Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat | Entscheidungsdatum | 07.02.2012 | |
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Aktenzeichen | OVG 11 S 75.11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 80 Abs 7 VwGO, § 146 VwGO, Art 6 Abs 2 EWGAssRBes 1/80, Art 7 S 1 EWGAssRBes 1/80 |
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 24. November 2011 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Beschwerde trägt der Antragsteller.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
I.
Der 1992 geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Im November 2004 reiste er zusammen mit seiner Mutter und drei Geschwistern im Wege des Familiennachzugs zu seinem mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik lebenden Vater ein. Der Antragsgegner erteilte ihm in der Folge jeweils befristete Aufenthaltserlaubnisse, zuletzt am 28. Januar 2010 bis zum 27. Januar 2011.
Den Antrag des Antragstellers vom 16. November 2010 auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 11. März 2011 ab und drohte zugleich die Abschiebung an. Die begehrte Verlängerung komme wegen der fehlenden Sicherung des Lebensunterhalts nicht in Betracht und Ansprüche gem. Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 seien nicht nachgewiesen. Auch sonst sei keine Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ersichtlich. Über die dagegen am 12. April 2011 erhobene Klage ist bisher nicht entschieden.
Einen ersten, auf ein am 1. März 2011 begonnenes Arbeitsverhältnis gestützten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 27. Mai 2011 (Az. VG 24 L 142.11) ab; die dagegen eingelegte Beschwerde blieb erfolglos (Beschluss des erkennenden Senats v. 6. Juli 2011 - 11 S 40.11 -).
Mit dem verfahrensgegenständlichen, beim Verwaltungsgericht am 25. Juli 2011 gestellten Antrag gem. § 80 Abs. 7 VwGO hat der Antragsteller unter Vorlage verschiedener ihm wegen bestehender Meinungsverschiedenheiten mit seinem Vater von diesem erst jetzt zugänglich gemachter Unterlagen zum Beleg der bisherigen Erwerbstätigkeit des Vaters ein Recht auf Aufenthalt gem. Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 geltend gemacht.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 24. November 2011 abgelehnt. Die Sach- und Rechtslage sei aufgrund des neuen Vorbringens des Antragstellers für diesen nicht günstiger zu beurteilen als zuvor. Ein Erwerb der Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 sei nicht nachgewiesen. Der Antragsteller sei im November 2004 zwar im Wege des Familiennachzugs zu seinem Vater eingereist und habe wohl auch bis zum 15. März 2011 bei diesem gewohnt. Nach den vorgelegten Unterlagen (Rentenversicherungsverlauf, Krankenversicherungszeiten, diverse Lohnabrechnungen) sei der Vater jedoch vom 4. Januar 2005 bis 31. Juli 2006 arbeitslos gewesen und habe deshalb zwar im Zeitpunkt des Zuzugs, aber nicht in den folgenden drei Jahren dem regulären Arbeitsmarkt angehört. Die Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt habe während der 1 ½ Jahre andauernden Arbeitslosigkeit nicht fortbestanden. Denn angesichts der Dauer habe keine vorübergehende Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses mehr vorgelegen, die angemessen sei, um eine andere Beschäftigung zu finden. Soweit der Vater in späteren Zeiträumen wieder erwerbstätig gewesen sei, sei dies unerheblich, weil die Arbeitnehmereigenschaft im Zeitpunkt des Familiennachzuges bestehen und die Bezugsperson während der ersten drei Aufenthaltsjahre dem regulären Arbeitsmarkt angehören müsse. Soweit der Antragsteller sich darauf berufe, seit dem 20. Juni 2011 erwerbstätig zu sein, begründe dies weder eigene Rechte nach ARB 1/80 noch die Prognose eines dauerhaft gesicherten Lebensunterhalts.
Dagegen richtet sich die fristgemäß eingelegte und begründete Beschwerde des Antragstellers, mit der er geltend macht, dass nach nationalem Recht auch derjenige dem regulären Arbeitsmarkt angehöre, der sich diesem als Arbeitssuchender zur Verfügung stelle. Da es in der heutigen Zeit dem Wunschdenken angehöre, dass jedermann, der seinen Arbeitsplatz verliere, einen solchen innerhalb kurzer Zeit wieder erlangen könne, bedürfe die gerichtliche Auslegung der Regelungen des ARB 1/80 insbesondere im Hinblick auf den Zeitraum zwischenzeitlicher Erwerbssuche einer Anpassung. Weiter sei die Auslegung der Art. 6 und 7 ARB 1/80 unzutreffend, wonach sich die erforderlichen drei Jahre Arbeitnehmerschaft allein und nur auf die ersten drei Jahre ab dem Datum des Zuzuges des Familienangehörigen nach Art. 7 ARB 1/80 bezögen. Dies stelle eine freie, durch den Vertragstext nicht mehr zu begründende Auslegung dar, die dem offensichtlichen Regelungszweck zuwiderlaufe und auch durch die zitierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs nicht gedeckt sei. Es sei deshalb auch nicht unerheblich, dass der Vater des Antragstellers nach dem 31. Juli 2006 wieder erwerbstätig gewesen sei. Soweit das Verwaltungsgericht weiter meine, dass eine faktische Erwerbsbiographie des Antragstellers keinen Hinweis auf eine dauerhafte Tätigkeit zulasse, übersehe dies, dass ein 19 Jahre alter Mensch noch nicht über eine Erwerbsbiographie im eigentlichen Sinne dieses Begriffs verfügen könne.
II.
Die zulässige Beschwerde hat auf der Grundlage des nach § 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) allein maßgeblichen Beschwerdevortrages in der Sache keinen Erfolg.
1) Dies gilt zunächst, soweit der Antragsteller eine Anpassung der - mit der Beschwerde nicht näher konkretisierten - gerichtlichen Auslegung der Regelungen des Art. 6 ARB 1/80 über den noch als angemessen anzusehenden, die Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt nicht unterbrechenden Zeitraum zur Arbeitssuche nach unverschuldeter Arbeitslosigkeit an die heutigen Bedingungen für erforderlich hält.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unterliegt das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht als Folge des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt unter bestimmten Voraussetzungen Einschränkungen. Danach führt zwar nicht jede vorübergehende Abwesenheit des türkischen Arbeitnehmers vom Arbeitsmarkt zum Verlust der nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erworbenen Rechte. Die praktische Wirksamkeit der eingeräumten Rechte auf Zugang zu jeder frei gewählten Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis und auf Aufenthalt umfasst vielmehr auch das Recht auf vorübergehende Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses. Eine derartige Unterbrechung ist für die Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt jedoch nur dann unschädlich, wenn der Betroffene tatsächlich eine neue Arbeit sucht und der Arbeitsverwaltung unter Beachtung der jeweiligen nationalen Vorschriften zur Verfügung steht, um innerhalb eines angemessenen Zeitraums eine andere Beschäftigung zu finden. Ist dieser mangels einer ausdrücklichen nationalen Festlegung nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles unter Berücksichtigung der Zielsetzung des Assoziationsabkommens zu bestimmende angemessene Zeitraum für eine effektive Beschäftigungssuche überschritten, gehen dagegen zuvor erworbene Rechte aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 verloren (vgl. zu Vorstehendem: EuGH, Urteil vom 7. Juli 2005 - Rs. C-383/03 [Dogan] - DVBl. 2005, 1258; Urteil vom 10. Februar 2000 - Rs. C-340/97 [Nazli] - NVwZ 2000, 1029; Urteil vom 23. Januar 1997 - Rs. C-171/95 [Tetik] - InfAuslR 1997, 146). Unter Hinweis auf die insoweit als Leitlinien heranzuziehenden Regelungen für freizügigkeitsberechtigte Gemeinschaftsangehörige ist dabei in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ein Zeitraum von sechs Monaten zur Stellensuche grundsätzlich als ausreichend angesehen worden (vgl. Urteil vom 26. Februar 1991 - Rs. C-292/89 [Antonissen] - InfAuslR 1991, 151; in Bezug genommen im Urteil vom 23. Januar 1997, a.a.O.). Etwas anderes gilt danach in den Fällen, in denen der Betroffene nach Ablauf dieses Zeitraums den Nachweis erbringt, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg eine neue Beschäftigung sucht.
Die daran anknüpfende ständige Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin (z.B. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 4. Mai 2006 - 7 B 10.05 -, EA S. 9 ff.; Beschluss v. 9. Oktober 2008 - 11 N 52.08 -, vgl. aber auch BayVGH, Beschluss v. 28. Januar 2008 - 19 CS 06.1572 -, zit. nach juris Rn 43 ff.) trägt der mit der Beschwerde geltend gemachten schwierigen Arbeitsmarktsituation durchaus angemessen Rechnung, da danach auch nach Ablauf von mehr als sechs Monaten Arbeitslosigkeit noch von einer Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt ausgegangen wird, wenn nach diesem Zeitraum im konkreten Fall noch tatsächlich fortdauernde und nicht von vornherein aussichtslose Bemühungen um eine neue Beschäftigung nachgewiesen werden. Soweit das Beschwerdevorbringen dahin zu verstehen sein sollte, dass es angesichts des angespannten Arbeitsmarkts auch nach Ablauf von sechs Monaten noch keiner besonderen Darlegung einer mit begründeter Aussicht auf Erfolg fortgeführten Arbeitssuche bedürfe, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Denn es ist keineswegs „gerichtsbekannt“, dass eine ernsthaft betriebene Arbeitssuche regelmäßig - d.h. für nahezu jedermann und ohne Rücksicht auf die Umstände des konkreten Einzelfalls - länger als sechs Monate dauert und dennoch weiter Aussicht auf Erfolg bietet. Eine für die behauptete fortdauernde Zugehörigkeit des Vaters des Antragstellers zum regulären Arbeitsmarkt danach auch im Rahmen des hiesigen vorläufigen Rechtsschutzverfahrens jedenfalls zu fordernde Darlegung und Glaubhaftmachung aussichtsreicher Bemühungen um eine neue Arbeitsstelle während der gesamten Dauer seiner erheblich länger als sechs Monate währenden Arbeitslosigkeit in den Jahren 2005 bis 2006 ist indes weder erstinstanzlich noch mit der Beschwerde erfolgt. Allein der Umstand, dass er wohl während der gesamten Zeit arbeitslos gemeldet war, begründet nach allem noch keine fortdauernde Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt. Denn die schon mit Blick auf den Bezug von Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe erforderliche Meldung beim Arbeitsamt vermag die nach mehr als sechsmonatiger Arbeitslosigkeit erforderlichen Nachweise für eine tatsächlich ernsthaft betriebene Arbeitssuche nicht zu ersetzen (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 4. Mai 2006 - 7 B 10.05 -, EA S. 11).
2. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, wonach die Entstehung eines Rechts aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 voraussetzt, dass die Arbeitnehmereigenschaft des Familienangehörigen, zu dem der Familiennachzug genehmigt wurde, im Zeitpunkt des Familiennachzugs bestehen und während der ersten drei Aufenthaltsjahre andauern muss, ist ebenfalls nicht aus den mit der Beschwerde vorgebrachten Gründen zu beanstanden.
Denn entgegen der Auffassung des Antragstellers entspricht diese Auslegung des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht nur der Rechtsprechung des entscheidenden Senats (z.B. Beschluss v. 16. Juni 2011 - 11 S 32.11/11 M 17.11 -, EA S. 4), sondern auch derjenigen des Europäischen Gerichtshofs, der für einen Anspruch gem. Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 in ständiger Rechtsprechung (z.B. EuGH, Urteil v. 17. April 1997 - C-351/95 [Kadiman], Rn 46 f.; zuletzt wieder Urteil v. 16. Juni 2011 - C 484/97 - [Pehlivan], NVwZ 2011, 1187 ff., Rn 51 ff., 66) auf das Vorliegen der anspruchsbegründenden Voraussetzungen „während der ersten drei Jahre seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat“ abstellt. Das demgegenüber pauschal und ohne nähere Erläuterung auf den - insoweit keineswegs eindeutigen - „Vertragstext“ sowie die Unvereinbarkeit einer solchen Auslegung mit einem ebenfalls nicht näher dargelegten „offensichtlichen Regelungszweck“ abstellende Beschwerdevorbringen vermag keine durchgreifenden Bedenken hiergegen zu begründen.
3. Soweit der Antragsteller schließlich rügt, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht eine Erwerbsbiographie des Antragstellers verlangt, über die ein 19 Jahre alter Mensch noch nicht verfügen könne, trifft dies die angegriffene Entscheidung schon deshalb nicht, weil diese eine dauerhafte Sicherung des Lebensunterhalts aus den vom erkennenden Senat in der Entscheidung vom 6. Juli 2011 (OVG 11 S 40.11, EA S. 4 f.) dargelegten Gründen abgelehnt und im Übrigen lediglich festgestellt hat, dass neuere Unterlagen über den Fortbestand der Beschäftigung nicht eingereicht worden seien. Auch in der in Bezug genommenen Entscheidung des Senats war die Verlässlichkeit der gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erforderlichen Sicherung des Lebensunterhalts nicht etwa wegen einer (noch) fehlenden langen Erwerbsbiographie des Antragstellers abgelehnt worden, sondern insbesondere wegen seiner durch nahezu durchweg mangelhafte oder ungenügende Abschlussnoten und einen fehlenden Schulabschluss beeinträchtigten Arbeitsmarktchancen, die erst zwei Jahre nach der Schulentlassung und ersichtlich erst im Hinblick auf die drohende Ablehnung der beantragten Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis erfolgte Arbeitsaufnahme, die Beendigung dieser ersten Tätigkeit bereits nach drei Monaten und die daraus resultierende fehlende Verlässlichkeit der Lebensunterhaltssicherung durch die nachfolgend im Juni 2011 aufgenommenen Tätigkeit. Insoweit ist ergänzend anzumerken, dass die Beschwerdebegründung vom Dezember 2011 - anders als das erstinstanzliche Vorbringen (zuletzt mit Schriftsatz vom 9. September 2011) - zu einem weiteren Fortbestand dieses Arbeitsverhältnisses keine Angaben mehr enthält, obwohl die Bedeutung einer diesbezüglichen Aktualisierung für die zwar kurze, insoweit aber durchaus vorhandene Erwerbsbiographie des Antragstellers auf der Hand liegt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).