Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 19.09.2013 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | L 13 SB 292/10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 69 SGB 9 |
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Oktober 2010 wird zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung des Sozialgerichts bleibt unberührt. Für das Berufungsverfahren findet keine Kostenerstattung statt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 ab dem 9. Januar 2008.
Der 1960 geborene Kläger ist als Lastkraftwagenfahrer im Nachtschichtbetrieb tätig.
Am 31. Januar 1991 erlitt der Kläger eine Oberschenkelmehrfragmentfraktur mit Kniegelenksbeteiligung links infolge eines Arbeitsunfalls in R. Er bezieht deswegen von der Berufsgenossenschaft seit 2003 eine Unfallrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20. Am 28. April 2007 musste sich der Kläger einer Bandscheibenvorfalloperation in der Etage L 4/L 5 unterziehen. Am 28. März 2011 erfolgte die Implantation einer Kniegelenkstotalendoprothese links.
Auf Antrag des Klägers vom 09. Januar 2008 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 07. August 2008 der gutachtlichen Einschätzung der Ärztin für Chirurgie Dr. G vom 14. Juli 2008 folgend einen GdB von 20 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest:
- Arbeitsunfallfolgen (Einzel-GdB 20)
- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Teillähmung des Nervus peronaeus links, operierte Bandscheibe (Einzel-GdB 10).
Auf den hiergegen erhobenen Widerspruch des Klägers vom 12. August 2008 wurde der Kläger durch den Arzt für Orthopädie J begutachtet, der nach körperlicher Untersuchung des Klägers in seinem Gutachten vom 10. März 2008 das Wirbelsäulenleiden einschließlich der Teillähmung des Nervus peronaeus mit einem Einzel-GdB von 20 und den Gesamt-GdB mit 30 bewertete. Dieser Einschätzung folgend gab der Beklagte dem Widerspruch unter seiner Abweisung im Übrigen mit Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 2008 insoweit statt, als dass der GdB insgesamt mit 30 festgestellt wurde; die Funktionsbeeinträchtigungen hätten zu einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit („d.E.“) geführt.
Der Kläger hat am 19. Juni 2009 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der er zunächst die Feststellung eines GdB von mehr als 70 begehrt hat.
Mit Urteil vom 15. Oktober 2010 hat das Sozialgericht Berlin der Klage insoweit stattgegeben, als es den Beklagten unter entsprechender Aufhebung des ergangenen Bescheides verurteilt hat, bei dem Kläger einen GdB von 40 ab dem 01. Januar 2008 festzustellen. In Auswertung der vorliegenden medizinischen Befunde und unter Berücksichtigung der bei dem Kläger bestehenden Schmerzen sei das Wirbelsäulenleiden entgegen der Einschätzung des Beklagten mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Die Arbeitsunfallfolgen würden einen Einzel-GdB von 20 bedingen, weil die Funktionsbeeinträchtigungen sowohl der Hüfte als auch des Kniegelenkes jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 bis 20 einzustufen seien. Für die Teillähmung des Nervus peronaeus sei ein Einzel-GdB von 10 festzustellen. Unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen ergebe sich ein GdB von insgesamt 40. Die darüber hinausgehende Klage habe indes keinen Erfolg.
In Umsetzung der gerichtlichen Entscheidung hat der Beklagte mit Bescheid vom 15. November 2010 daraufhin einen GdB von 40 festgestellt.
Gegen das zuvor am 25. Oktober 2010 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16. November 2010 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren beschränkt auf die Feststellung eines GdB von 50 ab dem 09. Januar 2008 weiterverfolgt.
Der Senat hat den Facharzt für Orthopädie und Chirurgie Dr. T mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Der Sachverständige gelangt nach körperlicher Untersuchung des Klägers vom 30. Dezember 2011 in seinem Gutachten vom 06. Januar 2012 zu der Einschätzung, dass der GdB ab Januar 2011 mit 40 und für die Zeit zuvor mit 30 zu bewerten sei. Die Knietotalendoprothese links nebst einer Coxarthrose beidseits bedinge einen Einzel-GdB von 30. Die mäßigen Funktionsstörungen der Lendenwirbelsäule würden einen Einzel-GdB von 20 rechtfertigen. Eine Peroneausschädigung läge indes nicht vor. Eine psychische Komorbidität lasse sich nicht feststellen. Die vom Kläger angegebenen Schmerzen seien bei der Einzel-GdB-Bewertung der Wirbelsäule und der Kniegelenke bereits berücksichtigt worden. Eine Befundverschlechterung sei erst seit Januar 2011 zu diagnostizieren, zuvor sei das Knie- und Hüftgelenksleiden lediglich mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten gewesen.
Auf Antrag des Klägers hat der Senat den Facharzt für Innere Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse Dr. E mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Der Sachverständige gelangt nach körperlicher Untersuchung des Klägers vom 23. November 2012 in seinem Gutachten vom 06. Januar 2013 zu der Einschätzung, dass der Gesamt-GdB seit seiner Begutachtung mit 50 zu bewerten sei. Den Feststellungen und Einschätzungen des Sachverständigen Dr. T sei zu folgen. Zu ergänzen sei allerdings, dass es nunmehr zu einer psychischen Komorbidität gekommen sei, so dass die Heraufsetzung des GdB insgesamt gerechtfertigt sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Oktober 2010 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 07. August 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Mai 2009 in der Fassung des Bescheides vom 15. November 2010 zu verpflichten, für den Kläger ab dem 9. Januar 2008 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und nimmt ergänzend auf die gutachtliche Stellungnahme der Fachärztin für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. T vom 30. Juni 2011 Bezug.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Die Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Die Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist im Ergebnis zutreffend. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 07. August 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Mai 2009 in der Fassung des Bescheides vom 15. November 2010 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 ab dem 09. Januar 2008. Ein höherer GdB als von 40 ab der Antragstellung im Januar 2009 lässt sich unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtfertigen.
Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, sind für die Zeit bis zum 31. Dezember 2008 (grundsätzlich) die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (vormals Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung) herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung (hier Ausgabe 2008 - AHP 2008 -) zu beachten, die gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX für die Zeit ab dem 1. Januar 2009 durch die in der Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG - Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) - vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I, Seite 2412) - zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11. Oktober 2012 - festgelegten „versorgungsmedizinischen Grundsätze“ abgelöst worden sind. Die AHP sind zwar kein Gesetz und sind auch nicht aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen worden. Es handelt sich jedoch bei ihnen um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung im Sinne von antizipierten Sachverständigengutachten, die die möglichst gleichmäßige Handhabung der in ihnen niedergelegten Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet zum Ziel hat. Die AHP engen das Ermessen der Verwaltung ein, führen zur Gleichbehandlung und sind deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt zu werden. Gibt es solche anerkannten Bewertungsmaßstäbe, so ist grundsätzlich von diesen auszugehen (vgl. z. B. Bundessozialgericht – BSG –, BSGE 91, 205), weshalb sich auch der Senat für die Zeit bis zum 31. Dezember 2008 grundsätzlich auf die genannten AHP stützt. Für die Zeit ab dem 1. Januar 2009 ist demgegenüber für die Verwaltung und die Gerichte die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretene Anlage zu § 2 VersMedV maßgeblich, mit der die in den AHP niedergelegten Maßstäbe mit lediglich redaktionellen Anpassungen in eine normative Form gegossen worden sind, ohne dass die bisherigen Maßstäbe inhaltliche Änderungen erfahren hätten.
Einzel-GdB sind entsprechend diesen Maßstäben als Grad der Behinderung in Zehnergraden entsprechend den Maßstäben des § 30 Abs. 1 BVG zu bestimmen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 69 Abs. 3 SGB IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 der Anlage zu § 2 VersMedV (Seite 22; ebenso bereits Teil A Nr. 19 AHP 2008, Seite 24 ff.) die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) – ee) der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 22, 23; ebenso zuvor AHP 2008 Teil A Nr. 19 Abs. 1, 3 und 4, Seite 24 ff.).
Hiervon ausgehend hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mehr als 40 ab der Antragstellung am 9. Januar 2008. Entgegen der Einschätzung des Sozialgerichts und mit der übereinstimmenden Einschätzung der Sachverständigen Dr. Tund Dr. E ist das Wirbelsäulenleiden bei allenfalls mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Lendenwirbelsäule) nach Maßgabe des Teils B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV, S. 107 (bzw. Teil A Nr. 26.18 AHP 2008, S. 116) mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Angesichts der Feststellungen und Ausführungen der Sachverständigen ist auch zur Überzeugung des Senats nachvollziehbar belegt, dass das Kniegelenksleiden unter Einschluss des Hüftleidens (Funktionssystem „Beine“: vgl. Teil A Nr. 2 e der Anlage zu § 2 VersMedV, S. 20, bzw. Teil A Nr. 10 Abs. 12 AHP 2008, S. 16;) einen Einzel-GdB von zunächst 20 und ab Januar 2011 von 30 rechtfertigt (Teil B Nr. 18.4 der Anlage zu § 2 VersMedV, S. 115 ff. bzw. Teil A Nr. 26.18 AHP 2008, S. 124 ff.).
Vor diesem Hintergrund lässt sich unter Berücksichtigung bestehender Wechselwirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen jedenfalls kein höherer GdB als von 40 begründen. Dies gilt selbst dann, wenn eine separat zu bewertende psychische Komorbidität vorliegen sollte, die nach der Einschätzung des Sachverständigen Dr. E mit einem Einzel-GdB 20 zu werten ist. Denn ausweislich der Ausführungen des Sachverständigen Dr. E ist von einer allenfalls leichten Ausprägung der psychischen Erkrankung auszugehen. In Anwendung der versorgungsmedizinischen Grundsätze rechtfertigt sich dem Regelfall entsprechend bei leichten, mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertenden Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Ein hiervon abweichender Regelfall ist aufgrund der Feststellungen des Sachverständigen Dr. E nicht nachgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht gegeben sind.