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Ausbildungsförderung; Rückforderung; Prozesskostenhilfe; Erfolgsaussicht; Beschwerde; Rechtswidrigkeit; grob fahrlässige Unkenntnis; durchschnittlicher Studierender; Bewilligungsbescheid; Schlüsselkennzahlen; Erläuterungen; Jahresfrist; Beginn; prozessualer Streitgegenstand


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 6. Senat Entscheidungsdatum 29.06.2012
Aktenzeichen OVG 6 M 116.12 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 79 Abs 1 Nr 1 VwGO, § 166 VwGO, § 114 ZPO, § 25 Abs 3 S 1 Nr 2 BAföG, § 53 BAföG, § 24 SGB 10, § 45 Abs 4 S 2 SGB 10, § 50 SGB 10

Leitsatz

Kommt es für die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes auch auf die individuelle Einsichtsfähigkeit des Begünstigten und auf Tatsachen an, die für den subjektiven Fahrlässigkeitsbegriff von Bedeutung sind, liegen die zur Bestimmung des Beginns der in § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X genannten Jahresfrist erforderlichen Tatsachen erst nach Abschluss der gebotenen Ermittlungen zur Einsichtsfähigkeit vor, wobei der Umfang der Ermittlungen im Ermessen der Behörden liegt. Die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X beginnt in diesen Fällen regelmäßig erst nach der gemäß § 24 SGB X durchgeführten Anhörung des Betroffenen zu laufen (Anschluss an BSG, Urteil vom 8. Februar 1996 - 13 RJ 35/94 -, BSGE 77, 295 ff., Rn. 33 bei juris).

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 14. Mai 2012 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Mit der Klage wendet sich die Klägerin gegen die Rückforderung ihr gewährter Ausbildungsförderungsleistungen. Das Verwaltungsgericht hat hinreichende Erfolgsaussichten des Klageverfahrens mit der Begründung verneint, die Aufhebung und Rückforderung sei nach den §§ 45 und 50 SGB X gerechtfertigt, weil der Klägerin im Umfang der Rückforderung im streitigen Zeitraum zu viel Ausbildungsförderungsleistungen gewährt worden seien und sie es grob fahrlässig versäumt habe, die Angaben in den Bewilligungsbescheiden auf Richtigkeit zu überprüfen. Auch die Jahresfrist für die Rücknahme nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X sei gewahrt.

Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Klägerin ist unbegründet. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 166 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - in Verbindung mit § 114 der Zivilprozessordnung - ZPO - biete, ist nicht zu beanstanden.

Das Verwaltungsgericht ist zu Recht von der (Teil-) Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Bewilligungsbescheide ausgegangen, weil die beiden allein im Haushalt ihres Vaters lebenden Halbgeschwister der Klägerin fälschlich ihren beiden getrennt lebenden Elternteilen zugeordnet und dementsprechend Freibeträge für sie von deren Einkommen abgesetzt worden waren. Das steht im Widerspruch zu § 25 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG, wonach Freibeträge lediglich für Kinder des Einkommensbeziehers sowie für weitere, dem Einkommensbezieher gegenüber nach dem bürgerlichen Recht Unterhaltsberechtigte eingestellt werden. Weiter geht das Verwaltungsgericht unter Darlegung und Heranziehung der einschlägigen höchstrichterlichen wie der Senatsrechtsprechung davon aus, dass die Klägerin die teilweise Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide über die Ausbildungsförderungsleistungen infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat. Der hiergegen mit der Beschwerde vorgebrachte Einwand, es sei geboten, die Klägerin im Verfahren persönlich anzuhören, weil es für das Maß der Fahrlässigkeit auf ihre persönliche Urteilsfähigkeit und ihr Einsichtsvermögen ankomme, überzeugt nicht. Das Verwaltungsgericht ist bei der Einschätzung der Urteilsfähigkeit und des Einsichtsvermögens der Klägerin ausdrücklich von einem durchschnittlichen Studierenden ausgegangen. Dass ein durchschnittlicher Studierender bei Lektüre des Bewilligungsbescheides und Entschlüsselung der Schlüsselkennzahlen anhand der beigefügten Erläuterungen erkennen konnte, dass das Ausbildungsförderungsamt im Hinblick auf die Geschwister der Klägerin von falschen tatsächlichen Voraussetzungen ausging, unterliegt auch nach Einschätzung des Senats keinem durchgreifenden Zweifel (vgl. hierzu bereits Senatsbeschluss vom 13. Juli 2005 - OVG 6 M 145.04 -, Rn. 9 bei juris). Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass im Falle der Klägerin von einer dahinter zurückbleibenden persönlichen Urteilsfähigkeit oder einem geringer ausgeprägten Einsichtsvermögen auszugehen wäre. Die Klägerin hat solche Gesichtspunkte mit der Beschwerde auch nicht geltend gemacht. Vor diesem Hintergrund ist auch ihr Einwand zurückzuweisen, erstmals im Bescheid vom 20. Juni 2011 seien die Namen der weiteren Kinder konkret aufgeführt, in den aufgehobenen Bescheiden seien dagegen lediglich die Kennziffern für den Freibetragsschlüssel und das Verhältnis zum Unterhaltsberechtigten eingesetzt worden.

Das Verwaltungsgericht ist im Ergebnis auch zutreffend davon ausgegangen, dass entgegen der Auffassung der Klägerin die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X gewahrt ist. Nicht gefolgt werden kann dem Verwaltungsgericht allerdings in der Begründung. Es hat ausgeführt, dass die Jahresfrist ab Kenntnis des Ausbildungsförderungsamtes von der falschen Zuordnung der Geschwisterkinder der Klägerin und damit im Juli 2009 zu laufen begann. Der Rückforderungsbescheid vom 20. August 2009 habe daher die Jahresfrist gewahrt. Dass er nicht auf § 45 SGB X, sondern auf § 53 BAföG gestützt worden sei, sei unerheblich, denn gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO führten das Ausgangs- und das Widerspruchsverfahren zu einer einheitlichen Entscheidung, dem Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides. Für eine Anknüpfung der Jahresfrist an den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides bestehe danach kein Raum. Es genüge zu ihrer Wahrung daher, dass der Widerspruchsbescheid auf § 45 SGB X gestützt worden sei.

Das Verwaltungsgericht verkennt, dass § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO allein den prozessualen Streitgegenstand regelt, sich aber nicht zu der hier entscheidenden Frage verhält, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X erfüllt sind. Hätte die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X tatsächlich im Juli 2009 zu laufen begonnen, wäre es daher zweifelhaft, ob der allein auf § 53 BAföG gestützte Ausgangsbescheid sie hätte wahren können. Auch das Anhörungsschreiben der Behörde vom 8. Juni 2010, in dem sie fälschlich behauptet, der Bescheid vom 20. August 2009 sei auf § 45 SGB X gestützt worden, ändert hieran nichts. Darin wurde keine eigenständige (neue) Regelung getroffen. Offen bleiben kann, ob insofern auf den - dann verspäteten - Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 2011 abzustellen wäre, der die Aufhebung der Bewilligungsbescheide erstmals auf § 45 SGB X stützte. Denn das Verwaltungsgericht geht darüber hinaus zu Unrecht davon aus, dass der Beginn der Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X auf Juli 2009 zu datieren ist.

Die Jahresfrist beginnt zu laufen, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt hat und ihr die für die Entscheidung über die Rücknahme außerdem erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind (BVerwG, Beschluss vom 19. Dezember 1984 - GrSen 1/84, GrSen 2/84 -, BVerwGE 70, 356 ff. zur Parallelvorschrift in § 48 VwVfG). Kommt es - wie vorliegend - für die Rücknahme auch auf die individuelle Einsichtsfähigkeit des Begünstigten und auf Tatsachen an, die für den subjektiven Fahrlässigkeitsbegriff von Bedeutung sind, liegen die erforderlichen Tatsachen erst nach Abschluss der gebotenen Ermittlungen zur Einsichtsfähigkeit vor, wobei der Umfang der Ermittlungen im Ermessen der Behörde liegt. Die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X beginnt in diesen Fällen regelmäßig erst nach der gemäß § 24 SGB X durchgeführten Anhörung des Betroffenen zu laufen (BSG, Urteil vom 8. Februar 1996 - 13 RJ 35/94 -, BSGE 77, 295 ff., Rn. 33 bei juris). Diese Anhörung erfolgte hier erst mit Schreiben des Studentenwerks vom 8. Juni 2010. Darin wird die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide erläutert und der Klägerin Gelegenheit gegeben, sich zu dem Sachverhalt bis zum 8. Juli 2010 zu äußern. Dieser Aufforderung zur Äußerung kam die Klägerin mit Schreiben vom 1. Juli 2010 nach. Die Frist begann daher frühestens mit Eingang ihres Schreibens vom 1. Juli 2010 bei der Behörde am 2. Juli 2010 zu laufen. Der per Übergabe-Einschreiben zugestellte Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 2011 dürfte daher ohne weiteres noch innerhalb der Jahresfrist ergangen sein, zumal mangels entgegenstehender Anhaltspunkte von einer Zustellung drei Tage nach Aufgabe zur Post ausgegangen werden kann (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 Verwaltungszustellungsgesetz).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 127 Abs. 4 ZPO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).