Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat | Entscheidungsdatum | 06.01.2012 | |
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Aktenzeichen | OVG 11 N 100.11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 5 Abs 1 Nr 1 AufenthG, § 25 Abs 3 AufenthG, § 25 Abs 5 AufenthG, § 29 Abs 3 S 3 AufenthG, § 32 Abs 4 AufenthG, § 124 Abs 2 Nr 1 VwGO, § 124 Abs 2 Nr 5 VwGO |
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. Oktober 2011 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens mit Ausnahme etwaiger außergerichtlicher Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 5.000,- EUR festgesetzt.
Die in der Türkei bei ihren Großeltern lebende Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie begehrt die Erteilung eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung. Die darauf gerichtete Verpflichtungsklage hat das Verwaltungsgericht durch Urteil vom 6. Oktober 2011 abgewiesen.
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil die Klägerin die von ihr geltend gemachten Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 und 5 VwGO nicht begründet dargelegt hat.
1. Das Rechtsmittelvorbringen rechtfertigt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Klägerin macht insoweit geltend, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht die Voraussetzungen eines Kindernachzugs nach § 32 Abs. 4 AufenthG verneint habe. Entgegen dessen Auffassung liege ein besonderer Härtefall im Sinne der Vorschrift vor. Das Verwaltungsgericht habe nicht in Erwägung gezogen, dass die familiäre Lebensgemeinschaft nicht im Ausland hergestellt werden könne, wie das bei anderen Familien regelmäßig möglich sei, weil der Vater der Klägerin nach § 60 Abs. 7 AufenthG Abschiebungsschutz genieße.
Dieses Vorbringen rechtfertigt nicht die Annahme, dass ein Familiennachzug der Klägerin nach § 32 Abs. 4 AufenthG ernstlich in Betracht käme. Es erscheint schon fraglich, ob die Klägerin entsprechend ihrem Visumantrag tatsächlich zu ihrem Vater oder nicht in Wirklichkeit zu ihrer - von diesem getrennt lebender- Mutter nachziehen möchte, bei der auch ihre fünf Geschwister leben. Im letztgenannten Fall dürfte die Erteilung eines Visums schon deshalb nicht in Betracht kommen, weil die Mutter der Klägerin über eine bis zum 18. Mai 2012 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG verfügt und § 29 Abs. 3 S. 3 AufenthG hierfür bestimmt, dass ein Familiennachzug nicht gewährt wird. Im erstgenannten Fall würde sich hingegen die Frage stellen, ob und mit welchem Ergebnis über den Antrag auf Verlängerung der dem Vater der Klägerin zuletzt bis zum 26. März 2011 nach § 29 Abs. 3 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis entschieden worden ist.
Diese Fragen bedürfen hier jedoch keiner abschließenden Entscheidung, weil auch unter Berücksichtigung des Rechtsmittelvorbringens eine besondere Härte im Sinne von § 32 Abs. 4 AufenthG nicht ersichtlich ist, so dass es bereits an den tatbestandlichen Voraussetzungen eines Nachzugs nach dieser Norm fehlt und Ermessen der Beklagten nicht eröffnet ist. Bei der besonderen Härte handelt es sich um einen voller gerichtlicher Nachprüfung unterliegenden unbestimmten Rechtsbegriff, der ebenso auszulegen ist wie der entsprechende, bereits in § 20 Abs. 4 Nr. 2 AuslG 1990 verwandte Begriff. Das Vorliegen einer Härte setzt voraus, dass die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis den minderjährigen Ausländer ungleich schwerer trifft als andere Ausländer in vergleichbarer Lage. Zu prüfen ist, ob nach den Gegebenheiten des Einzelfalls das Interesse des minderjährigen Kindes und des im Bundesgebiet lebenden Elternteils an einem Zusammenleben im Bundesgebiet deswegen vorrangig ist, weil sich die Lebensumstände wesentlich geändert haben, die das Verbleiben des Kindes im Heimatland bisher ermöglichten, und weil dem Elternteil eine Rückkehr in das Heimatland gegenwärtig nicht zumutbar ist. Grundvoraussetzung für die Annahme einer besonderen Härte ist demzufolge der Eintritt eines Umstands, den die Eltern bei ihrer früheren Entscheidung, das Kind in ihrem Heimatland zu belassen, nicht in Rechnung stellen konnten. Die Änderung der Lebensumstände muss danach nicht durch die Ausreise der Eltern (oder des Elternteils), sondern nach ihrer Ausreise eingetreten sein, ohne dass dies zuvor absehbar war (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Juli 2009 – OVG 2 B 4.09 –; Beschluss vom 8. März 2010 – OVG 3 M 39.09 –, jeweils bei juris sowie m.w.N.; vergleiche auch bereits BVerwG, Beschluss vom 24. Januar 1994 – 1 B 181/93 –, InfAuslR 1994,183; Beschluss vom 24. Oktober 1996 – 1 B 180/96 –, bei juris; Urteil vom 26. August 2008 – 1 C 32/07 –, BVerwGE 131, 370). Hieraus ergibt sich, dass der von der Klägerin behauptete und in den Vordergrund ihrer Argumentation gestellte Umstand, die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in der Türkei sei nicht möglich, weil eine Rückkehr dorthin ihrem Vater wegen des festgestellten Abschiebungshindernisses und ihrer Mutter wegen des langjährigen Aufenthalts Ihrer Geschwister nicht zumutbar sei, für sich allein nicht hinreicht, eine besondere Härte im Sinne von § 32 Abs. 4 AufenthG zu begründen. Hinzukommen muss vielmehr die beschriebene Grundvoraussetzung, dass sich diejenigen Lebensumstände, die das Verbleiben der Klägerin im Heimatland bislang ermöglicht haben, wesentlich verschlechtert haben. Hierzu hat das Verwaltungsgericht festgestellt, die Klägerin habe nicht dargelegt, dass eine weitere Betreuung bei ihren Großeltern in der Türkei, in deren Obhut sie seit sieben Jahren gelebt habe, nicht auch in Zukunft möglich sein sollte. Dass sie solange von ihrer Mutter getrennt lebe, beruhe auf deren Entscheidung, sie in der Türkei zurückzulassen, um erneut illegal in die Bundesrepublik einzureisen. Auch die Angaben der Eltern der Klägerin in der mündlichen Verhandlung hätten einen Betreuungsnotstand nicht erkennen lassen. Diese hätten lediglich geäußert, dass die Großeltern alt würden und nachfragen würden, wann sie die Klägerin nachholen würden. Die Behauptung, dass die Großeltern oder die noch in der Türkei lebenden Geschwister des Vaters der Klägerin diese ohne Betreuung lassen würden, sei angesichts des familiären Zusammenhalts innerhalb kurdischer Familien ohne weiteren konkreten Vortrag nicht nachvollziehbar. Das Rechtsmittelvorbringen vermag diese Würdigung nicht ernstlich zu erschüttern. Die Klägerin behauptet lediglich, sie könne in der Türkei nicht mehr ordnungsgemäß betreut werden, substantiiert dies aber nicht. Soweit sie sich auf die Aussage ihres Vaters in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht beruft, er habe Probleme mit dem Großvater, der darauf dränge, dass er die Klägerin zu sich nehme, rechtfertigt das schon nach dem Wortlaut der zitierten Aussage nicht die Behauptung, die Großeltern würden die weitere Betreuung der Klägerin ablehnen. Im Übrigen fehlt es an jeder Glaubhaftmachung dieser Behauptung.
Hiernach ist es nicht mehr entscheidungserheblich, ob auf die unstreitig nicht erfüllte allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG mit Blick auf höherrangiges Recht zu verzichten ist, solange die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in der Türkei ausscheidet. Ebenso wenig kann es darauf ankommen, inwieweit die Eltern der Klägerin tatsächlich in der Lage wären, den notwendigen Lebensunterhalt sicherzustellen. Denn all dies würde nichts daran ändern, dass es bereits an den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 AufenthG fehlt.
2. Soweit die Klägerin mit ihrem Einwand, das Verwaltungsgericht habe ihre Argumente nicht gewürdigt, einen Gehörsverstoß und damit einen Verfahrensfehler i.S. von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO geltend macht, liegt auch dieser Zulassungsgrund nicht vor. Artikel 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte nicht dazu, sich mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Es genügt vielmehr, wenn das Gericht sich mit dem für die Entscheidung erheblichen Kern des Beteiligtenvorbringens in den Entscheidungsgründen auseinandersetzt; im Übrigen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht ihm unterbreitetes Vorbringen auch tatsächlich zur Kenntnis nimmt und berücksichtigt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 -, BVerfGE 86, 133, 145 ff; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. September 2006 - OVG 11 RN 1.06 -, m.w.N). Diesen Anforderungen genügt die Begründung des angefochtenen Urteils. Dass das Verwaltungsgericht der tatsächlichen und rechtlichen Würdigung der Klägerin nicht gefolgt ist, begründet keinen Gehörsverstoß.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).