Toolbar-Menü
 
Sie sind hier: Gerichtsentscheidungen Türkei; Visum; Ehegatten- und Familiennachzug zu Deutschen; Ausweisungsgrund;...

Türkei; Visum; Ehegatten- und Familiennachzug zu Deutschen; Ausweisungsgrund; Auslandsstraftat; Ausnahmefall; Anwendbarkeit des § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG; hinreichende Erfolgsaussichten


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 7. Senat Entscheidungsdatum 03.09.2013
Aktenzeichen OVG 7 M 36.13 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 5 Abs 1 Nr 2 AufenthG, § 27 Abs 3 S 2 AufenthG, § 28 Abs 1 S 1 Nr 1 AufenthG, § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG, § 55 Abs 2 Nr 2 AufenthG, Art 6 GG, Art 11 GG, Art 8 MRK, § 166 VwGO, §§ 114ff ZPO

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 1. Februar 2013 wird geändert. Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für den ersten Rechtszug bewilligt und ihm Rechtsanwalt beigeordnet (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO).

Gründe

Die Beschwerde des Klägers ist begründet. Der Kläger hat nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 und § 121 ZPO für das erstinstanzliche Verfahren Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung und Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten.

Das setzt zunächst voraus, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diesbezüglich folgt aus dem Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten in der Verwirklichung des Rechtsschutzes gemäß Art. 3 Abs. 1 i.V.m. 20 Abs. 3 und 19 Abs. 4 GG, dass die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der beabsichtigen Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung - wie etwa bei schwierigen, bislang nicht hinreichend geklärten Rechts- und Tatsachenfragen - nicht überspannt werden dürfen (BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 1991 - 1 BvR 1386/91 -, juris Rz. 8, 10). Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs liegen hinreichende Erfolgsaussichten hier vor.

Der 1981 geborene türkische Kläger, der den erforderlichen Nachweis, sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen zu können, erbracht hat, begehrt den Ehegatten- und Familiennachzug zu seiner in Deutschland geborenen, hier aufgewachsenen und im Juni 2012 eingebürgerten Ehefrau und dem gemeinsamen im April 2012 geborenen Sohn, der - zumindest auch - die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Das Verwaltungsgericht hat hinreichende Erfolgsaussichten der Klage auf Visumserteilung nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 AufenthG wegen des Vorliegens eines Ausweisungsgrundes gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG im Hinblick auf ein türkisches Strafurteil aus dem Jahre 1999 „wegen Teilnahme an einem Tötungsdelikt“ und einer nicht zu beanstandenden Ermessensentscheidung der Beklagten gemäß § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abgelehnt. Dem vermag der Senat im Ergebnis nicht zu folgen.

Zwar geht das Verwaltungsgericht zutreffend davon aus, dass neben den hier unstreitig vorliegenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 sowie Satz 5 AufenthG auch die Regelerteilungsvoraussetzung des Nichtvorliegens eines Ausweisungsgrundes nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfüllt sein muss. Auch ist die erstinstanzliche Annahme nicht zu beanstanden, dass die Verurteilung des Klägers durch das 2. Kriminalgericht in Konya, Türkei, vom 29. September 2000 zu einer Freiheitsstrafe von 16 Jahren und 8 Monaten, geändert durch Zusatzurteil vom 17. Juni 2005 auf 12 Jahre und 6 Monate, eine Auslandsstraftat ist, die im Bundesgebiet als vorsätzliche Straftat anzusehen ist und damit einen Ausweisungsgrund gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG darstellt. Denn ungeachtet der Bezeichnung der Straftat in der deutschen Übersetzung des Tenors des genannten Urteils als „Teilnehmung in fahrlässiger Tötung“ handelt es sich offensichtlich um eine Verurteilung wegen Beihilfe zu einem vorsätzlichen Tötungsdelikt, d.h. einer im Bundesgebiet vorsätzlichen Straftat. Schließlich ist auch nicht ersichtlich, dass sich die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zum Nichtvorliegen eines „Verwertungsverbots“ als nicht mehr zutreffend erweisen, wie das der Kläger unter Berufung auf eine Strafregisterbescheinigung der Staatsanwaltschaft Konya vom 11. Februar 2013 behauptet, zumal sich die genannte strafgerichtliche Verurteilung des Klägers danach weiterhin im dortigen „Strafregisterarchiv“ findet.

Vorliegend spricht jedoch viel dafür, dass ein - vom Verwaltungsgericht und von der Beklagten nicht geprüfter - Ausnahmefall ein Abweichen von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gebietet:

Dabei sind zunächst die besondere Bedeutung der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung in Art. 6 GG und der Schutz des Privatlebens in Art. 8 EMRK zu berücksichtigen. Zwar lässt sich hieraus grundsätzlich kein unmittelbarer Anspruch auf Einreise und Aufenthalt eines Ausländers ableiten, jedoch sind im Hinblick auf den Schutzauftrag und das Fördergebot aus Art. 6 GG bestehende eheliche und familiäre Bindungen zu im Bundesgebiet lebenden Personen entsprechend ihrem Gewicht angemessen zu berücksichtigen und sind gegenläufige öffentliche Belange mit dem Ziel eines schonenden Ausgleichs gegeneinander abzuwägen. Im Schutzbereich des Art. 8 EMRK gilt im Grundsatz nichts anderes. Das Gewicht der privaten Interessen an der Erteilung eines Visums zum Nachzug erhöht sich deutlich dann, wenn die hier lebenden Bezugspersonen (Ehegatte und/oder minderjährige Kinder) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Denn ihnen gewährt das Grundrecht aus Art. 11 GG das Recht zum Aufenthalt in Deutschland, so dass ihnen nur bei gewichtigen öffentlichen Belangen zugemutet werden kann, die Ehe bzw. die familiäre Lebensgemeinschaft für einige Zeit gar nicht oder nur im Ausland führen zu können. Dies dauerhaft tun zu müssen, ist in jedem Fall unangemessen und unzumutbar. Im Ergebnis der Abwägung darf das zumutbare Maß der Beeinträchtigung der hierdurch geschützten Belange im konkreten Einzelfall nicht überschritten werden (BVerwG, Urteil vom 4. September 2012 - 10 C 12.12 -, juris Rz. 20 ff. m.w.N.; EGMR, Urteil vom 19. Februar 1996 - 53/1995/559/645 -, InfAuslR 1996, 245; Urteil vom 28. November 1996 - 73/1995/579/665 -, InfAuslR 1997, 141).

Die privaten Interessen des Klägers an der Visumserteilung erhalten vorliegend besonderes Gewicht, weil seine Ehefrau nicht nur hier geboren und aufgewachsen ist und, soweit ersichtlich, bisher nur in Deutschland gelebt hat, sondern mittlerweile auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Letzteres gilt auch für den gemeinsamen, bei seiner Mutter lebenden Sohn. In Bezug auf ihn kommt hinzu, dass er nicht nur aufgrund seines Lebensalters - er ist im April 2012 geboren -, sondern auch wegen eines kürzlich erlittenen schweren Unfalls besonderer Fürsorge und Betreuung bzw. seine Ehefrau der Unterstützung bedarf. Demgegenüber steht zwar das öffentliche Interesse im Hinblick auf die strafgerichtliche Verurteilung des Klägers in der Türkei wegen einer dort begangenen schwerwiegenden Straftat. Allerdings ist hinsichtlich der von ihm ausgehenden Gefahren durch erneute Straffälligkeit im Bundesgebiet zu berücksichtigen, dass er die Straftat im Juni 1999, d.h. vor 14 Jahren, begangen und seinerzeit gerade erst das 18. Lebensjahr vollendet hatte, so dass ihm sein jugendliches Alter und eine spätere Nachreife zugutezuhalten ist. Außerdem ist er schon im November 2004, d.h. vor knapp neun Jahren, wieder aus der Strafhaft entlassen worden und weder zuvor - so das türkische Strafurteil - noch seitdem - jedenfalls ausweislich seines Strafregisters und wie auch die Beklagte einräumt - nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die Wiederholungsgefahr erscheint nach alledem eher gering. Dass der Kläger auf die Frage nach dem Grund der Strafe im Visumsantrag vom 8. August 2011 ausgeführt hat „Falsche Freundes Wahl“, bietet für sich genommen keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme des Verwaltungsgerichts, er habe die Schwere seiner Straftat noch nicht eingesehen bzw. sich hiermit nur völlig unzureichend auseinandergesetzt. Ebenso wenig erscheint dies für die Erklärung seines Rechtsanwalts im Rahmen der ergänzenden Klagebegründung zwingend, angesichts des Grundrechts des deutschen Kindes auf ein Zusammenleben mit seinem Vater könne ein (überwiegendes) öffentliches Interesse „vielleicht bei einem bandenmäßigen Rauschgifthändler gegeben sein, wie auch bei einem Sexualstraftäter, bei denen erneute Straftaten zu erwarten sind“, nicht aber bei „eine(r) einzelne(n) Tat eines seinerzeit als Jugendlichen zu beurteilenden Täters, bei dem nicht die geringste Widerholungsgefahr besteht“.

Dass im Falle des Vorliegens eines danach zu prüfenden Ausnahmefalles von der Regelerteilungsvoraussetzung in § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG überhaupt noch die - ein behördliches Ermessen eröffnende - Regelung in § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG anwendbar ist, wie das Verwaltungsgericht und die Beklagte meinen, erscheint rechtlich zumindest zweifelhaft (verneinend OVG Dresden, Urteil vom 7. März 2013 - 3 A 132/12 -, juris Rz. 47 f. m.w.N., und Zeitler, HTK-AuslR/§ 27/zu Abs. 3 Satz 2 07/2013 Nr. 1). Ist eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage schwierig und bislang nicht hinreichend geklärt, bestehen nach den einleitenden Ausführungen zum im Prozesskostenhilfeverfahren anzulegenden Maßstab hinreichende Erfolgsaussichten.

Der Kläger ist nach seinen nunmehr hinreichend belegten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen auch nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).