ein "Zufluss" von Unterhalt durch die Eltern ist - auch bei wirtschaftlicher Betrachtung (s.o.) - nicht erfolgt und wäre bei einer Nachzahlung auch erst im Zeitraum des "Zuflusses", mithin der Zahlung an das Sozialamt zu erfassen (vgl. BFH, Urteil vom 04.11.2003 - VIII R 43/02 -, BStBl II 2010, 1046). Maßgeblich ist nach Auffassung des Senates folglich, dass die Eltern in diesen Monaten die nun dem Sozialamt zustehenden Unterhaltsansprüche des Kindes nicht durch Zahlung befriedigt, tatsächlich also nicht mit Unterhaltsleistungen belastet waren. Dass der Grund für die Einstellung der Zahlungen an das Sozialamt laut dem Schreiben der Klägerin und ihres Ehemanns vom 28.10.2009 die – hier im Streit befindliche - Aufhebung des Kindergeldes für D für das Jahr 2007 gewesen ist, hat dabei keine Bedeutung. Denn es kommt allein darauf an, dass das Kind in den genannten Monaten tatsächlich imstande war, sich selbst zu unterhalten.
Die eigenen Mittel des Kindes D reichten damit für die Monate August bis Dezember 2007 auch unter Zugrundelegung des Urteils des Bundesfinanzhofes vom 17.11.2004 - VIII R 22/04 - zur Bestreitung ihres gesamten Lebensunterhalts aus, so dass die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung durch die Beklagte insoweit nicht zu beanstanden ist.
Soweit der Bescheid vom 07.07.2008 über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach den vorstehenden Ausführungen aufzuheben war, musste auch die Rückforderung in Höhe von 1.078,- € aufgehoben werden.
Der Erstattungsbescheid hinsichtlich der Monate August bis Dezember 2007 ist demgegenüber rechtmäßig. Er findet seine Rechtsgrundlage in § 37 Abs. 2 AO. Durch die im selben Bescheid ausgesprochene Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ist das Kindergeld insoweit ohne Rechtsgrund gezahlt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.
Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO.