Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 14. Senat | Entscheidungsdatum | 29.11.2011 | |
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Aktenzeichen | L 14 AS 1663/11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 12 Abs 1 S 1 SGG, § 105 Abs 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG, § 159 Abs 1 Nr 2 SGG, § 547 Nr 1 ZPO |
Auf die Berufung der Kläger wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. August 2011 aufgehoben. Die Sache wird an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Kläger wenden sich vornehmlich gegen die Änderung bzw. Aufhebung der Bewilligung von Leistungen.
Die Beklagte bewilligte den Klägern mit Bescheid vom 14. November 2007 für die Monate November 2007 bis April 2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Regelleistungen und Leistungen für Unterkunft und Heizung) nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II). Diese Bewilligung „änderte“ die Beklagte mit Bescheiden vom 22. Februar 2008 und 10. April 2008. Gegen den Bescheid vom 10. April 2008 legten die Kläger Widerspruch ein.
Während des Widerspruchsverfahrens hob die Beklagte mit einem an die Klägerin zu 1. gerichteten Bescheid vom 14. August 2008 die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen mit Wirkung ab dem 1. März 2008 wegen „Wegfall(s) der Erwerbsfähigkeit“ auf. Außerdem „bewilligte“ sie mit „Änderung“(sbescheid) vom selben Tag Leistungen für die Zeit von November bis Februar 2008 (in für die Monate Januar und Februar 2008 gegenüber dem Bescheid vom 10. April 2008 geringfügig geänderter Höhe). Mit Widerspruchsbescheid vom 17. September 2008 „bewilligte“ die Beklagte „in Abänderung des Bescheides vom 10.04.2008 … für den Zeitraum vom 01.11.2007 bis 30.04.2008 Leistungen in folgender Höhe …:
vom 1.11.2007 bis 30.11.2007 in Höhe von 697,11 €,
vom 1.12.2007 bis 31.12.2007 in Höhe von 462,92 €,
vom 1.01.2008 bis 29.02.2008 in Höhe von 594,47 €,
vom 1.03.2008 bis 31.03.2008 - kein Leistungsanspruch
vom 1.04.2008 bis 30.04.2008 - kein Leistungsanspruch.“
Im Übrigen wies sie den Widerspruch zurück und verfügte, dass die im Widerspruchsverfahren entstandenen notwendigen Aufwendungen auf Antrag zu 1 % erstattet würden.
Die Kläger haben am 20. Oktober 2008 Klage beim Sozialgericht Berlin erhoben und zuletzt beantragt,
1. den Änderungsbescheid der Beklagten vom 10.04.2008 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 14.08.2008 und zuletzt in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 17.09.2008 für November 2007 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin zu 1) für November 2007 weitere 0,19 € zu gewähren;
2. den Änderungsbescheid der Beklagten vom 10.04.2008 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 14.08.2008 und zuletzt in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 17.09.2008 hinsichtlich der Zeiträume Dezember 2007 bis April 2008 aufzuheben.
Der Vorsitzende der Kammer des Sozialgerichts hat am 30. Juni 2011 verfügt:
„an beide Bet.
Das Gericht fragt auch in diesem Verfahren an, ob eine E ohne mdl. Verhandl. gem. § 124 Abs. 2 SGG zugestimmt wird und bitte um St. binnen 2 Wo.“
Diese Verfügung hat der Kammervorsitzende mit einem Handzeichen („Paraphe“) abgezeichnet.
Die Geschäftsstelle der Kammer hat daraufhin an den Prozessbevollmächtigten der Kläger und die Beklagte geschrieben:
„Das Gericht erwägt auch in diesem Verfahren gemäß § 124 Abs. 2 SGG zu entscheiden und bittet um Mitteilung binnen zwei Wochen, ob Einverständnis mit diesem Vorgehen besteht.“
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 27. Juli 2011 erklärt, dass sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sei. Die Kläger haben mit Schriftsatz vom 1. August 2011 mitteilen lassen, dass einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid oder nach § 124 Abs. 2 SGG widersprochen werde.
Durch Gerichtsbescheid vom 5. August 2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Hinsichtlich des Klageantrages zu 1. sei die Klage unzulässig, da ihr das Rechtsschutzbedürfnis fehle. Bei dem geltend gemachten Betrag von 0,19 Euro handele es sich um einen Bagatellbetrag (Hinweis auf Urteil des SG Düsseldorf vom 4. August 1955, Sgb 1956, 263). Die mit dem Antrag zu 2. erhobene Klage sei hinsichtlich der Monate Januar und Februar unzulässig, da die Kläger insoweit nicht beschwert seien. Hinsichtlich der Monate Dezember 2007 sowie März bis einschließlich April 2008 sei die zulässige Klage unbegründet. Die angefochtenen Entscheidungen seien hinreichend bestimmt und individualisiert. Im Übrigen handele es sich bei den angefochtenen Entscheidungen nicht um eine Aufhebungsentscheidung des Beklagten, sondern eine Änderung vorausgehender Bescheide.
Gegen den ihnen am 17. August 2011 zugestellten Gerichtsbescheid wenden sich die Kläger mit ihrer am 12. September 2011 eingelegten Berufung.
Die Kläger beantragen,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. August 2011 sowie den Änderungsbescheid der Beklagten vom 10. April 2008 in der Fassung des Bescheides vom 14. August 2008 und in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. September 2008 hinsichtlich der Monate Dezember 2007 bis April 2008 aufzuheben.
Die Beklagte stellt keinen Antrag, sondern sich die Frage, was hier erreicht werden solle. Es fehle das Rechtsschutzbedürfnis.
Sämtliche Beteiligte haben erklärt, dass sie mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze sowie auf die von der Beklagten vorgelegte Lei-stungsakte (4 Bände), die Gegenstand der Beratung des Senats gewesen ist, verwiesen.
Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, nachdem sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 SGG).
Die zulässige (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 151 Abs. 1 SGG) Berufung der Kläger ist im Sinne der Aufhebung des Gerichtsbescheides und Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht begründet. Das Verfahren leidet an einem wesentlichen Mangel.
Das Sozialgericht hat durch Gerichtsbescheid entschieden, ohne die Beteiligten wie in § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG vorgeschrieben vorher dazu anzuhören. Die Auffassung des Sozialgerichts, die Bitte um Mitteilung, ob die Beteiligten mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien (§ 124 Abs. 2 SGG), stehe einer Anhörung zu einer erwogenen Entscheidung durch Gerichtsbescheid gleich, ist schlechterdings nicht vertretbar. Bittet das Gericht um Mitteilung, ob die Beteiligten mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind, so gibt es damit keineswegs zu erkennen, dass es beabsichtigt, in jedem Fall ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, und noch nicht einmal, dass aus der Sicht des Kammervorsitzenden die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid (§ 105 Abs. 1 Satz 1 SGG: nämlich dass „die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist“) gegeben sind. Der Beteiligte, der aufgrund einer solchen Frage – wie hier die Kläger – ausdrücklich erklärt, mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nicht einverstanden zu sein, muss deshalb nicht damit rechnen, dass das Gericht gleichwohl ohne mündliche Verhandlung und damit ohne die Möglichkeit weiteren Vortrages in einer mündlichen Verhandlung in der Sache entscheidet. Selbst bei Einverständnis aller Beteiligter mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung wäre eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne entsprechende Anhörung unzulässig, da das Gericht in anderer Besetzung – bei einer Entscheidung durch Urteil auch ohne mündliche Verhandlung mit ehrenamtlichen Richtern, beim Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 SGG) – zu entscheiden hat. Dass für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid zwar eine Anhörung vorgeschrieben, aber das Einverständnis der Beteiligten nicht erforderlich ist, ändert daran nichts.
Lediglich beiläufig ist darauf hinzuweisen, dass die Verfügung des Kammervorsitzenden – abgesehen davon, dass die von der Geschäftsstelle an die Beteiligten gerichtete Mitteilung nicht mit dieser Verfügung übereinstimmt – schon deshalb keine wirksame „Anhörungsmitteilung“ sein dürfte, weil sie vom Kammervorsitzenden nicht unterschrieben, sondern nur mit einem Handzeichen abgezeichnet ist (vgl. dazu Urteil des 12. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. November 2010 – L 12 R 793/09 – unter Hinweis auf Urteil des Bundessozialgerichts vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R – [zum Erfordernis der Unterschrift unter eine richterliche „Betreibensaufforderung“]).
Der Mangel, an dem das sozialgerichtliche Verfahren leidet, ist auch „wesentlich“ i.S.d. § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Wesentlich ist ein Verfahrensmangel dann, wenn die Entscheidung auf ihm beruhen kann. Bei Verfahrensmängeln, die absolute Revisionsgründe (§ 547 der Zivilprozessordnung [ZPO] i.V.m. § 202 SGG) sind, ist die Entscheidung stets als auf einem Verfahrensmangel beruhend anzusehen (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 9. Aufl. [2008], § 159 Rdnr. 3a). Ein absoluter Revisionsgrund liegt hier vor, da das Sozialgericht, das nicht durch Gerichtsbescheid hätte entscheiden dürfen, nicht in der vorgeschriebenen Besetzung (ein Vorsitzender und zwei ehrenamtliche Richter als Beisitzer [§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGG]), sondern ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entschieden hat (§ 547 Nr. 1 ZPO).
Angesichts dieses augenfälligen Verfahrensmangels und der dadurch bewirkten gesetz- und verfassungswidrigen „Verkürzung der Richterbank“ (Entzug des gesetzlichen Richters) hält es der Senat für angebracht, nicht selbst in der Sache zu entscheiden, sondern von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen (§ 159 Abs. 1 SGG). Dass der Klage das Rechtsschutzbedürfnis fehlen würde, wie die Beklagte meint, ist jedenfalls derzeit nicht erkennbar: Jedenfalls fehlt das Rechtsschutzbedürfnis nicht deshalb, weil die Beklagte nach der zumindest sinngemäß verfügten Aufhebung der Bewilligung für die Monate März und April 2008 bislang von den Klägern keine Erstattung erbrachter Leistungen fordert. Ob und inwieweit sich die Kläger mit Erfolg gegen diese Aufhebung wenden können, ist eine zunächst vom Sozialgericht in vorschriftsmäßiger Besetzung zu prüfende Frage der Begründetheit ihrer Klage.
Bei seiner neuen Entscheidung wird das Sozialgericht auch darüber zu befinden haben, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten (einschließlich der Kosten des Berufungsverfahrens) zu erstatten haben.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.