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Türke; faktischer Inländer; Straftaten; Ausweisung; Sperrwirkung für Aufenthaltserlaubnis; gegenwärtige Gefahr; Wegfall des Widerspruchsverfahrens; Vier-Augen-Prinzip; Stand-Still-Klausel; Günstiger-Stellungsverbot; Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH; Abänderung stattgebenden Beschlusses; Entscheidung durch BVerwG; Duldung


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat Entscheidungsdatum 22.11.2012
Aktenzeichen OVG 11 S 63.12 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 11 Abs 1 S 2 AufenthG, § 25 Abs 5 AufenthG, § 55 Abs 1 AufenthG, § 55 Abs 2 AufenthG, § 60a Abs 2 AufenthG, Art 13 EWGAssRBes 1/80, Art 14 EWGAssRBes 1/80, Art 9 Abs 1 EWGRL 221/64, Art 31 Abs 1 EGRL 38/2004, Art 38 Abs 2 EGRL 38/2004, Art. 59 ZP, Art. 267 AEUV, § 80 Abs 5 VwGO, § 80 Abs 7 S 2 VwGO, § 123 Abs 1 VwGO

Tenor

Auf den Antrag des Antragsgegners vom 25. September 2012 wird der Beschluss des Senats vom 4. September 2012 gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO geändert.

Die Anträge des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung der - inzwischen im Berufungsverfahren OVG 11 B 28.12 anhängigen - Klage gegen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis und Anordnung der Abschiebung im Bescheid des Antragsgegners vom 26. Februar 2008 anzuordnen, hilfsweise den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung zur vorläufigen Duldung zu verpflichten, werden zurückgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO trägt der Antragsteller.

Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der in Berlin geborene und aufgewachsene türkische Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis und Androhung seiner Abschiebung im Bescheid des Antragsgegners vom 26. Februar 2008, mit dem er darüber hinaus - allerdings ohne Anordnung sofortiger Vollziehung - gemäß § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG in Verbindung mit Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei (ARB 1/80) aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden ist.

Die gegen diesen Bescheid am 7. März 2008 erhobene Klage hat das Verwal-tungsgericht Berlin durch Urteil vom 24. Januar 2012 im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, die vom Beklagten auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Sach- und Rechtslage zunächst im angegriffenen Bescheid getroffene und zuletzt in der mündlichen Verhandlung ergänzte Ausweisungsentscheidung sei auch im Hinblick auf Art. 14 ARB 1/80 wegen der konkreten Gefahr weiterer schwerer Straftaten rechtlich nicht zu beanstanden. Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG bestehe nach Erlöschen seines Aufenthaltsrechts aus Art. 7 ARB 1/80 durch die Ausweisung nicht. Der hilfsweise begehrten Verlängerung eines Aufenthaltsrechts aus familiären Gründen stehe die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG entgegen. Die weiterhin begehrte hilfsweise Verpflichtung zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen (§ 25 Abs. 5 AufenthG) komme mangels Vorliegens eines Abschiebungshindernisses nicht in Betracht. Auch die Abschiebungsandrohung sei nicht zu beanstanden.

Auf den Antrag des Antragstellers hat der Senat die Berufung gegen dieses Urteil durch Beschluss vom 4. September 2012 wegen besonderer Schwierigkeiten der Rechtssache zugelassen (OVG 11 B 28.12). Zur Begründung hat er ausgeführt, die vom Antragsteller aufgeworfene Frage, ob die frühere, auch für türkische Arbeitnehmer und ihre Angehörigen - und damit auch für ihn - geltende gemeinschaftsrechtliche Verfahrensgarantie des Art. 9 Abs. 1 Richtlinie (RiL) 64/221/EWG, d.h. die vorliegend unterbliebene und mangels eines dringlichen Falls auch nicht entbehrliche Nachprüfung der Ausweisungsentscheidung durch eine zweite unabhängige Stelle im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens (sogen. „Vier-Augen-Prinzip“), ungeachtet ihrer Außerkraftsetzung mit Wirkung vom 30. April 2006 durch Art. 38 Abs. 2 der RiL 2004/38/EG (sogen. „Unionsbürgerrichtlinie“) im Hinblick auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 fortgelte, weise besondere rechtliche Schwierigkeiten auf und sei auch im Ergebnis als offen anzusehen. Ungeachtet der Verneinung der Frage insbesondere auch in Entscheidungen mehrerer VGH bzw. OVG in jüngster Zeit sei diese in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der des Europäischen Gerichtshofes - auch nach dessen Urteil vom 8. Dezember 2011 in Rs. C-371/08 (Ziebell/Örnek) - zumindest noch nicht unmittelbar geklärt.

Unter Verweis auf die Ausführungen in diesem Berufungszulassungsbeschluss hat der Senat auf den Antrag des Antragstellers vom 13. Juni 2012 im Verfahren OVG 11 S 35.12 durch Beschluss vom 4. September 2012 auch die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis und Androhung seiner Abschiebung im Bescheid des Antragsgegners vom 26. Februar 2008 mit der Begründung angeordnet, seine schutzwürdigen privaten Belange überwögen das öffentliche Vollzugsinteresse für die Zeit bis zur ggf. rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren.

II.

1. Der Antrag des Antragsgegners vom 25. September 2012,

gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO den Beschluss des Senats vom 4. September 2012 im Verfahren OVG 11 S 35.12 zu ändern und den Antrag des Antragstellers vom 13. Juni 2012 auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zurückzuweisen,

ist zulässig und begründet.

Die hierfür zunächst erforderliche Voraussetzung, dass der Antragsgegner sich zu Recht auf einen „Abänderungsgrund“ im Sinne des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO beruft, ist vorliegend gegeben. Denn „veränderte Umstände“, die einen Beteiligten zur Stellung eines solchen Antrags berechtigen, sind auch im Falle einer sich nachträglich ergebenden „Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung oder der Klärung einer umstrittenen Rechtsfrage“ anzuerkennen (Schoch in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Loseblattsammlung, § 80 Rz. 585; Kopp, VwGO, Kommentar, 18. Auflage, § 80 Rz. 197; jeweils m.w.N.). Davon ist hier auszugehen, nachdem das Bundesverwaltungsgericht durch Urteil vom 10. Juli 2012 zum Geschäftszeichen BVerwG 1 C 19.11 (juris) entschieden hat, dass das „in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene Vier-Augen-Prinzip … auf Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die nach Aufhebung der Richtlinie zum 30. April 2006 erlassen wurden, nicht aufgrund der Stand-Still-Klauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 ZP anzuwenden“ ist (Leitsatz 1). Die seinerzeit fehlende Klärung gerade dieser (Rechts-)Frage u.a. durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts war nämlich Grundlage nicht nur der Berufungszulassung wegen besonderer rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache, sondern auch der sich hieran anschließenden und darauf verweisenden Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage im Verfahren OVG 11 S 35.12.

Soweit der Antragsteller im Rahmen der Antragserwiderung des vorliegenden Verfahrens nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO geltend macht, das Bundesverwaltungsgericht sei zu einer höchstrichterlichen Klärung insoweit nicht befugt, diese Kompetenz stehe vielmehr allein dem EuGH zu, der jedoch hierüber weiterhin nicht entschieden habe, rechtfertigt das keine andere Beurteilung. Einer Vorlage bedarf es allerdings dann nicht, wenn die aufgeworfene Frage bereits in der Rechtsprechung des EuGH geklärt ist oder die richtige Auslegung derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt (Kotzur, a.a.O., Rz. 19). Diese Auffassung vertritt ausweislich des genannten Urteils vom 10. Juli 2012 ersichtlich auch das Bundesverwaltungsgericht. Sie entspricht darüber hinaus auch den Urteilen des Bayer. VGH vom 17. Juli 2012 zu 19 B 12.417 (juris Leitsatz 1) und des - ausdrücklich auf die Entscheidung des EuGH vom 8. Dezember 2011 in der Rs. C-371/08 Ziebell/Örnek Bezug nehmenden - VGH Baden-Württemberg vom 10. Februar 2012 zu 11 S 1361/11 (juris Rz. 35).

Eine andere Beurteilung rechtfertigt auch nicht das Vorbringen des Antragstellers, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juli 2012 habe keine „dezisionelle Funktion“, vielmehr hätte diesem eine andere Verfahrenslage zugrunde gelegen, wo es „anscheinend“ um Modalitäten des durchgeführten Widerspruchsverfahrens gegangen sei. Denn das ändert nichts daran, dass das Bundesverwaltungsgericht eine ausdrückliche, im Ergebnis auf das Verbot in Art. 59 ZP, der Türkei eine günstigere Behandlung zu gewähren als sie Mitgliedsstaaten eingeräumt wird, gestützte Entscheidung dahingehend getroffen hat, das Vier-Augen-Prinzip aus Art. 9 RiL 64/221/EWG gelte für Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die nach Aufhebung der Richtlinie zum 30. April 2006 erlassen wurden, nicht etwa wegen der Stand-Still-Klauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 ZP fort.

Dass Art. 31 Abs. 1 der RiL 2004/38/EG den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit einräumt, einen Rechtsbehelf außer bei einem Gericht auch „gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedsstaates“ einzulegen, so dass sich der Stand-Still-Regelung in Art. 13 ARB 1/80 durchaus Rechnung tragen ließe, wie der Antragsteller weiter geltend macht, rechtfertigt ebenfalls keine andere Beurteilung. Denn hieraus ist jedenfalls keine derartige Verpflichtung der Mitgliedsstaaten abzuleiten. Wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 10. Juli 2012 (juris Rz. 23) darlegt, gebiete das Unionsrecht keine behördliche Kontrolle mehr nach dem Vier-Augen-Prinzip, dann aber könnten assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nach der dynamisch angelegten Rechtsprechung des EuGH zur Übertragung von Rechten auf diese Gruppe keine bessere verfahrensrechtliche Rechtsstellung beanspruchen.

Soweit der Antragsteller meint, das Verbot der Günstiger-Stellung in Art. 59 ZP ließe sich nur durch eine nationale Regelung über die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens gemäß Art. 31 Abs. 1 der RiL 2004/38/EG mit dem zu beachtenden völkerrechtlichen Verbot der einseitigen Veränderung einer Vereinbarung durch die Rechtslage eines Vertragspartners vereinbaren, was das Bundesverwaltungsgericht vollkommen unerwähnt lasse und einer „autoritativen Entscheidung“ bedürfe, verkennt er, dass die Regelungen des Assoziationsratsbeschlusses vorliegend überhaupt nicht verändert worden sind. Vielmehr ist allein das Unionsrecht geändert worden, das durch den Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei Nr. 1/80 so weit wie möglich auf assoziationsberechtigte türkische Arbeitnehmer übertragen werden sollte.

Auch der Verweis des Antragstellers auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 2011 zu 2 BvR 1969/09 gebietet keine andere Beurteilung. Dort war keineswegs „die Entscheidungsbedürftigkeit der Anwendung des Vier-Augen-Prinzips durch den EuGH bekräftigt“ worden. Vielmehr war im Rahmen eines Kammerbeschlusses lediglich festgestellt worden, dass sich der Bayerische VGH in einem Urteil vom 9. April 2009 unter Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 3 Abs. 1 GG nicht hinreichend mit der Vorlage gemäß Art. 267 AEUV an den EuGH zur Frage auseinandergesetzt habe, ob Art. 9 Abs. 1 RiL 64/221/EG bei Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger weitergelte.

Schließlich verfängt auch das Vorbringen des Antragstellers nicht, bei einer Prüfung der Vorlagepflicht an den EuGH im Rahmen des vorliegenden vorläufigen Rechtsschutzverfahrens käme es zu einer unangemessenen Verlagerung klärungsbedürftiger Fragen bzw. dann wäre das Hauptsacheverfahren seiner Funktion beraubt. Dieser Einwand verkennt bereits, dass die Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Hauptsache im Rahmen einer Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO allgemein anerkannt ist. Eine „unangemessene Verlagerung“ klärungsbedürftiger Fragen ist hierin grundsätzlich nicht zu sehen, zumal verbleibenden Richtigkeitszweifeln bei der durchzuführenden Interessenabwägung Rechnung zu tragen ist. Dass der Senat hier jedenfalls auf Grundlage des nunmehr vorliegenden Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juli 2012 (BVerwG 1 C 19.11) keinen Raum mehr für ernstliche Zweifel daran sieht, dass Art. 9 Abs. 1 RiL 64/221/EG auch für türkische Staatsangehörige nicht mehr weitergilt und dass es angesichts der vom BVerwG für seine Auffassung angeführten einschlägigen Rechtsprechung des EuGH - mit der der Antragsteller sich in seinem Schriftsatz vom 16. Oktober 2012 in keiner Weise auseinandersetzt - voraussichtlich auch keiner erneuten Vorlage dieser Frage bedarf, wurde bereits dargelegt.

Liegt somit ein Abänderungsgrund im Sinne des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO vor, bedarf es einer „erneuten Entscheidung in der Sache“ (Schoch in: Schoch u.a., a.a.O., § 80 Rz. 584), d.h. zunächst über den Hauptantrag des Antragstellers,

die aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 26. Februar 2008 anzuordnen, soweit darin die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht worden ist.

Dieser Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zwar zulässig, jedoch unbegründet. Bei der vorliegend nur gebotenen summarischen Prüfung dürfte die Klage - maßgeblich hierbei sind die Erfolgsaussichten der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil vom 24. Januar 2012 - voraussichtlich keinen Erfolg haben.

Ein Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis würde voraussetzen, dass die durch den angegriffenen Bescheid ebenfalls verfügte Ausweisung des Antragstellers, die unabhängig von der fehlenden Anordnung sofortiger Vollziehung Sperrwirkung für die Erteilung einer weiteren Aufenthaltserlaubnis (vgl. §§ 11 Abs. 1 Satz 2 und 84 Abs. 2 AufenthG; Armbruster, HTK-AuslR/§ 11 AufenthG zu Abs. 1 Satz 2 Nr. 2.1 m.w.N.) entfaltet, sich im Rahmen der gebotenen Inzidentprüfung als voraussichtlich rechtswidrig erweist. Das ist vorliegend allerdings nicht der Fall.

Soweit sich der Antragsteller auf das Vorliegen eines unheilbaren Verfahrensfehlers wegen eines Verstoßes gegen das Vier-Augen-Prinzip und die Notwendigkeit der Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH gemäß Art. 267 AEUV insoweit beruft, ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen. Danach ist dieses Prinzip auf Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die nach Aufhebung der Richtlinie zum 30. April 2006 erlassen wurden - vorliegend datiert der Bescheid vom 26. Februar 2008 -, nicht anzuwenden und bedarf es deshalb auch nicht der Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH.

Darüber hinaus macht der Antragsteller geltend, die Ausweisung begegne auch materiell-rechtlichen Bedenken. Dem ist nicht zu folgen.

Insoweit führt er zunächst aus, das verwaltungsgerichtliche Urteil lege einen unzureichend erforschten und unzutreffenden Tatbestand zugrunde. Denn es laste ihm auch strafrechtliche Verfehlungen bis Februar 2003 an, d.h. für die Zeit seiner Strafunmündigkeit, ohne zu prüfen, ob der spezifische Tatvorwurf gerade auf sein Verhalten zurückzuführen sei. Hiermit werde ein verzerrtes Bild seiner Kindheit gezeichnet, auch bleibe unberücksichtigt, dass statistisch nur der geringste Teil strafrechtlicher Ermittlungsverfahren mit einer Verurteilung ende.

Die Annahme, das Urteil laste ihm strafrechtliche Verfehlungen aus der Zeit seiner Strafunmündigkeit an und gehe deshalb von einem unrichtigen Sachverhalt aus, ist unzutreffend. Die Entscheidungsgründe des Urteils begründen - beginnend ab Seite 8 Absatz 3 und endend auf Seite 11 mit Absatz 1 des Urteilsabdrucks (UA) - die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung vielmehr ausschließlich und umfassend mit der Entwicklung, die er „seit seiner Kindheit“ habe und führt dann diesbezüglich aus, „schon mit Urteil vom 5. August 2003“ seien schädliche Neigungen festgestellt worden. Im Anschluss hieran wird auch lediglich seine zeitlich spätere persönliche, insbesondere strafrechtliche Entwicklung einschließlich diverser negativer Sozial- und Legalprognosen der Jugendstrafanstalt Berlin herangezogen. Dass im Tatbestand des Urteils auch die zahlreichen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren aus der Zeit vor Erreichen der Strafmündigkeit - allerdings unter deutlicher Kenntlichmachung dieser Zäsur - genannt werden, ist nicht entscheidungstragend und deshalb unerheblich.

Nichts Anderes gilt für die Annahme des Antragstellers, das Verwaltungsgericht irre sich betreffend die Entscheidungen vom 3. Juni 2010 und 10. Januar 2011, da es sich dabei nicht um Urteile im Sinne des § 260 StPO handele, sondern um Beschlüsse zur Durchsetzung von mit Urteil vom 3. Dezember 2009 erlassenen Weisungen. Denn die Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils gehen keineswegs von einer entsprechenden strafgerichtlichen Verurteilung insoweit aus. Im Übrigen gibt auch der Tatbestand für eine entsprechende Fehlannahme des Verwaltungsgerichts nichts her. Denn für diese Daten wird auf Seite 3 des Urteilsabdrucks (unten), wenn auch - systematisch unzutreffend zugeordnet - in der Rubrik für rechtskräftige (strafgerichtliche) Verurteilungen, jeweils die Verhängung von Beugearrest wegen schuldhafter Nichterfüllung einer Weisung aus dem vorgenannten Urteil vom „10.07.2009/03.12.2009“ zitiert.

Der Antragsteller macht ferner geltend, dem Verwaltungsgericht könne bei der Bewertung seiner Straftaten in ihrer Aussagekraft für sein künftiges Legalverhalten nicht gefolgt werden. Denn er sei seit seiner Haftentlassung Ende Dezember 2007 mit Ausnahme der Verurteilung vom 3. Dezember 2009 wegen Beleidigung zur Ableistung von 30 Stunden Freizeitarbeiten nicht mehr rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt worden. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts könne auch nicht auf das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 14. Juli 2011 abgestellt werden. Zwar habe er die ihm dort vorgeworfenen Beleidigungen eingeräumt, ansonsten aber gerade hinsichtlich der angenommenen Bedrohung, die das Strafmaß wesentlich bestimme, Berufung eingelegt. Im Übrigen handele es sich bei den ihm seither angelasteten Delikten um in ihrer Bedeutung und dem Unrechtsgehalt nicht den früher begangenen Straftaten (Raub, räuberische Erpressung und gefährliche Körperverletzung) vergleichbare Taten. Sie rechtfertigten die Annahme einer hinreichend schweren Gefährdung, die Grundinteressen der Gesellschaft berühre, nicht. Auch sei seine Reifung zum Erwachsenen möglicherweise noch nicht abgeschlossen und das Urteil insoweit zum Teil in sich widersprüchlich. Schließlich sei ferner die Bezeichnung bzw. Einstufung als „Intensivtäter“ durch den Antragsgegner unzutreffend.

Auch dieses Vorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung. Das angegriffene Urteil legt überzeugend dar, dass sich die für sein langjähriges delinquentes Verhalten bereits seit seiner Kindeszeit ursächlichen Persönlichkeitsdefizite verfestigt haben und seine Toleranzschwelle weiterhin derart niedrig liege, dass es fast zwangsläufig zu Konflikten komme und ein dauerhafter Verhaltenswandel nicht feststellbar sei. So sei er trotz drohender Ausweisung und Abschiebung insbesondere in jüngster Zeit in alte Verhaltensmuster zurückgefallen. Das belegten die zwischenzeitlichen strafgerichtlichen Verurteilungen, auch soweit sie noch nicht rechtskräftig geworden seien, bzw. die vorliegende Anklageschrift. Dass diese Straftaten in ihrer kriminellen Intensität nicht den früheren, bis in das Jahr 2006 begangenen vergleichbar seien, stehe der Annahme einer weiterhin bestehenden konkreten Gefahr weiterer schwerer Delikte vor dem geschilderten Hintergrund und auch seiner fehlenden Zukunftsperspektiven nicht entgegen. Dem ist auch angesichts der aus diesen Straftaten jedenfalls ersichtlichen hohen Aggressionsbereitschaft bzw. anlasslosen Aggressivität des Antragstellers, die Gewalttaten auch nur bei geringstem Anlass befürchten lässt, zuzustimmen. Dass die Persönlichkeitsentwicklung des Antragstellers möglicherweise noch nicht abgeschlossen ist, begründet keine Zweifel an der genannten, gerade auch auf das Fehlen von Anhaltspunkten für eine Aufarbeitung der Persönlichkeitsdefizite in der Zeit nach der Haftentlassung gestützten Feststellung des Verwaltungsgerichts.

Ob der Antragsgegner den Antragsteller im Hinblick auf die begangenen Straftaten zu Recht als „Intensivtäter“ bezeichnet oder einstuft, ist unerheblich. Maßgeblich ist vielmehr, ob diese Delikte und seine Persönlichkeit die dargelegte (Gefährlichkeits-)Prognose zu belegen geeignet sind. Im Übrigen verwendet das verwaltungsgerichtliche Urteil eine derartige Begrifflichkeit auch nicht.

Den behaupteten Widerspruch in der Argumentation des verwaltungsgerichtlichen Urteils vermag der Senat schon nicht nachzuvollziehen. Zum einen wird dort die Sozial- und Legalprognose der Jugendstrafanstalt Berlin vom 28. März 2007 und eine attestierte Nachreifung keineswegs „zustimmend referiert“. Vielmehr wird lediglich aus der dortigen Prognose zitiert, die nur dahingeht, es sei „im Vergleich zur ersten Inhaftierung eine gewisse Nachreifung feststellbar“, „eine positive Prognose … sei aber nicht feststellbar“. Zum anderen werden im Urteil auch Zweifel an der Fähigkeit des Antragstellers zur Erbringung von Pflegeleistungen für seinen Vater angemeldet und auf insoweit unterbliebene Darlegungen verwiesen. Denn solche Fähigkeiten könne er im Elternhaus kaum erworben haben, selbst im Rahmen seiner Unterbringung im Jugendaufbauwerk im Jahre 2003 habe er „im Bereich der Selbstbedienung … mit viel Geduld an sämtliche Details herangeführt werden“ müssen. Widersprüchliche Feststellungen ergeben sich auch hieraus nicht, zumal vom Gericht darüber hinaus die „erforderlichen sozialen Kompetenzen“ des Antragstellers in Zweifel gezogen werden.

Soweit der Antragsteller schließlich geltend macht, das Verwaltungsgericht habe die wiederholte Verwendung des Begriffs „Heimatland“ im Bescheid des Antragsgegners nicht einfach damit abtun dürfen, damit sei offensichtlich das Land seiner Staatsangehörigkeit gemeint gewesen, auch werde im Urteil selbst dann noch fälschlich von „Rückkehr“ gesprochen, begründet das ebenfalls keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Antragstellers. Zwar dürfte die Bezeichnung „Heimatland“ für den hier geborenen und aufgewachsenen Antragsteller unzutreffend und auch der Begriff „Rückkehr“ in diesem Zusammenhang verfehlt sein. Erheblich wäre eine derartige Fehlbezeichnung jedoch lediglich dann, wenn der Antragsgegner im Rahmen der vorliegenden „Ermessensausweisung“ bzw. das Urteil im Rahmen seiner Prüfung von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen wäre. Das jedoch wird weder seitens des Antragstellers dargelegt noch ist es objektiv der Fall. Vielmehr führt der Bescheid des Antragsgegners, beispielsweise auf S. 8 Absatz 4, zutreffend aus, der Antragsteller habe sich seit seiner Geburt ohne Unterbrechung in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten. Auch die dortige detaillierte Schilderung seines Lebenslaufes nach seiner Geburt in Berlin als Kind eines türkischen Arbeitnehmers (Seite 2 vorletzter Absatz des Bescheids) gerade auch im Zusammenhang mit seiner bereits in frühen Jahren beginnenden „kriminellen Karriere“ (S. 3 ff.) lässt erkennen, dass der Antragsgegner insoweit nicht von einem falschen Sachverhalt ausgeht. Schließlich hat dieser auch in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich festgestellt, dass der Antragsteller „hier geboren und aufgewachsen“ ist. Auch das verwaltungsgerichtliche Urteil geht insoweit nicht von einem falschen Sachverhalt aus. Dort wird zunächst u.a. auf die „umfassende Würdigung der Sach- und Rechtslage“ im Bescheid Bezug genommen und im Zusammenhang mit den (beanstandeten) Ausführungen zur Auslegung der Bezeichnung „Heimatland“ auf Seite 11 UA (Absatz 2) ausgeführt, „die Ausländerbehörde habe die Vita des Antragstellers zutreffend ermittelt und seine Verwurzelung in die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland bei ihrer Entscheidung hinreichend berücksichtigt“. Auch sonst ist nicht dargelegt bzw. spricht nichts dafür, dass das Verwaltungsgericht insoweit von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist.

Rechtliche Bedenken hinsichtlich der Ausweisung werden auch nicht durch das Vorbringen des Antragstellers begründet, es sei falsch, wenn die Ausländerbehörde noch in der mündlichen Verhandlung einfach unterstellt habe, er sei mit der türkischen Kultur vertraut und beherrsche die türkische Sprache. Vielmehr sei zwischen dem aktiven und passiven sowie mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch zu unterscheiden. Insoweit differenziere der Antragsgegner nicht, er pauschaliere vielmehr, ohne seine Beurteilungsgrundlagen aufzuzeigen und Nachweise anzuführen. Schon im früheren Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes VG 21 A 73.08 habe er vorgetragen, er spreche türkisch nur „bruchstückhaft“, im mündlichen und passiven Sprachgebrauch etwas weniger rudimentär als im aktiven. Schriftstücke könne er nicht im Zusammenhang lesen, sie blieben ihm unverständlich. Unter diesen Umständen könne es auch mit einer Einbindung in die türkische Kultur nicht sehr weit her sein.

Dem ist schon entgegenzuhalten, dass der Antragsteller dem Vorbringen des Antragsgegners in der mündlichen Verhandlung, er gehe davon aus, dieser sei mit der türkischen Kultur vertraut und beherrsche auch die türkische Sprache, ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung nicht entgegengetreten ist. Darüber hinaus räumt der Antragsteller aber auch selbst ein, zumindest in sehr begrenztem Umfang mit der türkischen Sprache vertraut zu sein. Soweit er daran anknüpfend meint, dass es mit der Einbindung in die türkische Kultur es nicht sehr weit her sein könne, stellt er im Übrigen ersichtlich eher eine Mutmaßung bzw. jedenfalls keine zwingende Schlussfolgerung an. Die Richtigkeit dieses Vorbringens unterstellt, würde das allein aber auch keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung begründen können, zumal der Antragsgegner in der mündlichen Verhandlung „Unterstützung“ bei der Übersiedlung, wie etwa von der IOM, angeboten hat. Dabei handelt es sich um ein Projekt, das u.a. Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr in ein Heimatland im Rahmen des seit 1979 im Auftrag von Bund und Ländern geförderten REAG/GARP-Programms bietet, wobei eine Anlaufstelle der IOM seit Ende 2006 unmittelbar beim Antragsgegner eingerichtet ist (www.iom.int/germany.de/projects_avr. htm).

Soweit der Antragsteller weiterhin geltend macht, ihm stehe aufgrund eines beim Antragsgegner am 22. März 2008 gestellten Antrags zumindest hilfsweise ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu, ist ein solches Begehren im Rahmen der Begründung seines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis und die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Antragsgegners vom 26. Februar 2008 bereits unzulässig. Auch müsste er ein solches Begehren mittels eines Antrags nach § 123 VwGO verfolgen.

2. Der hilfsweise weiterhin gestellte Antrag des Antragstellers,

den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, seinen Aufenthalt vorläufig zu dulden,

hat gemäß § 123 VwGO keinen Erfolg.

Denn für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses im Sinne des § 60a Abs. 2 Alt. 2 AufenthG, wie vom Antragsteller mit Schriftsatz vom 22. März 2008 unter Berufung auf Art. 8 EMRK geltend gemacht, ist nichts ersichtlich. Angesichts der vom Antragsteller ausgehenden Gefahren greift die Entscheidung des Antragsgegners keineswegs unverhältnismäßig in seinen Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein, wie im Urteil des Verwaltungsgerichts zutreffend festgestellt worden ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 und 2 und § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 VwGO).