Toolbar-Menü
 
Sie sind hier: Gerichtsentscheidungen Individualbudget; Neufestsetzung; Auflösung einer Gemeinschaftspraxis

Individualbudget; Neufestsetzung; Auflösung einer Gemeinschaftspraxis


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 7. Senat Entscheidungsdatum 23.03.2011
Aktenzeichen L 7 KA 154/07 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Leitsatz

Bei Neufestsetzung eines Individualbudget hat die Kassenärztliche Vereinigung sich - wie auch bei erstmaliger Bemessung des Individualbudget - grundsätzlich an Jahreszeiträumen zu orientieren, denn nur sie bieten die Gewähr der Repräsentativität und lassen quartalsbedingte Schwankungen unberücksichtigt.

Beim Auseinandergehen einer Gemeinschaftspraxis ist es zur Ermittlung des Individualbudgets sachgerecht, die Fallzahlen einer dann bestehenden Einzelpraxis in den ersten vier Quartalen unmittelbar nach Auflösung der Gemeinschaftspraxis mit den Fallzahlen der letzten vier Quartale vor der Auflösung der Gemeinschaftspraxis ins Verhältnis zu setzen. So wird am ehesten abgebildet, welcher Anteil der Fallzahlen einem Arzt bei Berechnung des Individualbudgets für seine Einzelpraxis zusteht.

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. Juni 2007 wird geändert. Der Bescheid der Beklagten vom 19. November 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 2005 wird geändert. Die Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erweiterung seines Individualbudgets unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.

Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Neufestsetzung des Individualbudgets für die Praxis des Klägers in Folge der Auflösung einer Gemeinschaftspraxis. Streitig ist hier nur das Quartal IV/2003.

Der Kläger ist Facharzt für Allgemeinmedizin und nahm seit 1978 an der vertragsärztlichen Versorgung in Berlin teil.

Vom 1. Juli 2000 bis 31. März 2003 war er zusammen mit Frau Dr. Z in Gemeinschaftspraxis tätig (Abrechnungsnummer ). Mit Ende des Quartals I/2003 schied letztere aus der Gemeinschaftspraxis aus, der Kläger führte die Praxis zunächst alleine weiter. Die Behandlungsfallzahlen in den letzten vier Quartalen der Gemeinschaftspraxis und in den ersten vier Quartalen danach stellten sich wie folgt dar:

Gemeinschaftspraxis
H/Z

II/2002
1.067

III/2002
1.062

IV/2002
1.091

I/2003
1.145

Einzelpraxis
H

II/2003
797

III/2003
851

IV/2003
942

I/2004
880

Nachdem die Beklagte das ab 1. Juli 2003 geltende Individualbudget für die Einzelpraxis des Klägers, orientiert an den Abrechnungswerten des Jahres 2002, auf 50 Prozent der für die Gemeinschaftspraxis ermittelten Werte festgesetzt hatte, beantragte der Kläger mit Schreiben vom 23. Juni 2003 eine höhere Festsetzung des auf seine Praxis entfallenden Individualbudgets, da seine Fallzahlen auch nach dem Ausscheiden von Frau Dr. Z letztlich stabil geblieben seien. Nur etwa 20 Patienten seien Frau Dr. Z in deren neue Praxis gefolgt.

Mit Bescheid vom 26. November 2003, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2004, kam die Beklagte dem Begehren des Klägers teilweise nach und setzte das Individualbudget für seine Einzelpraxis auf 75,60 Prozent des Individualbudgets aus der aufgelösten Gemeinschaftspraxis fest, denn die Fallzahlen der beiden auf die Auflösung der Gemeinschaftspraxis folgenden Quartale (durchschnittlich 825) machten 75,60 Prozent der Fallzahlen der Gemeinschaftspraxis in den Quartalen II/2002 bis I/2003 aus (durchschnittlich 1.091). Auf Frau Dr. Z, die an anderem Ort weiterpraktiziert habe, entfalle ein Anteil von 24,40 Prozent. Eine insoweit erhobene Klage (S 83 KA 193/04) hat der Kläger zurückgenommen, nachdem die Beklagte in der Sitzung vom 23. November 2005 zugesichert hatte, den Antrag des Klägers auf Erhöhung des Individualbudgets nach § 9 Abs. 9 und 10 HVM zu bescheiden.

Am 26. August 2004 beantragte der Kläger bei der Beklagten für das Quartal IV/2003 - der Honorarbescheid für dieses Quartal ist noch nicht bestandskräftig - eine Festsetzung des Individualbudgets in Höhe von 87,50 Prozent des Individualbudgets der aufgelösten Gemeinschaftspraxis. Mit 944 Fällen habe er in jenem Quartal 87,5 Prozent der Fallzahlen des Vorjahresquartals (1.079) erreicht.

Die Beklagte nahm eine erneute Sachprüfung vor und lehnte den Antrag für das Quartal IV/2003 mit Bescheid vom 19. November 2004, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 2005, ab. Es müsse bei einem Individualbudget in Höhe von 75,60 Prozent, bezogen auf die Abrechnungswerte der Gemeinschaftspraxis, bleiben. Der Entscheidungsspielraum der Beklagten im Rahmen von § 9 Abs. 10 HVM sei damit vollständig ausgeschöpft. Für die Berechnung der Quote seien nur die beiden unmittelbar auf die Auflösung der Gemeinschaftspraxis folgenden Quartale in den Blick zu nehmen (hier II und III/2003), denn die Aufteilung des Patientenstammes der Gemeinschaftspraxis lasse sich nur bei zeitnaher Betrachtung feststellen. Nach mehreren Quartalen könne es zu Veränderungen kommen, die nicht mehr auf die Beendigung der Gemeinschaftspraxis zurückgingen. Ausnahmen nach § 9 Abs. 9 und 10 HVM kämen nicht in Betracht.

Mit der am 14. Dezember 2005 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er begehrt für das Quartal IV/2003 ein Individualbudget in Höhe von 87 Prozent des Individualbudgets der aufgelösten Gemeinschaftspraxis. Der Wert von 75,60 Prozent trage seiner besonderen Situation nicht hinreichend Rechnung. Die vorübergehend bestehende Gemeinschaftspraxis habe die in der Praxis seit Jahren vorhandenen Fallzahlen nur geringfügig erhöht, nämlich um sieben Prozent im Jahre 2001 und um zwölf Prozent im Jahre 2002. Etwa 90 Prozent des Volumens der Gemeinschaftspraxis entspreche daher der zuvor langjährig betriebenen Einzelpraxis. Daher sei es unbillig, ihm - dem Kläger - nach Auflösung der Gemeinschaftspraxis nur 75,60 Prozent des auf die Gemeinschaftspraxis entfallenden Individualbudgets zuzuweisen.

Mit Urteil vom 6. Juni 2007 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Mit einer Festsetzung des Individualbudgets in Höhe von 75,60 Prozent des von der Gemeinschaftspraxis erwirtschafteten Budgets habe die Beklagte ihr Ermessen zutreffend ausgeübt. Maßstab hierfür habe – zeitnah – die Aufteilung des Patientenstammes unmittelbar nach Auflösung der Gemeinschaftspraxis ab dem Quartal II/2003 sein müssen. Der weitere Patientenzuwachs im streitigen Quartal IV/2003 müsse nicht zwingend auf die Auflösung der Gemeinschaftspraxis zurückgehen.

Gegen das ihm am 28. September 2007 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers vom 19. Oktober 2007, mit der er sein bisheriges Vorbringen vertieft.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. Juni 2007 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. November 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 2005 zu ändern und die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag des Klägers auf Erweiterung seines Individualbudgets für das Quartal IV/03 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Heraufsetzung seines Individualbudgets aufgrund gestiegener Fallzahlen im Verhältnis zu den Fallzahlen der früheren Gemeinschaftspraxis, insbesondere nicht isoliert für ein einzelnes Quartal.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht seine Klage vollständig abgewiesen. Er hat einen Anspruch auf Neubescheidung seines Antrags auf Erweiterung seines Individualbudgets.

Der Anspruch auf Neufestsetzung des Individualbudgets ergibt sich aus § 9 Abs. 9 des HVM der Beklagten. Danach kann ein Leistungserbringer beim Vorstand der Beklagten in begründeten Fällen eine Neufestsetzung seines Individualbudgets beantragen. Zwar liegt keines der in der Vorschrift weiter aufgeführten Regelbeispiele vor (u.a. Praxisschließung ohne Praxisnachfolge im unmittelbaren Umfeld mit Patientenübernahme, längere Erkrankung im Bemessungszeitraum, veränderte Praxisstruktur). Allerdings sind die in § 9 Abs. 9 HVM genannten Regelbeispiele nicht abschließend; zugleich liegt auf der Hand, dass mit der ungleichen Patientenverteilung nach dem Auseinandergehen der Gemeinschaftspraxis H/Z ein „begründeter Fall“ vorliegt, der einen Anspruch auf Neufestsetzung des Individualbudgets nach sich zieht. Dies hat auch die Beklagte so gesehen, indem sie auf entsprechenden Antrag des Klägers vom 23. Juni 2003 das Individualbudget für die von ihm fortgeführte Einzelpraxis auf 75,6 Prozent des Individualbudgets aus der aufgelösten Gemeinschaftspraxis festsetzte, denn evident wäre eine jeweils hälftige Aufteilung des Individualbudgets auf den Kläger und die vormalige Partnerin aus der Gemeinschaftspraxis Dr. Z aufgrund der konkreten Gegebenheiten unbillig gewesen. Insoweit hat die Beklagte zu Recht von dem Gedanken aus § 9 Abs. 6 Buchst. c) HVM Gebrauch gemacht, wonach bei Ausscheiden eines Partners aus einer Gemeinschaftspraxis das Individualbudget nicht entsprechend dem nach Köpfen bemessenen arithmetischen Durchschnittswert aufzuteilen ist (Folge wäre hier eine Aufteilung 50:50 gewesen), sondern davon abweichend, wenn einem der vormaligen Partner „nachweislich ein höherer Anteil zusteht“. Gleichzeitig kann die genannte Vorschrift nicht unmittelbar Rechtsgrundlage für die Neufestsetzung des Individualbudgets des Klägers sein, weil sich die Gemeinschaftspraxis mit dem Ende des Quartals I/2003 zu einem Zeitpunkt auflöste, als die Regelungen über das Individualbudget noch nicht galten; sie traten erst mit Wirkung vom 1. Juli 2003 in Kraft. Dass der Kläger damit dem Grunde nach einen Anspruch auf eine von der 50:50-Regelung abweichende Festsetzung seines Individualbudget hatte, muss nicht weiter vertieft werden, denn dieser Annahme ist auch die Beklagte; die Tatsache, dass der Kläger den weit überwiegenden Anteil der von der Gemeinschaftspraxis behandelten Patienten nach Auflösung derselben in seiner Einzelpraxis weiterbehandelte, zwingt zu einer höheren Festsetzung des Individualbudgets als 50 Prozent, gemessen an den von der Gemeinschaftspraxis im Bemessungszeitraum 2002 erzielten Werten.

Gleichzeitig hat die Beklagte den Wert von 75,6 Prozent, den sie auch für das hier streitige Quartal IV/2003 durch die angefochtenen Bescheide beibehielt, nicht fehlerfrei errechnet. Für zwingend hält der Senat es in diesem Zusammenhang grundsätzlich, Jahreszeiträume ins Auge zu fassen. So knüpft die Bemessung des Individualbudgets nach § 9 Abs. 1 HVM ganz allgemein an einen Jahreszeitraum, nämlich den des Jahres 2002, an. Auch Neufestsetzungsersuchen müssen sich daher an Jahreszeiträumen orientieren, denn nur sie bieten die Gewähr der Repräsentativität und lassen quartalsbedingte Schwankungen unberücksichtigt (vgl. hierzu schon Urteil des Senats vom 24. November 2010, L 7 KA 37/07, zitiert nach juris). Dies hat auch das Sozialgericht Berlin in seinem ebenfalls den Kläger betreffenden Urteil vom 9. September 2009 (S 71 KA 382/06; insoweit Berufungsurteil des Senats ebenfalls vom 23. März 2011, L 7 KA 149/09) zutreffend so gesehen.

Für sachgerecht hält der Senat danach, die Fallzahlen der klägerischen Einzelpraxis in den ersten vier Quartalen unmittelbar nach Auflösung der Gemeinschaftspraxis mit den Fallzahlen der letzten vier Quartale vor der Auflösung der Gemeinschaftspraxis ins Verhältnis zu setzen. Diese Sicht- und Berechnungsweise, die zwei Jahreszeiträume nahtlos mit einander vergleicht, bildet am ehesten ab, welcher Anteil der Fallzahlen dem Kläger bei Berechnung des Individualbudgets für seine Einzelpraxis zusteht. Für zu ungenau hält der Senat insoweit im konkreten Fall mit Auflösung der Gemeinschaftspraxis am 31. März 2003 eine Bezugnahme auf die Fallzahlen des Jahres 2002 als Referenzjahr, weil sich dann eine Lücke von einem Quartal ergäbe, die „das Vorher“ und das „Nachher“ weiter auseinander rücken lässt (so aber noch der Ansatz des Sozialgerichts Berlin in seinem o.g. Urteil vom 9. September 2009).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 155 Abs. 1 VwGO für das erstinstanzliche Verfahren – die auf ein konkretes Individualbudget gerichtete Klage hätte nur mit einem Anspruch auf Neubescheidung vollen Erfolg haben können – sowie auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO für das Berufungsverfahren und folgt damit dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil hierfür kein Grund nach § 160 Abs. 2 SGG vorlag.