Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 1. Senat | Entscheidungsdatum | 10.07.2012 | |
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Aktenzeichen | L 1 KR 128/12 B ER | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 240 Abs 4 SGB 5 |
Zur Beitragsbemessung freiwillig krankenversicherter Schüler, die ausschließlich Einkommen aus BaföG haben.
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 13. März 2012 wird aufgehoben.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Beitragsfestsetzungsbescheid vom 10. August 2011 wird angeordnet, soweit darin höhere monatliche Beiträge für die Krankenversicherung als 64,77 € und für die Pflegeversicherung als 11,64 €, zusammen mehr als 76,41 € festgesetzt sind.
Die Antragsgegnerinnen haben der Antragstellerin die ihr entstandenen außergerichtlichen Kosten für das gesamte Verfahren zu erstatten.
Die Beschwerde ist begründet.
Das Antragsbegehren war dahingehend auszulegen, dass von Anfang an die Antragsgegnerin auch als Pflegekasse in verpflichtet sein soll, da diese eine eigenständige Körperschaft ist und die Beiträge lediglich in einem gemeinsamen Bescheid festgesetzt werden können, § 46 Abs. 2 Sozialgesetzbuch 11. Buch
Nach § 86 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Diese Wirkung entfällt nach § 86 a Abs. 2 Nr. 1 SGG unter anderem bei Beitragsbescheiden wie hier.
Gemäß § 86 b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache jedoch auf Antrag durch Beschluss die aufschiebende Wirkung anordnen.
Es handelt sich um eine gerichtliche Interessenabwägung nach pflichtgemäßem Ermessen, bei welcher die für und gegen einen Sofortvollzug sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen sind.
Diese Abwägung fällt hier zu Gunsten der Antragstellerin aus:
Die Antragsgegnerinnen wären nämlich nach § 86a Abs. 3 S. 2, 2. Alt. SGG verpflichtet gewesen, von Amts wegen selbst die Aussetzung des streitgegenständlichen Beitragsfestsetzungsbescheides anzuordnen.
Denn die Vollziehung bedeutet für die Antragstellerin eine unbillige Härte, die nicht durch überwiegende öffentliche Interessen geboten ist:
Für Schüler besteht keine (direkte) Versicherungspflicht in der Krankenversicherung. Eine solche besteht nur für Studenten (§ 5 Abs. 1 Nr. 9 Sozialgesetzbuch 5. Buch, SGB V) und bestimmte Praktikanten (Nr. 10).
Die Antragstellerin, die als vermögens- und einkommenslose Gymnasiastin BaföG-Bezieherin ist, ist auch nicht familienversichert nach § 10 SGB V, da ihre Mutter bereits verstorben ist, und der Vater unerreichbar im Ausland lebt.
Sie ist deshalb freiwillig versichert, hier nach Aktenlage konkret nach § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V.
Da sie aber weder Berufs- noch Fachschülerin und auch keine Wandergesellin ist oder an einer Hochschule im Ausland eingeschrieben ist, haben die Antragsgegnerinnen die Beitragshöhe nach dem allgemeinen Satz (Tarif 5501) bemessen und nicht nach dem ermäßigten für Studenten nach § 240 Abs. 4 S. 7 SGB V i. V. m. §§ 236, 245 Abs. 1 SGB V entsprechend. Letzterer betrüge - nach den Angaben der Antragsgegnerinnen im Widerspruchsbescheid - 64,77 € für die Kranken- und 11,64 € für die Pflegeversicherung monatlich im Gegensatz zu den festgesetzten 126,90 € + 16,61 € = 143,51 € monatlich.
Die Antragsstellerin bleibt die Differenz unverschuldet schuldig: Sie verfügt glaubhaft selbst nicht über die Mittel. Weder das BaföG-Amt noch das JobCenter haben die Kostenübernahme bewilligt. Ihr gerichtlicher Eilantrag auf Verpflichtung des JobCenters ist vom Sozialgericht zurückgewiesen worden (B. v. 22.05.2012 –S 148 AS 8691/12 ER).
Diese Situation ist ihr nicht zuzumuten: Einerseits gehen hier alle Beteiligten davon aus, dass die einfachgesetzliche Rechtslage verfassungsrechtlich untragbar ist und irgendeiner der in Betracht kommenden Träger für die Deckung der anfallenden Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge zuständig sein muss. Es steht nämlich außer Diskussion, der Antragstellerin anzusinnen, den Schulbesuch abzubrechen und sich eine (Hilfs-)Arbeit zu suchen. Andererseits muss die Antragstellerin ohne Aussetzung damit rechnen, dass ihre Leistungsansprüche zum Ruhen gebracht werden (§ 16 Abs. 3a SGB V) mit der Folge, dass sie nur noch bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen versichert ist, obwohl ihre Säumnis unverschuldet ist und es insoweit fehl geht, wenn die Antragsgegnerinnen lapidar auf das Vollzugsrisiko abstellen.
Auch der Beschluss des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30.03.2000 (B 12 KR 2/00 B), mit dem Leitsatz, es verstoße nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, freiwillig krankenversicherte Schüler einer allgemeinbildenden Schule beitragsrechtlich anders zu behandeln als Schüler einer Fachschule oder Berufsfachschule, steht – entgegen der Annahme der Antragsgegnerinnen und des Sozialgerichts - einer Aussetzung nicht entgegen. Maßgeblich war für das BSG nämlich, dass der dort klagende Schüler die allgemeinen Beiträge aufbringen konnte: Der Senat habe schon entschieden, dass aufgrund der Regelung zur Berücksichtigung der gesamten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bei der Beitragsbemessung die fiktive Mindestgrenze auch bei einkommenslosen Mitgliedern nicht unterschritten werden dürfe (BSG a. a. O, juris-Rdnr. 6 mit Bezugnahme auf BSGE 70, 13 = SozR 3-2500 § 240 Nr. 6) und diese Regelung selbst dann nicht gegen das GG verstoße, wenn fünf Familienangehörige gleichzeitig betroffen seien (BSG SozR 3-1300 § 40 Nr. 2). Die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht zur Entscheidung angenommen, weil jedenfalls der damalige Beschwerdeführer durch die angegriffene Beitragsregelung nicht überfordert worden sei (BSG SozR 3-1300 § 40 Nr. 3). Von einer solchen Überforderung ist hier allerdings auszugehen.
Der Fall der Antragstellerin zeigt jedoch, dass die gesetzliche Typisierung, die davon ausgeht, dass Besucher einer allgemeinbildenden Schule angesichts ihres Alters regelmäßig familienversichert seien, nicht immer greift.
Es spricht hier auch einiges dafür, die Gesetzeslücken durch eine entsprechende Anwendung des § 240 Abs. 4 S. 7 SGB V zu Lasten der Krankenversicherung zu schließen:
Da der Gesetzgeber selbst für kleine Personengruppen wie für im Inland versicherte Studenten ausländischer Hochschulen oder Wandergesellen Ausnahmevorschriften in § 240 Abs. 4 S. 7 SGB V geschaffen hat, spricht dies für ein Gebot, eine entsprechende Regelung auch für Vollwaisen bzw. für Halbwaisen, deren lebender Elternteil nicht greifbar ist, oder für andere Fälle fehlender Familienversicherung ohne eigener Leistungsfähigkeit zu treffen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG entsprechend.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).