Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 21.02.2013 | |
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Aktenzeichen | L 13 SB 171/10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 69 SGB 9 |
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 9. Juni 2010 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 7. Juni 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. August 2007 verpflichtet zu Gunsten des Klägers ab dem 21. Februar 2013 die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ festzustellen.
Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens zur Hälfte zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Kläger begehrt noch die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) ab dem 21. Februar 2013.
Der 1950 geborene Kläger ist verheiratet und als geschäftsführender Gesellschafter einer Industrievertretung im Sanitärbereich tätig.
Am 19. Mai 2003 erlitt der Kläger einen Hirninfarkt mit linksseitiger Hemiparese. Der Kläger bezieht deswegen Leistungen der Pflegestufe I.
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 19. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. Juni 2004 stellte der Beklagte zugunsten des Klägers einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest:
- Halbseitenlähmung links, Hirnleistungsminderung
(Einzel-GdB 90),
- tablettengeführter Diabetes mellitus
(Einzel-GdB 20).
Zugleich stellte der Beklagte fest, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „B“ (Notwendigkeit ständiger Begleitung bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel) und „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) gegeben seien. Die Zuerkennung der zudem begehrten Merkzeichen „aG“ und „T“ (Berechtigung der Teilnahme am Telebusfahrdienst) lehnte der Beklagte indes ab.
Am 31. Januar 2007 beantragte der Kläger aufgrund einer Verschlimmerung bestehender Behinderungen erneut die Zuerkennung der Merkzeichen „aG“ und „T“. Nach Beiziehung von Befundberichten der den Kläger behandelnden Ärzte lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 07. Juni 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. August 2007 ab.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin, mit dem der Kläger die Zuerkennung der Merkzeichen „aG“ und „T“ ab Antragstellung am 31. Januar 2007 weiter begehrt hat, hat das Sozialgericht auf Antrag des Klägers den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. v gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dieser gelangte nach körperlicher Untersuchung des Klägers am 15. Oktober 2008 in seinem Gutachten vom 19. Oktober 2008 zu der Einschätzung, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ nicht vorlägen. Der Kläger sei in seiner Geh- und Stehfähigkeit nicht derart eingeschränkt, wie es regelmäßig bei Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten, Hüftexartikulierten oder einseitig Oberschenkelamputierten, die dauernd außerstande seien, ein Kunstbein zu tragen oder die nur eine Beckenkopfprothese tragen könnten oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert seien, der Fall sei. Eine Vergleichbarkeit scheide aus, weil sich der Kläger weder nur mit fremder Hilfe noch nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen könne.
Gestützt auf das Gutachten des Sachverständigen hat das Sozialgericht Berlin die Klage mit Gerichtsbescheid vom 09. Juni 2010 abgewiesen.
Gegen den ihm am 17. Juni 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 15. Juli 2010 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.
Der Senat hat auf die vom Kläger vorgetragene Verschlechterung seines Gesundheitszustandes insbesondere mit Blick auf einen im Juni 2011 erlittenen Bandscheibenvorfall im Bereich der Lendenwirbelsäule Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte eingeholt und sodann den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. G von Amts wegen mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Der Sachverständige gelangt nach körperlicher Untersuchung des Klägers vom 06. Juni 2012 in seinem Gutachten vom 21. Juni 2012 zu der Einschätzung, dass die Voraussetzungen u. a. für das vorliegend begehrte Merkzeichen „aG“ gegeben seien. Der Kläger sei der Gruppe der Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten etc. vergleichbar, weil er sich nur noch mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen könne. Es bestünde ein mobilitätsbedingter GdB von 80. Der Gesamt-GdB sei mit Blick auf die Hirnleistungsminderung und eine bestehende Raumverarbeitungsstörung als Folge des Hirninfarktes mit 100 zu bewerten. Wegen der Verschlechterung im Gesundheitszustand aufgrund des Wirbelsäulenleidens würden die von ihm getroffenen Feststellungen ab Juni 2011 gelten.
In der Sache hat am 5. November 2012 ein Erörterungstermin vor dem Berichterstatter stattgefunden.
Der Kläger ist der Auffassung, dass aufgrund der Feststellungen, wie sie durch den Sachverständigen Dr. G getroffen worden seien, die Voraussetzungen für die begehrten Merkzeichen gegeben seien.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger die Berufung hinsichtlich des Merkzeichen „T“ vollständig und hinsichtlich des Merkzeichens „aG“ mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 09. Juni 2010 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 07. Juni 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. August 2007 zu verurteilen, für den Kläger das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ ab dem 21. Februar 2013 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.
Die Berufung des Klägers ist zulässig und jedenfalls im aufrechterhaltenen Umfang auch begründet. Insoweit ist der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts unzutreffend und der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 07. Juni 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. August 2007 rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat jedenfalls ab dem 21. Februar 2013 einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“.
Nach § 69 Abs. 4 des Neuntes Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) stellen die Versorgungsämter neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung) und die den von dem Kläger begehrten Zugang zu straßenverkehrsrechtlichen Parkerleichterungen eröffnet. Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Eine derartige Gleichstellung setzt nach der Rechtsprechung des BSG voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (Urteil vom 11. März 1998, B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht um einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein kann. Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppeloberschenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann, und zwar praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das BSG hat in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen „aG“ geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöpfung eine Pause einlegen muss (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, a. a. O.).
Dies zugrunde gelegt, liegen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens „aG“ zur Überzeugung des Senats jedenfalls ab dem 21. Februar 2013 vor. Der Senat folgt der Bewertung des Sachverständigen Dr. G in seinem Gutachten vom 21. Juni 2012, der nachvollziehbar anhand der von ihm vorgenommen Befundung insbesondere unter Einschluss der mit dem Kläger getätigten Gehprobe dargelegt hat, dass mit Blick auf das Hinzutreten weiterer Funktionsbeeinträchtigungen von Seiten der Wirbelsäule her das klägerische Gehvermögen sich derart verschlechtert hat, dass zwischenzeitlich die Voraussetzungen für eine Gleichstellung des Klägers mit der Gruppe des ausdrücklich beispielhaft in den straßenverkehrsrechtlichen Bestimmungen genannten Personenkreises, für die das Merkzeichen „aG“ in erster Linie bestimmt ist, gerechtfertigt ist. Aufgrund der gutachtlichen Feststellungen ergibt sich nicht nur, dass die Gehfähigkeit des Klägers in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist, da er sich aufgrund der bestehenden halbseitigen Hemiparese nur noch mit Gehstock und orthopädischen Hilfsmitteln und auch dann nur noch schleppend, kleinschrittig und deutlich verlangsamt fortbewegen kann, so dass seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist. Vielmehr ergibt sich aus dem Gutachten auch, dass sich der Kläger nunmehr bei Fortschreiten der orthopädischen Erkrankungen nur noch mit großer Anstrengung, und zwar praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges, fortbewegen kann. Dem stehen die Feststellungen und Einschätzungen des Sachverständigen Dr. H nicht entgegen, da zum Zeitpunkt dessen Begutachtung im Oktober 2008 das Gehvermögen des Klägers noch nicht derart eingeschränkt war, um das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ nachweislich belegen zu können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Eine Kostenerstattungspflicht der Beklagten war nur für das Berufungsverfahren auszusprechen, da erst in dessen Verlauf Veränderungen im Gesundheitszustand des Klägers eingetreten sind, die die Zuerkennung des begehrten Merkzeichens „aG“ rechtfertigen. Die Kostenquotelung ergibt sich dabei mit Blick auf das lediglich zeitliche Teilobsiegen des Klägers sowie mit Blick auf die im Übrigen nicht weitere Aufrechterhaltung des darüber hinausgehenden Berufungsbegehrens.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht gegeben sind.