Gericht | VG Potsdam 6. Kammer | Entscheidungsdatum | 27.03.2014 | |
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Aktenzeichen | VG 6 K 4268/13.A | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 27a AsylVfG, § 34a AsylVfG, § 30 Abs 1 RVG, § 33 Abs 1 RVG |
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Dezember 2013 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Der nach eigenen Angaben aus Jamaame stammende, somalische Kläger meldete sich am 24. September 2013 in München als Asylsuchender, wobei sein Name dort mit „…“ erfasst wurde. Ausweislich einer handschriftlichen Notiz in der Ausländerakte wurde der Kläger als Erwachsener eingestuft und ihm das fiktive Geburtsdatum 31. Dezember 1994 zugeordnet.
Am 26. September 2013 wurde der Kläger in der Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt mit dem Namen „…“ registriert. Am 10. Oktober 2013 brachte er bei der Außenstelle Eisenhüttenstadt des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag an. Zuvor war in Bezug auf den Kläger ein Eurodac-Treffer festgestellt worden, wonach er am 10. Mai 2013 in Malta erfasst worden war. Anlässlich seiner Bundesamtsbefragung am 15. Oktober 2013 gab der Kläger an, nur Somali zu sprechen; er sei somalischer Staatsangehöriger vom Clan der Dir. Er habe in Jamaame gewohnt; sein Vater sei verstorben; seine Mutter und ein Bruder seien in Jamaame. Personaldokumente habe er nie gehabt. Er sei vier Jahre zur Schule gegangen und habe als Schuhputzer gearbeitet. In Malta habe er Asyl beantragt, die Entscheidung hierüber aber nicht abgewartet. Er sei dort obdach- und arbeitslos gewesen. Am 1. Januar 2012 sei er von Somalia über Äthiopien, den Sudan und Libyen bis Malta ausgereist, wo er am 19. April 2013 angekommen sei. Nach etwa vier Monaten sei er über Italien nach Deutschland gelangt, das er am 23. September 2013 erreicht habe.
Auf ein entsprechendes Übernahmeersuchen des Bundesamtes vom 27. November 2013 erklärte die maltesische Behörde unter den 11. Dezember 2013 ihre Rückübernahmebereitschaft hinsichtlich des Klägers. Daraufhin stellte das Bundesamt mit am 17. Dezember 2013 zugestelltem Bescheid vom 13. Dezember 2013 fest, dass der Asylantrag (des Klägers) unzulässig sei (Nr. 1), und ordnete es seine Abschiebung nach Malta an (Nr. 2). Der Bescheid ist auf §§ 27a, 34a AsylVfG gestützt.
Mit seiner am 19. Dezember 2013 erhobenen Klage und dem zugleich angebrachten Eilrechtsschutzantrag beruft sich der Kläger darauf, in Wahrheit am 1. März 1997 geboren und daher minderjährig zu sein. Außerdem lägen in Malta systemische Mängel des Asylverfahrens vor. Unter Vorlage einer ihm angeblich elektronisch übermittelten Geburtsurkunde mit dem dort angegebenen Geburtsdatum des 1. März 1997 und unter Hinweis auf inzwischen erfolgte familiengerichtliche Maßnahmen, insbesondere die einstweilen unter dem 24. März 2014 angeordnete Vormundschaft, beantragt der Kläger,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Dezember 2013 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 24. Januar 2014 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Dieser hatte mit Beschluss vom 14. Januar 2014 das Eilrechtsschutzgesuch des Klägers mit Blick auf seine nach Aktenlage widersprüchlichen Angaben und darauf beruhenden Unglaubwürdigkeit abgelehnt (VG 6 L 930/13.A). Unter Bezugnahme hierauf war zunächst auch am 7. Februar 2012 das Prozesskostenhilfegesuch des Klägers abgelehnt worden; in der mündlichen Verhandlung ist ihm dann Prozesskostenhilfe bewilligt worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten des Klage- wie des Eilrechtsschutzverfahrens Bezug genommen wie auch auf den Inhalt der vorgelegten Unterlagen des Bundesamtes (Dokumentenmappe sowie Abdruck der elektronisch gespeicherten Unterlagen).
Die gegen den sog. „DÜ-Bescheid“ vom 13. Dezember 2013 erhobene Klage ist als Anfechtungsklage i.S.v. § 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO statthaft (dazu vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, m.w.N.) und mit Blick auf die zweiwöchige Klagefrist des § 74 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG zweifellos fristgerecht erhoben worden.
Die Klage hat Erfolg, da sich der angegriffene Bundesamtsbescheid nach Maßgabe der in der mündlichen Verhandlung zu Tage getretenen Erkenntnisse als rechtswidrig erweist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der auf § 27a AsylVfG i.V.m. den Zuständigkeitsregelungen der hier gem. Art. 49 Satz 3 der Verordnung (EU) 604/2011 („Dublin III-VO“) weiter anwendbaren Verordnung (EG) 343/2003 („Dublin II-VO“) gestützten Unzuständigkeit Deutschlands für die Prüfung des am 10. Oktober 2013 beim Bundesamt angebrachten Asylantrages des Klägers steht entgegen, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt unbegleiteter Minderjähriger, also eine unverheiratete Person unter 18 Jahren war, die ohne Begleitung eines für sie nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreiste (vgl. Art. 2 lit. h Dublin II-VO), mit der Folge, dass Deutschland nach dem gegenüber allen nachfolgenden Zuständigkeitskriterien des Kapitels III der Dublin II-VO vorrangigen Art. 6 Dublin II-VO für die Prüfung seines Asylantrages zuständig ist.
Nach Art. 6 Dublin II-VO ist für die Prüfung des Asylantrages eines unbegleiteten Minderjährigen, der keinen Angehörigen seiner Familie mit rechtmäßigem Aufenthalt in den Mitgliedstaaten hat, derjenige Mitgliedstaat zuständig, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat. Zwar hat im vorliegenden Fall Malta seine Rückübernahmebereitschaft hinsichtlich des Klägers auf das entsprechende Ersuchen des Bundesamtes hin am 11. Dezember 2013 erklärt; die hierdurch nach Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO eintretende Zuständigkeit Maltas geht indes ins Leere. Denn nach Maßgabe der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 u.a.-, NVwZ 2012, 417, Rn.95) finden die in Kapitel III der Dublin II-VO aufgestellten Zuständigkeitskriterien gemäß Art. 5 Abs. 1 Dublin II-VO in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung. Folglich geht die für den Kläger nach Art. 6 Dublin II-VO begründete Zuständigkeit jener auf der Grundlage von Art. 10 Dublin II-VO vor.
Der Kläger hat sich – anders als dies im Eilrechtsschutzverfahren nach Maßgabe aller dort glaubhaft gemachten und sonst ersichtlichen Umstände der Fall war - inzwischen jedenfalls bezogen auf den 10. Oktober 2013 als Minderjähriger erwiesen. Die ihm bislang nach Aktenlage entgegen gehaltenen Widersprüche und Ungereimtheiten konnten bis auf bestehen bleibende Restzweifel hinsichtlich des Wahrheitsgehalts seiner Angaben in einer Weise geklärt werden, dass auch das Gericht jetzt von der Minderjährigkeit des Klägers ausgeht. Dabei ist das Verwaltungsgericht weder an die entsprechenden Alterseinschätzungen der Klägerbevollmächtigten, noch an jene des Familiengerichts oder der jeweiligen Jugendamtsmitarbeiterinnen gebunden, sondern gem. § 86 Abs. 1 VwGO vielmehr dazu aufgerufen, sich selbst eine hinreichend verlässliche Überzeugung zu bilden, die allen erheblichen Zweifeln bei lebensnaher Betrachtung Schweigen gebietet.
Soweit dem Kläger seine – vermeintlich – abweichenden Identitätsangaben vorgehalten worden sind, lässt sich dies mit Blick auf die durch den Dolmetscher in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und überzeugend dargestellten lautsprachlichen Eigenheiten des Somali nicht aufrechterhalten. Der vom Kläger selbst bei seiner Erfassung bei der Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt wie auch bereits zuvor in München angegebene Namen stimmt mit dem im Rubrum wiedergegebenen und von den Behörden geführten Namen überein. Soweit dem Kläger vorgehalten worden ist, dass er selbst das ältere Geburtsdatum angegeben hat, beruhte dies darauf, dass er die ihm einmal von den deutschen Behörden mitgeteilten Daten – auch zur Schreibweise – später wieder angab. Da der Kläger in der mündlichen Verhandlung in der Tat den Eindruck eines eher zurückhaltenden, um Wahrheit bemühten jungen Mannes gemacht hat, kann ihm unumwunden abgenommen werden, dass er sich insoweit „rechtstreu“ verhalten wollte.
Das Gericht hält nicht dafür, dem wahren Alter des Klägers durch eines der gewöhnlicherweise in Betracht kommenden Altersfeststellungsverfahren weiter nachzugehen. Die im vorliegenden Fall vorliegenden Indizien reichen für die in Asylverfahren ohnehin beschleunigt zu erwartende gerichtliche Entscheidung auch mit Blick darauf hin, dass bei Minderjährigen besondere Fürsorge ebenfalls in zeitlicher Hinsicht geboten ist.
Zwar sind die Umstände unklar geblieben, unter denen der Kläger in den Besitz der angeblichen Geburtsurkunde gelangt ist, die den 1. März 1997 als sein Geburtsdatum ausweist; andererseits entspricht die vorgelegte Kopie dieser Urkunde einer Vielzahl anderer entsprechender Urkunden, die allesamt aufgrund der desolaten Verhältnisse in Somalia keiner Echtheitsüberprüfung unterzogen werden können. Allein die mangelnde Überprüfbarkeit der Urkunde stellt den Wahrheitsgehalt ihrer Angaben nicht in Frage. Daneben lässt die unbeholfen wirkende Art, wie der in seiner Heimat vorgeblich nicht ausgebildete Kläger mit Facebook umgegangen sein und den Nachbarn der Großmutter ausfindig gemacht haben will, eher auf die Wahrheit der Angaben des Klägers und sein eher jüngeres Alter schließen. Die kindlich anmutende Art, dem Gericht zu erklären, was Facebook sei, und seine äußere Gestalt einschließlich des noch nicht ausgeprägten Bartwuchses lassen eine exakte Zuordnung des Klägers zu einem bestimmten Lebensjahr nicht zu, sprechen aber eher für ein jüngeres Alter. Ferner steht es der Annahme seiner Minderjährigkeit nicht von vornherein entgegen, dass er als unbegleiteter Minderjähriger in die Obhut fremder Landsleute gegeben worden war, um die abenteuerlich anmutende Reise quer über den nordafrikanischen Kontinent bis nach Deutschland zu bewältigen. Es ist aus einer Vielzahl von Berichten bekannt, dass jugendliche Somalier mehr oder weniger auf sich allein gestellt die Flucht aus dem bürgerkriegsverwüsteten Land gesucht haben. Es erscheint nicht als fernliegend, dass sich ein solcher Jugendlicher bei hinreichender Begabung und körperlicher Konstitution in der Begleitung wohlwollender Landsleute auf dem vom Kläger geschilderten Weg bis nach Mitteleuropa durchschlagen kann.
Alles in allem ist das Gericht unter Berücksichtigung auch der während der mündlichen Verhandlung zu Tage getretenen nonverbalen Äußerungen bzw. Verhaltensweisen des Klägers der Überzeugung, dass er tatsächlich als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland gelangt ist.
Die Kostenfolge beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG.