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Entscheidung 9 Sa 2504/10


Metadaten

Gericht LArbG Berlin-Brandenburg 9. Kammer Entscheidungsdatum 18.03.2011
Aktenzeichen 9 Sa 2504/10 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 77 Abs 3 BetrVG, § 77 Abs 4 BetrVG

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 02.11.2010 - Az.: 50 Ca 9607/10 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

II. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe einer tarifvertraglichen Entgeltsicherung und in diesem Zusammenhang über die zutreffende Tarifauslegung.

Der Kläger ist bei der Beklagten seit 6. September 1990 beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet u.a. der Tarifvertrag zur Regelung der Arbeitsbedingungen bei den Nahverkehrsbetrieben im Land Berlin (TV-N Berlin) vom 31. Mai 2005 Anwendung. Gemäß dessen Anlage 1 war der Kläger, der zunächst als Omnibusfahrer tätig war, in die Entgeltgruppe 5 eingruppiert und erhielt zuletzt das Tabellenentgelt der Anlage 2 entsprechend seiner Betriebszugehörigkeit nach der Stufe 5 dieser Entgeltgruppe.

Mit Wirkung vom 10. Dezember 2007 wurde der Kläger wegen Eintritts der Fahrdienstuntauglichkeit versetzt auf eine Stelle der Wertigkeit der Entgeltgruppe 1. Er erhielt dennoch den bisherigen Lohn weiter, denn gemäß § 9 der Anlage 6 zum TV-N Berlin wurde ihm eine Entgeltzulage in Höhe der Differenz zur Lohngruppe 5 gewährt. Diesen Entgeltausgleich erhalten bestimmte Mitarbeiter, die ohne ihr Verschulden für ihre bisherige Tätigkeit untauglich geworden sind. Die Höhe der Zulage ist in § 9 Abs. 1 Satz 3 der Anlage 6 geregelt, der lautet:

„Wenn ihm (dem Arbeitnehmer, die Verf.) aus diesem Grunde eine Tätigkeit zugewiesen wird, die einer niedrigeren Entgeltgruppe entspricht, erhält er als Entgeltausgleich die Differenz zwischen dem für die zugewiesene Tätigkeit jeweils zustehenden monatlichen Entgelt (Anlage 2 TV-N Berlin) und dem jeweiligen monatlichen Entgelt (Anlage 2 TV-N Berlin) aus seiner Tätigkeit bei Eintritt der Untauglichkeit.“

Mit Wirkung vom 1. Mai 2009 wurde der Kläger ein weiteres Mal versetzt auf eine Stelle der Wertigkeit der Entgeltgruppe 4.

Zum 1. August 2008 wurden die Tabellenentgelte der Stufe 5 um 60 € erhöht. Im Ergebnis gab die Beklagte diese Erhöhung an den Kläger und die weiteren von der Entgeltzulage Betroffenen weiter. Allerdings wurde diesen Mitarbeitern gleichzeitig mitgeteilt, dass diese Erhöhung übertariflich, einmalig und ohne Rechtsanspruch erfolge. Zum 1. August 2009 und 1. Mai 2010 erfolgten weitere Erhöhungen der Tabellenentgelte um 1% bzw. 1,5%, die nicht an den Kläger und die anderen Betroffenen weitergegeben wurden.

Mit seiner am 22. Juni 2010 erhobenen Klage hat der Kläger zunächst die Erhöhung seiner Vergütung um diese Entgeltanhebungen verlangt und zuletzt beantragt,

festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm einen Entgeltausgleich gemäß § 9 Anlage 6 zu TV-N Berlin zu zahlen, der der Differenz zwischen dem jeweils aktuellen Tabellenentgelt nach der Anlage 2 TV-N Berlin, welches dem Kläger bei Fortsetzung seiner Tätigkeit als Omnibusfahrer zustünde, und dem aktuellen Tabellenentgelt nach Anlage 2 TV-N Berlin für seine zur Zeit zugewiesene Tätigkeit entspricht.

Die Beklagte hat die Weitergabe der Erhöhung abgelehnt und dies mit dem Tarifwortlaut begründet.

Von einer weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes erster Instanz wird unter Bezugnahme auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils abgesehen (§ 69 Abs. 2 ArbGG).

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 2. November 2010 der Klage stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, die als Feststellungsklage zulässige Klage sei begründet, weil die Tarifauslegung, die in erster Linie nach der Entstehungsgeschichte vorzunehmen sei, eine dynamische Entgeltsicherung wie bei den Tarifvertragsvorgängern ergebe.

Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.

Gegen das ihr am 8. November 2010 zugestellte Urteil richtet sich die am 29. November 2010 beim Landesarbeitsgericht eingegangene und mit einem am Montag, dem 10. Januar 2011 eingegangenen Schriftsatz begründete Berufung der Beklagten.

Die Beklagte wiederholt und vertieft ihre erstinstanzlich schon vorgetragene Auffassung, dass gerade aus dem Vergleich des Wortlauts und des Aufbaus der aktuellen Tarifvertragsregelung mit denen der Vorgängerregelung sich eine Abweichung vom Prinzip des dynamischen Entgeltausgleichs ergebe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 2.November 2010 zum Aktenzeichen 50 Ca 9607/10 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil mit Rechtsausführungen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Vortrags der Parteien in zweiter Instanz wird auf die dort gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

Die gem. §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung ist frist- und formgerecht im Sinne von § 66 Abs. 1 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 ZPO eingelegt und begründet worden und erweist sich damit als zulässig.

II.

Das Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben, und auch die von der Beklagten in der Berufung erhobenen Einwände sind nicht geeignet, dieses Ergebnis in Frage zu stellen.

1.

Mit Recht hat das Arbeitsgericht die Klage für zulässig erachtet. Insbesondere liegt das gemäß § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse vor.

Insoweit wird auf die erschöpfenden Ausführungen des Arbeitsgerichts Bezug genommen, die von der Beklagten auch nicht angegriffen worden sind.

2.

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat Anspruch auf einen Entgeltausgleich, der der Differenz zwischen dem jeweils aktuellen Tabellenentgelt, welches dem Kläger bei Fortsetzung seiner Tätigkeit als Omnibusfahrer zustünde, und dem aktuellen Tabellenentgelt für seine zur Zeit zugewiesene Tätigkeit entspricht. Das ergibt sich aus der Auslegung des § 9 TV-N Berlin.

a) Wie vom Arbeitsgericht bereits dargestellt, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bei der Auslegung von Tarifverträgen zunächst vom Tarifwortlaut und dem durch ihn vermittelten Wortsinn auszugehen. Insbesondere bei nicht eindeutigem Wortsinn ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Verbleiben gleichwohl Zweifel, können die Gerichte weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags und die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und gesetzeskonformen Regelung führt (BAG vom 19.11.2008 - 10 AZR 658/07 – AP Nr 4 zu § 67 BMT-G II).

b) Unter Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich nach Auffassung der erkennenden Kammer bereits aus dem Wortlaut von § 9 Satz 3 der Anlage 6 zum TV-N Berlin, dass die Tarifvertragsparteien eine dynamische Entgeltsicherung geregelt haben.

Denn als Ausgangspunkt (Minuend) zur Ermittlung des Entgeltausgleichsbetrags wird das „jeweilige monatliche Entgelt“ des Arbeitnehmers aus seiner Tätigkeit bei Eintritt der Untauglichkeit festgelegt, wie es sich aus der Anlage 2 zum TV-N ergibt. Der Klammerzusatz hinter „Entgelt“ verweist auf diese Anlage. Nicht verständlich ist deshalb schon der Einwand der Beklagten, der Bezugspunkt sei nicht das Tabellenentgelt für die letzte Beschäftigung, denn die Anlage 2 ist die Tabelle der Monatsentgelte.

Darüber hinaus ist dieses Entgelt durch das Wort „jeweilig“ als das aktuelle, den weiteren Lohnentwicklungen angepasste Entgelt definiert. Die Auslegung der Beklagten, das Wort „jeweiligen“ vor „monatlichen Entgelt“ beziehe sich auf den jeweiligen Beschäftigten, ist nicht nachzuvollziehen. Denn hätte es sich auf den Beschäftigten bezogen, hätte die Formulierung lauten müssen: „und dem monatlichen Entgelt (Anlage 2 TV-N Berlin) aus der Tätigkeit des jeweils Beschäftigten bei Eintritt der Untauglichkeit“.

c) Auch Sinn und Zweck der Vorschrift widersprechen dem nicht. Die Beklagte meint, die Differenzregelung hätte keinen Sinn gemacht, weil prozentuale Tariflohnerhöhungen für beide Rechengrößen zu einem stetig wachsenden Entgeltsicherungsbetrag führen würden. Man hätte schlicht das (ehemals) erhaltene Entgelt sichern können, wie es in § 28 Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G) geregelt ist. Das trifft zwar zu, aber dann wäre der Entgeltsicherungsbetrag als solcher nicht mehr ermittelbar, was u.U. zu nicht nachzuvollziehender unterschiedlicher Vergütung bei gleicher Tätigkeit führte.

d) Schließlich ist auch aus der Entstehungsgeschichte der tariflichen Vorschrift herzuleiten, dass die Tarifvertragsparteien eine dynamische Entgeltsicherung regeln wollten. Denn der Vergleich mit der diesbezüglichen Regelung, die vor Inkrafttreten des TV-N Berlin auf die Arbeitsverhältnisse Anwendung fand, bestätigt die vorstehende Auslegung. Die vor Inkrafttreten des TV-N Berlin geltende Regelung in § 16 Zusatztarifvertrag Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) Nr. 1 zum Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe – BMT-G (ZusTV BVG Nr. 1), die selbst die Beklagte zu Recht als dynamische Entgeltsicherungsklausel versteht und praktiziert hat, enthält keinen maßgeblich anderen Wortlaut, so dass nicht davon auszugehen ist, dass die Tarifvertragsparteien in der § 9 der Anlage 6 zum TV-N Berlin eine grundsätzlich andere Regelung treffen wollten.

Stellt man die Wortlaute der beiden Vorschriften gegenüber, so ergibt sich folgendes Bild:

§ 9 Abs. 1 Satz 3 der Anlage 6 zum TV-N

§ 16 ZusTV BVG Nr. 1

… erhält er als Entgeltausgleich

… erhalten … als Lohnausgleich

die Differenz zwischen dem für die zugewiesene Tätigkeit

die Differenz zwischen dem für die zugewiesene Arbeit

jeweils zustehenden monatlichen Entgelt (Anlage 2 TV-N Berlin)

jeweils zustehenden Monatsgrundlohn zzgl. ständiger Lohnzuschläge, einerseits

und dem jeweiligen monatlichen Entgelt (Anlage 2 TV-N Berlin)

und dem jeweiligen Monatsgrundlohn zzgl. ständiger Lohnzuschläge nach der Lohngruppe,

aus seiner Tätigkeit bei Eintritt der Untauglichkeit

der sie bei Eintritt dieser Fahrdienstuntauglichkeit angehört haben, andererseits.

Daraus ist sich kein maßgeblicher Unterschied erkennbar

3.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

IV.

Die Kammer hat die Revision zugelassen, weil die Tarifauslegung eine Vielzahl von Mitarbeitern betrifft und daher grundsätzliche Bedeutung hat (§ 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG).