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Entscheidung 24 Sa 1097/11


Metadaten

Gericht LArbG Berlin-Brandenburg 24. Kammer Entscheidungsdatum 19.10.2011
Aktenzeichen 24 Sa 1097/11 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe der tariflichen Entgeltsicherung bei Fahrdienstuntauglichkeit.

Der 1960 geborene Kläger war bei der Beklagten auf der Grundlage des Arbeitsvertrages vom 5.11.1991 als Zugabfertiger beschäftigt; er erhielt zunächst Vergütung nach der Lohngruppe FU 4 des Zusatztarifvertrags BVG Nr. 2 (Kopie Bl. 32 d.A.) und sodann nach der Entgeltgruppe 05 Nr. 4.

Nachdem betriebsärztlich seine Fahrdienstuntauglichkeit festgestellt worden war, wurde der Kläger am 1.9.2008 in die Abteilung PM-Mag.net versetzt. Zum 1. 5. 2009 wurde ihm die Tätigkeit eines Verwaltungsangestellten in der Beschäftigungsstelle PM-PD zugewiesen. Diese Tätigkeit ist in die Entgeltgruppe 04 Nr. 1b eingruppiert. Die Beklagte zahlt dem Kläger darüber hinaus aufgrund des arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Tarifvertrags zur Regelung der Arbeitsbedingungen bei den Nahverkehrsbetrieben im Land Berlin (TV-N) eine Entgeltsicherung in Höhe der Differenz zwischen seinem jetzigen Tarifentgelt und der ihm zum Zeitpunkt der Feststellung der Fahrdienstuntauglichkeit gewährten Vergütung. Hierzu heißt es in der Anlage 6 zum TV-N:

„§ 9 Entgeltsicherung bei Untauglichkeit für die bisherige Tätigkeit

(1) Ein Arbeitnehmer, welcher am 31.08.2005 bei der BVG – AöR – beschäftigt war, von § 11 Zusatztarifvertrag BVG Nr. 1 erfasst wurde und ohne sein Verschulden untauglich für seine bisherige Tätigkeit wird, erhält, wenn er länger als 10 Jahre ununterbrochen im Sinne des § 11 Zusatztarifvertrag BVG Nr. 1 beschäftigt war, einen Entgeltausgleich. (…)

Wenn ihm aus diesem Grunde eine Tätigkeit zugewiesen wird, die einer niedrigeren Entgeltgruppe entspricht, erhält er als Entgeltausgleich die Differenz zwischen dem für die zugewiesene Tätigkeit jeweils zustehenden monatlichen Entgelt (Anlage 2 TV-N Berlin) und dem jeweiligen Entgelt (Anlage 2 TV-N Berlin) aus seiner Tätigkeit bei Eintritt der Untauglichkeit. (…)“

Die Tariferhöhungen zum 01.08.2009 um 1 % und zum 01.05.2010 um 1,5 % berücksichtigte die Beklagte bei der Berechnung der Entgeltsicherung ebenso wenig wie die weiteren Tariferhöhungen, was jeweils zu einer Verminderung des Entgeltsicherungsbetrages führte.

Mit seiner am 21.6.2010 beim Arbeitsgericht Berlin eingegangenen Klage hat der Kläger zuletzt beantragt,

festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm einen Entgeltausgleich gemäß § 9 Anlage 6 zu TV-N Berlin zu zahlen, der der Differenz zwischen dem jeweils aktuellen Tabellenentgelt nach Anlage 2 TV-N Berlin, welches dem Kläger bei Fortsetzung seiner Tätigkeit als Zugabfertiger zustünde, und dem aktuellen Tabellenentgelt nach Anlage 2 TV-N Berlin für seine zurzeit zugewiesene Tätigkeit entspricht.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und den Wert des Streitgegenstandes auf 2160,- € festgesetzt.

Gegen dieses ihr am 9.5.2011 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 25.5.2011 Berufung eingelegt und diese am 7.7.2011 begründet.

Sie trägt vor: Das Arbeitsgericht habe die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu § 28 BMT-G II angewandt, ohne den unterschiedlichen Wortlaut der Regelungen zu beachten. Bezugspunkt sei der Monatstabellenlohn gewesen, während die heutige Regelung sich ausdrücklich nicht auf das jeweilige Tabellenentgelt beziehe, sondern auf das jeweilige monatliche Entgelt aus seiner Tätigkeit bei Eintritt der Fahrdienstuntauglichkeit. Durch den letzten Satzteil sei eine statische Festlegung auf das sich aus der Tabelle ergebende Entgelt zu diesem Zeitpunkt getroffen worden. Nach dem Wortlaut sei nicht ersichtlich, dass Tariflohnerhöhungen bei beiden Rechengrößen Berücksichtigung fänden. Gerade aus der Differenzregelung ergebe sich der Wille der Tarifvertragsparteien für das Abschmelzmodell; andernfalls wäre sie sinnlos, weil sich bei einer prozentualen Steigerung von Subtrahend und Minuend ein immer höherer Entgeltsicherungsbetrag ergebe. Die Sicherung beziehe sich auf das Entgelt des jeweiligen Beschäftigten und nicht auf das jeweilige Entgelt nach der Tabelle. Während früher der jeweilige Lohn nach der Lohngruppe des Beschäftigten bei Eintritt der Fahrdienstuntauglichkeit maßgeblich war, werde heute der Eintritt der Untauglichkeit als zeitlicher Bezugspunkt zum monatlichen Entgelt (nicht der Entgeltgruppe) gesetzt, das daher statisch für die jeweiligen Beschäftigten zu sichern sei. Das Bundesarbeitsgericht habe eine Dynamisierung lediglich aus dem Tarifbegriff „jeweiliger Monatstabellenlohn“ geschlossen, an dem es vorliegend gerade fehle.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens in der Berufungsinstanz wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die Berufung ist nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben.

1. Die Feststellungsklage ist zulässig. Das besondere Feststellungsinteresse gemäß § 256 Abs. 1 ZPO ist gegeben.

Gegenstand der Feststellung kann auch ein Element des Rechtsverhältnisses sein. Maßgeblich ist nur, dass der Feststellungsantrag hinreichend bestimmt und dazu geeignet, den zwischen den Parteien bestehenden Streit insgesamt zu beseitigen (vgl. BAG 21.04.2010 – 4 AZR 755/08 – Juris, Rn. 19 ff.).

Dies ist vorliegend der Fall. Streitig ist lediglich, wie die Entgeltsicherung zu berechnen ist, und zwar konkret nur die Frage, ob bei der Rechenoperation Entgelt bei Einsatz im Fahrdienst (Minuend) abzüglich Entgelt bei Tätigkeit nach Fahrdienstuntauglichkeit (Subtrahend) gleich Entgeltsicherungsbetrag (Differenz) eine Dynamisierung auch beim Minuenden vorzunehmen ist. Die jeweilige monatliche Berechnung ist nach rechtskräftiger Entscheidung dieser Frage einfach vorzunehmen und zwischen den Parteien nicht im Streit.

2. Die Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf eine Entgeltsicherung, bei deren Ermittlung Tarifentgelterhöhungen bei beiden Rechengrößen zu berücksichtigen sind.

a) Der Anspruch auf Entgeltsicherung ergibt sich dem Grunde nach aus § 9 Abs. 1 der Anlage 6 zum TV-N Berlin, der aufgrund der Verweisung im Arbeitsvertrag anwendbar ist; die Verweisungsklausel erfasst auch alle den BMT-G ersetzenden und ergänzenden Tarifverträge.

Der Kläger erfüllt unstreitig die Voraussetzungen für einen Entgeltausgleichsanspruch nach § 9 Abs. 1, da er zum Stichtag 31.08.2005 bei der Beklagten beschäftigt und länger als 10 Jahre ununterbrochen im Fahrdienst – § 11 Zusatztarifvertrag BVG Nr. 1 – tätig war, als er ohne sein Verschulden unfähig wurde, diese Tätigkeit weiter auszuüben.

b) Bei Berechnung der Entgeltsicherung ist eine Steigerung des tariflichen Entgelts auch bei der Ermittlung des Entgelts, das dem Beschäftigten bei Fortsetzung der bisherigen (Fahrdienst-)Tätigkeit zustünde, zu berücksichtigen. Dies ergibt die Auslegung des § 9 Abs. 1 der Anlage 6 zum TV-B Berlin.

aa) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (z.B. BAG 11.11.2010 – 8 AZR 392/09 – NZA 2011, 763, B. I. d. Gr., m.w.N.) den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Ausgehend vom Tarifwortlaut ist der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften. Erlaubt der Tarifwortlaut kein abschließendes Ergebnis, ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und oft nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an die Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt.

bb) Die Anwendung dieser Grundsätze führt zu dem Auslegungsergebnis, dass die Entgeltsicherung dynamisch ausgestaltet ist und sich die Sicherungsdifferenz nicht bei Entgelterhöhungen vermindert (Abschmelzmodell).

(1) Dies folgt bereits aus dem Wortlaut.

Die Differenz errechnet sich gem. § 9 Abs. 1 UA 2 Satz 1 nach dem „jeweiligen monatlichen Entgelt (Anlage 2 TV-N Berlin) aus seiner Tätigkeit bei Eintritt der Untauglichkeit“ und dem für die aufgrund der Fahrdienstuntauglichkeit zugewiesenen Tätigkeit jeweils zustehenden Entgelt.

Bereits aus dem Begriff „jeweilig“ ergibt sich eindeutig, dass eine Dynamisierung bei der Entgeltsicherung gewollt war. Der Begriff beinhaltet nicht nur nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ein zeitdynamisches Element, sondern wird auch von Tarifvertragsparteien üblicherweise in Verbindung mit dem tariflichen Entgelt nach Entgelttabellen dahingehend verstanden, dass Tariferhöhungen zu berücksichtigen sind (vgl. BAG 2.4.1992 – 6 AZR 610/90 – AP Nr 4 zu § 28 BMT-G II, Rn 25; BAG 16.7.1975 – 4 AZR 433/74 - AP Nr 1 zu § 28 BMT-G II).

Zwar kann mit dem Begriff „jeweilig“ auch zum Ausdruck gebracht werden, dass das Substantiv, auf das sich das Adjektiv „jeweilig“ bezieht, ein individueller Gegenstand oder eine Person aus einer Gruppe oder Serie darstellt (Beispiel: „Die jeweilige Generation der Beitragszahler vertraut darauf, dass ihr Lebensabend später von den Jüngeren genauso finanziert wird“ - DIE ZEIT, 12.07.2009). Diese Bedeutung passt aber im Tarifzusammenhang erkennbar nicht. Es geht hier nicht um die Zuordnung eines von mehreren monatlichen Entgelten, sondern um die Berechnung des Entgeltausgleichs.

(2) Aus der Syntax ergibt sich nichts Anderes.

Es sind keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Adjektiv „jeweilig“ nicht dem Substantiv „Entgelt“ zuzuordnen wäre, sondern sich auf den „Beschäftigten“ beziehen soll, wie die Beklagte meint. Bereits die Satzstellung – Adjektiv unmittelbar vor dem Substantiv – bringt dies klar zum Ausdruck. Der Arbeitnehmer wird dagegen im Unterabsatz 2 nur noch mit „ihm“, „er“ und „seiner“ genannt, so dass es an dem von der Beklagten hineininterpretierten Substantiv fehlt.

Einer Dynamisierung steht vorliegend insbesondere auch nicht die Formulierung „bei Eintritt der Untauglichkeit“ entgegen. Die Beklagte isoliert bei ihrer Auslegung diesen Satzteil und interpretiert in ihn ein zeitlich statisches Element hinein. Dabei berücksichtigt sie nicht, dass Bezugspunkt nach dem Satzaufbau die „Tätigkeit“ ist. Die Umschreibung bezeichnet nichts anderes als die frühere Formulierung der „Lohngruppe“, in der der Arbeitnehmer zeitlich vor Eintritt der Fahrdienstuntauglichkeit eingruppiert war. Sie dient der Ermittlung des maßgeblichen Tabellenentgelts zur Differenzberechnung.

(3) Dieses Auslegungsergebnis ist vernünftig, sachgerecht und zweckorientiert.

Die Regelung dient ersichtlich dem Ziel, dem Arbeitnehmer, der unverschuldet fahrdienstuntauglich wird, die Vergütung zu sichern, die er beziehen würde, wenn er weiterhin im Fahrdienst tätig wäre. Dass eine prozentuale Erhöhung des Tabellenentgelts zu einer Erhöhung des als Entgeltsicherung zu zahlenden Differenzbetrages führt, macht die Regelung nicht sinnlos. Sie führt nur dazu, dass der Arbeitnehmer durch die Fahrdienstuntauglichkeit keinerlei Nachteile erleidet. Wird ihm dagegen eine neue Tätigkeit zugewiesen, die der bisherigen Entgeltgruppe entspricht oder sie übersteigt, entfällt die Entgeltsicherung. Anhaltspunkte dafür, dass die Tarifvertragsparteien die Entgeltsicherung nur für einen bestimmten Zeitraum und mit abnehmender Tendenz („Abschmelzung“) gewähren wollten, sind dem Tarifvertrag nicht zu entnehmen.

(4) Die Tarifgeschichte führt nicht zu der von der Beklagten gewünschten Auslegung.

Die Argumentation der Beklagten, die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu § 28 Abs. 1 BMTG II beziehe sich nur auf den Begriff des „Monatstabellenlohns“ und nicht auf das „Entgelt“, wie es in der hier anzuwendenden tariflichen Regelung bezeichnet ist, hilft nicht weiter. Dass die Tarifvertragsparteien verfassungsrechtlich veranlasst die Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten aufgegeben und die diesen Gruppen zugeordneten unterschiedlichen Bezeichnungen für die Vergütung – Lohn und Gehalt – durch den einheitlichen Begriff des Entgelts ersetzt haben, hat keine inhaltliche Auswirkung. Die Bezugnahme der Entgelttabellen ergibt sich vorliegend aus dem Klammerzusatz.

Die hier einschlägige tarifliche Regelung unterscheidet sich inhaltlich weder von ihrer Vorgängerregelung noch von den Tarifnormen, die Gegenstand der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Entgeltsicherung bei Fahrdienstuntauglichkeit waren.

Auch in § 16 des Zusatztarifvertrags vom 02.09.1980, der eine Sonderregelung zu § 16 der Anlage 1 zum BMT-G und zum § 28 BMT-G enthielt, war die Entgeltsicherung bei Fahrdienstuntauglichkeit in der Weise geregelt, dass diese Arbeitnehmer „als Lohnausgleich die Differenz zwischen dem für die zugewiesene Arbeit jeweils zustehenden Monatsgrundlohn zuzüglich ständiger Lohnzuschläge einerseits und dem jeweiligen Monatsgrundlohn zuzüglich ständiger Lohnzuschläge nach der Lohngruppe, der sie bei Eintritt dieser Fahrdienstuntauglichkeit angehört haben, andererseits“ erhalten. Diese wie auch die aktuelle Regelung bringen die Dynamisierung noch deutlicher zum Ausdruck als die frühere Grundnorm des § 28 BMT-G, die der Entscheidung des Bundesarbeitsgericht vom 16.07.1975 (a.a.O.) zugrunde lag, da dort der Begriff des „Behaltens“ verwendet wurde, der auf eine lediglich statische Bestandssicherung hätte schließen lassen können. Die Berücksichtigung von Entgelterhöhungen hat das Bundesarbeitsgericht aus dem Begriff „jeweilig“ hergeleitet.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.

III. Die Revision war gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen. Die Tarifauslegung ist für eine Vielzahl von Mitarbeitern maßgeblich.