Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 27. Senat | Entscheidungsdatum | 10.04.2014 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | L 27 R 935/11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 255 SGB 5 |
Die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. August 2011 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass das Urteil des Sozialgerichts wie folgt neu gefasst wird:
Der Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. April 2010 wird aufgehoben, soweit darin festgestellt ist, dass der Kläger für die Zeit vom 1. Januar 2006 bis zum 28. Februar 2010 Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 3.546,48 Euro schuldet.
Die Beigeladene hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Im Übrigen verbleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts.
Die Revision wird zugelassen.
Der Kläger wendet sich gegen die Nachforderung von Krankenversicherungsbeiträgen.
Der im Jahre 1954 geborene Kläger bezieht von der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung. Er hatte jedenfalls im hier streitbefangenen Zeitraum seinen Wohnsitz in der Türkei. Nachdem er zunächst im Jahre 2000 in die T gezogen war, kehrte er im Jahre 2004 vorübergehend nach Deutschland zurück und verlegte sodann im Jahre 2005 wieder seinen Wohnsitz in die T.
Während des gesamten Zeitraumes wurde er durchgängig als versicherungspflichtiges Mitglied der beigeladenen Krankenkasse geführt. Eine Abführung von Krankenversicherungsbeiträgen erfolgte jedoch nicht. Seit dem 01. November 2006 ist der Kläger bei dem türkischen Krankenversicherungsträger eingeschrieben und erhält von dort auch Sachleistungen. Ebenfalls seit diesem Zeitpunkt entrichtet die Beigeladene an den türkischen Sozialversicherungsträger die nach Abkommensrecht vorgesehenen Pauschalbeträge.
Mit Bescheid vom 28. Januar 2010, der zugleich ein Rentenbescheid war, und Widerspruchsbescheid vom 14. April 2010 stellte die Beklagte fest, dass die Einbehaltung von Krankenversicherungsbeiträgen in der Vergangenheit zu Unrecht unterblieben sei, und verlangte von dem Kläger dem Grunde nach eine Nachzahlung der Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 3.546,48 Euro für die Zeit vom 01. Januar 2006 bis zum 28. Februar 2010. Für die Zeit vor dem 01. Januar 2006 machte die Beklagte ausdrücklich keine Krankenversicherungsbeiträge mehr geltend, weil insoweit Verjährung eingetreten sei.
Auf die hiergegen zum Sozialgericht Berlin erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 16. August 2011 die angefochtenen Bescheide im Hinblick auf den vorgenannten Nachzahlungsbetrag von 3.546,48 Euro aufgehoben. Zwar bestehe die Beitragsforderung dem Grunde nach, sie sei auch nicht verjährt, doch es seien die engen Voraussetzungen der Verwirkung erfüllt. Der Kläger habe im Juni 2004 eine neue Versicherungskarte von der Beigeladenen erhalten, ohne dass diese dies zum Anlass genommen habe, die Beitragszahlung des Klägers zu überprüfen. Des Weiteren habe der Kläger im Juli 2004 das Formblatt R 810 ausgefüllt und der Beklagten übersandt, ohne dass in der Folgezeit erneut Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner (KVdR) einbehalten worden wären. Schließlich sei die Erwartung in der Folgezeit dadurch bestätigt worden, dass die Beigeladene in einer dem Kläger ausgehändigten Bescheinigung am 04. Oktober 2006 bestätigt habe, dass der Kläger in der KVdR krankenversichert sei, ohne jedenfalls nunmehr die Entrichtung der Beiträge zu überprüfen. Dieses dreimalige Absehen von der Geltendmachung der Beitragsforderung habe bei dem Kläger die berechtigte Erwartung geweckt, dass keine Beiträge geltend gemacht würden.
Gegen dieses ihr am 23. August 2011 zugestellte Urteil hat die Beigeladene am 06. September 2011 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Sie macht geltend, die Voraussetzungen der Verwirkung seien nicht erfüllt.
Die Beigeladene beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. August 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beklagte stellt keine Anträge.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten der Beklagten und der Beigeladenen, welche im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Eine Entscheidung konnte trotz Fernbleibens des Klägers und der Beigeladenen im Termin zur mündlichen Verhandlung ergehen, weil diese ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf die Möglichkeit einer solchen Entscheidung hingewiesen worden waren.
Die Berufung der Beigeladenen ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist jedoch nicht begründet. Allerdings war der Urteilstenor der angefochtenen Entscheidung des Sozialgerichts neu zu fassen, weil vorliegend nicht die Überzahlung einer Rente, sondern die Feststellung einer Beitragsschuld zur gesetzlichen Krankenversicherung streitbefangen ist.
Die angefochtenen Bescheide waren insoweit durch den Senat auszulegen. Auch wenn in ihrem Wortlaut von einer Rentenüberzahlung gesprochen wird, liegt in den Bescheiden tatsächlich nach ihrem objektiven Erklärungswert die Feststellung einer verbindlich tenorierten Beitragsschuld zur gesetzlichen Krankenversicherung für den Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis zum 28. Februar 2010 in Höhe von 3.546,48 Euro. Festgestellt wird insoweit nicht eine unzutreffend zu hoch berechnete Rente, sondern die zu Unrecht unterbliebene Einbehaltung von Krankenversicherungsbeiträgen, was wiederum in die Feststellung einer verbleibenden Beitragsschuld gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung mündet. In dieser Hinsicht sind die angefochtenen Bescheide keine bloß informatorischen Mitteilungen, in denen auf eine solche mögliche Beitragsschuld hingewiesen wird, sondern sie legen diese in bestandskraftfähiger Weise endgültig fest und besitzen damit Regelungswirkung.
Hingegen enthalten die Bescheide ausdrücklich keine Einbehaltung der Beträge. Dies folgt zum Einen daraus, dass nicht die Einbehaltung eines Teilbetrages von den monatlichen Zahlbeträgen der Rente verfügt wird, und zum Anderen daraus, dass dem Kläger an mehreren Stellen der angefochtenen Bescheide die Möglichkeit eröffnet wird, die festgestellte Beitragsschuld auch für sich – etwa durch eine bargeldlose Überweisung in der von der Beklagten näher umschriebenen Form – durchzuführen.
Insoweit waren die Bescheide allerdings als teilrechtswidrig aufzuheben. Zwar besteht materiell-rechtlich die geltend gemachte Beitragsschuld jedenfalls mit Wirkung vom 1. November 2006 zu Recht. Rechtsgrundlage ist insoweit § 228 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V). Die Beitragsschuld ist zunächst entstanden, weil der Kläger im hier streitbefangenen Zeitraum Mitglied der Beigeladenen war. An der Beitragsverpflichtung ändert sich auch nichts durch den dauernden Auslandsaufenthalt des Klägers, denn das deutsch-türkische Sozialversicherungsabkommen sieht in Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 bei Personen, die ausschließlich eine Rente aus einem Vertragsstaat beziehen, aber gewöhnlich im Gebiet des anderen Vertragsstaates wohnen, eine Fortgeltung der Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung in der Krankenversicherung nach den Rechtsvorschriften des Ausgangsstaates vor. Eine Ergänzung oder Klarstellung hierzu enthält Nr. 11 des Schlussprotokolls des Abkommens in Buchstabe b. Hiernach gilt: Hält sich ein Bezieher einer Rente aus der Deutschen Rentenversicherung gewöhnlich im Gebiet der Türkei auf, so sind weiterhin Beiträge, die der Versicherte aufgrund der Versicherungspflicht in der deutschen Krankenversicherung der Rentner zu zahlen hat, an den deutschen Krankenversicherungsträger abzuführen. Dies führt dazu, dass der Kläger trotz seines dauernden Auslandsaufenthaltes weiterhin Pflichtmitglied in der deutschen Krankenversicherung bleibt und auch aus seiner Rente Krankenversicherungsbeiträge an die Beigeladene zu zahlen hat.
Jedenfalls ab dem 1. November 2006 war auch das so genannte Äquivalenzprinzip, das heißt das Verhältnis zwischen Beitragsverpflichtung auf der einen Seite und Leistungsberechtigung auf der anderen Seite, gewahrt. Denn ab diesem Zeitpunkt war der Kläger bei dem türkischen Sozialversicherungsträger eingeschrieben und konnte nach Artikel 15 des Sozialversicherungsabkommens mit der Türkei vom türkischen Sozialversicherungsträger Sachleistungen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten. Ab diesem Zeitpunkt entrichtete die Beigeladene auch die monatlichen Pauschalbeträge an den türkischen Sozialversicherungsträger, so dass jedenfalls ab November 2006 die Voraussetzungen des Urteils des Bundessozialgerichts vom 4. Juni 1991 (12 RK 52/90) erfüllt waren. Hiernach gilt, dass Pflichtversicherte der deutschen Krankenversicherung, die dauerhaft ihren Wohnsitz im Ausland genommen haben, sofern für dieses Ausland ein Sozialversicherungsabkommen besteht, die Beiträge an die deutsche Krankenversicherung erst dann zu zahlen haben, wenn sie im Ausland auch tatsächlich berechtigt und faktisch in der Lage sind, Sachleistungen entgegen zu nehmen. Dies war – wie bereits ausgeführt – für den Kläger jedenfalls ab dem 1. November 2006 der Fall.
Darüber hinaus war der Anspruch der Beigeladenen gegenüber dem Kläger zum Zeitpunkt seiner Geltendmachung weder verjährt noch insbesondere verwirkt. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist aus Sicht des Senats eine Verwirkung erst dann anzunehmen, wenn die Beigeladene oder die Beklagte in Kenntnis des Bestehens der Beitragsverpflichtung gegenüber dem Kläger hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht hätten, dass die bestehende und als bestehend erkannte Beitragsschuld nicht mehr geltend gemacht werde. Einen solchen Eindruck haben weder die Beigeladene noch die Beklagte gegenüber dem Kläger erweckt. Sie haben lediglich vergessen oder übersehen, eine Forderung, die tatsächlich bestand, auch geltend zu machen. Sie haben nicht gegenüber dem Kläger den Eindruck erweckt, die eindeutig bestehende Forderung werde aus weiteren Gründen nicht mehr erhoben.
Gleichwohl waren die Bescheide insoweit aufzuheben, als sie die Beitragsschuld der zugunsten der Beigeladenen feststellten, denn der Beklagten fehlte zur Überzeugung des Senats insoweit die Befugnis, durch Verwaltungsakt eine verbindliche Regelung zum Nachteil des Klägers und zugunsten der Beigeladenen zu treffen. Eine Rechtsgrundlage findet sich insbesondere auch nicht in § 255 Abs. 2 Satz 1 SGB V. Hiernach gilt: Ist bei der Zahlung der Rente die Einbehaltung von Beiträgen nach Abs. 1 unterblieben, sind die rückständigen Beiträge durch den Träger der Rentenversicherung aus der weiterhin zu zahlenden Rente einbehalten; § 51 Abs. 2 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches gilt entsprechend. Diese Vorschrift ermächtigt nach ihrem eindeutigen Wortlaut den Rentenversicherungsträger ausschließlich zur Einbehaltung von Beiträgen, die hier – wie vorstehend ausgeführt – gerade nicht stattgefunden hat und auch noch nicht stattfinden sollte. Hingegen fehlt im Gesetz eine Regelung, die den Rentenversicherungsträger ermächtigt, losgelöst von der Einbehaltung von Beiträgen eine Feststellung der Beitragsschuld für die gesetzliche Krankenversicherung zu treffen.
Zur Überzeugung des Senats ergibt sich eine solche Rechtsgrundlage auch nicht durch § 255 Abs. 2 SGB V in seiner Auslegung durch die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (so aber Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. November 2012 – L 22 R 1117/10 -). Zwar hat das Bundessozialgericht mit Urteilen vom 18. Dezember 2001 (B 12 RA 2/01 R), vom 29. November 2006 (B 12 RJ 4/05 R) und vom 18. Juli 2007 (B 12 R 21/06 R) jeweils festgestellt, dass in den Fällen, in denen § 255 Abs. 2 Satz 1 SGB V zur Anwendung kommt, der Rentenversicherungsträger mit verbindlicher Wirkung für den Krankenversicherungsträger eine Feststellung der Beitragsschuld zur gesetzlichen Krankenversicherung trifft, sofern nicht zuvor bereits der Krankenversicherungsträger selbst einen Beitragsbescheid erteilt hat.
Zur Überzeugung des Senats betrifft diese Rechtsprechung des Bundessozialgerichts indes ausschließlich solche Fälle, in denen tatsächlich auch eine Einbehaltung rückständiger Krankenversicherungsbeiträge von der jeweils monatlich zu zahlenden Rentenleistung stattfand. Soweit der Senat feststellen kann, hat das Bundessozialgericht noch keine Entscheidung darüber getroffen, wie zu verfahren ist, wenn anstelle einer Beitragseinbehaltung nach § 255 Abs. 2 Satz 1 SGB V zunächst lediglich die Feststellung der Beitragsverpflichtung durch die Rentenversicherung zugunsten der Krankenversicherung erfolgt. Zur Überzeugung des Senats jedenfalls fehlt es insoweit an einer Rechtsgrundlage, die aber hier erforderlich wäre, weil grundsätzlich eine Beitragsfeststellung nur durch denjenigen Sozialversicherungsträger erfolgen darf, der auch Inhaber der Beitragsforderung ist; anderenfalls bedürfte es einer eindeutig hiervon abweichenden ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, die § 255 Abs. 2 Satz 1 SGB V zur Überzeugung des Senats jedenfalls nicht enthält.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass das Berufungsverfahren ausschließlich durch die Beigeladene betrieben wurde und die Beklagte im Berufungsverfahren keine eigenen Anträge gestellt hat.
Die Revision war im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung des Falles gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.