Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 02.12.2015 | |
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Aktenzeichen | L 13 VU 21/14 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 45 BVG |
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. April 2014 aufgehoben.
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 8. Juli 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2013 verurteilt, dem Kläger mit Wirkung vom 15. November 2001 Halbwaisenrente nach seinem am 4. September 1971 verstorbenen Vater zu gewähren.
Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des Verfahrens in vollem Umfange zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Waisenrente.
Der im Jahre 1957 geborene Kläger ist erwerbsunfähig und als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 100 anerkannt.
Der Vater des Klägers war in der Zeit vom 30. Oktober 1961 bis zum 2. März 1962 unrechtmäßig in der DDR inhaftiert und verstarb an den Folgen der Haft am 4. September 1971. Am 8. Mai 2001 erfolgte seine strafrechtliche Rehabilitation.
Der Kläger bezog etwa ab Vollendung des 18. Lebensjahres eine Invalidenrente in der ehemaligen DDR. Zwischen den Beteiligten ist streitig, in welchem Umfang der Kläger zu einem späteren Zeitpunkt Erwerbseinkommen erzielt hat. In der Zeit vom 15. März bis zum 2. Oktober 1990 gehörte er als gewählter Abgeordneter der Volkskammer der DDR an. Mit Bescheid vom 24. August 1999 stellte die damalige Bundesversicherungsanstalt für Angestellte mit Wirkung vom 1. Oktober 1999 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit des Klägers neu fest. Der Zahlbetrag der Rente bezog sich umgerechnet monatlich auf 707,73 Euro. Die Ehefrau des Klägers bezog ebenfalls eine Erwerbsunfähigkeitsrente in ähnlicher Höhe.
Am 15. November 2001 beantragten der Kläger und seine Mutter bei dem Beklagten die Gewährung von Versorgungsleistungen. Mit Bescheid vom 23. März 2009 und Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 2009 lehnte der Beklagte den Antrag der Mutter des Klägers mit der damaligen Begründung ab, der Vater des Klägers sei nicht an den Folgen der unrechtmäßigen Inhaftierung gestorben. Im anschließenden Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Berlin zum Aktenzeichen S 40 VU 62/12 WA gab der Beklagte schließlich ein Anerkenntnis dem Grunde nach dahingehend ab, dass der Tod des Vaters des Klägers aufgrund der Haftfolgen erfolgt sei.
Mit Bescheid vom 8. Juli 2013 lehnte der Beklagte gleichwohl die Gewährung der Waisenrente gegenüber dem Kläger mit der Begründung ab, der Kläger habe sich bei Vollendung des 27. Lebensjahres am 27. Oktober 1984 selbst unterhalten können. Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2013, dem Kläger zugestellt am 10. Januar 2014, hat der Beklagte den Widerspruch zurückgewiesen. Mit Urteil vom 8. April 2014 hat im anschließenden Rechtsstreit das Sozialgericht die Klage abgewiesen mit der Begründung, der Kläger habe sich jedenfalls im maßgeblichen Zeitraum selbst unterhalten können.
Mit seiner Berufung zum Landessozialgericht verfolgte der Kläger sein Ziel weiter. Er macht geltend, er habe sich erst Ende der 80er Jahre selbst unterhalten können, indem er zusätzlich zu einer Invalidenrente einen Hinzuverdienst erzielt habe. Im Jahre 1984 seien weder er noch seine Ehefrau zu seinem entsprechenden Zuverdienst in der Lage gewesen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. April 2014 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 8. Juli 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2013 zu verurteilen, dem Kläger mit Wirkung vom 15. November 2001 Halbwaisenrente nach seinem am 4. September 1971 verstorbenen Vater zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung waren.
Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie hat in der Sache auch Erfolg. Die angefochtenen Entscheidungen waren aufzuheben und der Beklagte war zu verpflichten, dem Kläger ab Antragstellung am 15. November 2001 Halbwaisenrente nach seinem verstorbenen Vater zu gewähren.
Rechtsgrundlage ist § 45 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in der Fassung vom 16. Februar 2001, die in der Zeit vom 1. August 2001 bis zum 30. April 2002 in Kraft war und damit auch zum Zeitpunkt der Antragstellung des Klägers galt.
Nach § 45 Abs. 3 Satz 1c BVG in der vorgenannten Fassung ist nach Vollendung des 18. Lebensjahres die Waisenrente für eine Waise zu gewähren, die in Folge körperlicher oder geistiger Gebrechen spätestens bei Vollendung des 27. Lebensjahres außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten, solange dieser Zustand dauert, über die Vollendung des 27. Lebensjahres hinaus jedoch nur, wenn ihr Ehegatte oder Lebenspartner außer Stande ist, sie zu unterhalten. Für Fälle wie dem vorliegenden, in denen die Waise bei Vollendung des 27. Lebensjahres körperlich oder geistig gebrechlich war, nach diesem Zeitpunkt jedoch eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, ist nach § 45 Abs. 3 Satz 3 BVG in der vorgenannten Fassung die Waisenrente erneut zu gewähren, wenn und solange die Waise wegen desselben körperlichen oder geistigen Gebrechens erneut außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten.
All diese Voraussetzungen liegen miteinander verbunden vor und führen dazu, dass dem Kläger ab dem Zeitpunkt der Antragstellung im November 2001 Halbwaisenrente (wieder) zusteht. In diesem Zusammenhang weist der Senat im Übrigen darauf hin, dass es auf den vom Sozialgericht in Bezug genommenen, dazwischen liegenden Zeitraum Ende der 80er Jahre nicht ankommt, weil der Kläger für diesen Zeitpunkt gerade keine Leistung begehrt und die vorgenannten Zeitpunktregelungen diesen Zeitraum im vorliegenden Fall auch nicht erfassen.
Maßgeblich ist nach den vorgenannten Kriterien zunächst, dass der Kläger spätestens bei Vollendung seines 27. Lebensjahres am 27. Oktober 1984 außer Stande war, sich selbst zu unterhalten. Dabei umschreibt das BVG zunächst nicht, was mit dem Merkmal, außer Stande zu sein, sich selbst zu unterhalten, gemeint ist. Eine Erläuterung findet sich allerdings in den Verwaltungsvorschriften zum BVG (VVBVG), und zwar durch eine Bezugnahme in Nr. 14 zu § 33b. Hiernach ist ein Kind dann außer Stande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen angemessenen Lebensunterhalt nicht
- durch Einkünfte aus seinem Vermögen,
- durch Einkünfte aus einer gegenwärtigen oder früheren Erwerbstätigkeit oder
- nach Vollendung des 27. Lebensjahres durch Unterhaltsleistungen seines Ehegatten oder früheren Ehegatten
bestreiten kann.
Diese Voraussetzungen lagen beim Kläger zum Zeitpunkt der Vollendung des 27. Lebensjahres am 27. Oktober 1984 zweifelsfrei vor. Er hatte zu dieser Zeit keine Einkünfte aus Vermögen, zumal er auch keinen Vermögensstamm besaß. Er erzielte zu diesem Zeitpunkt auch noch keine Einkünfte aus einer gegenwärtigen oder früheren Erwerbstätigkeit, denn zu diesem Zeitpunkt lebte der Kläger ausschließlich von dem Bezug einer Invalidenrente, die er bereits seit dem 18. Lebensjahr erhielt. Es ist zwar zutreffend, dass der Kläger etwa ab dem Jahr 1988 im Stande war, sich über die bezogene Invalidenrente hinaus durch eigene Erwerbstätigkeit ein Einkommen zu sichern, dies galt jedoch zweifelsfrei nicht am 27. Oktober 1984. Zu diesem Zeitpunkt konnte der Kläger auch nicht auf Unterhaltsleistungen seiner Ehefrau zurückgreifen, denn auch die Ehefrau des Klägers erzielte im Jahr 1984 – anders als zu späteren Zeitpunkten ebenfalls ab etwa 1988 – noch kein eigenes Einkommen.
Ebenso sind auch die Wiedergewährungsvoraussetzungen nach § 45 Abs. 3 Satz 3 BVG in der vorgenannten Fassung erfüllt, denn der Kläger, der zwischenzeitlich Ende der 80er und möglicherweise auch Anfang der 90er Jahre eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, aufgrund derer er sich selbst unterhalten konnte, war jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Antragstellung im November 2001 wegen derselben körperlichen Gebrechen erneut außer Stande, sich selbst zu unterhalten. Auch hier wieder sind zunächst die Kriterien der VVBVG, Nr. 14 zu § 33b, heranzuziehen, einschließlich der Ausformung, die sie durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts erhalten haben. So verfügte der Kläger zunächst auch zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht über Einkünfte aus Vermögen, also etwa in Gestalt von Zinseinkünften oder Dividenden. Allerdings hat das Bundessozialgericht mit Urteil vom 12. Juni 2001, B 9 V 4/01 R, zitiert nach juris entschieden, dass eine vermögende Waise sich – jedenfalls nach Vollendung des 27. Lebensjahres – selbst unterhalten kann, auch wenn sie dazu den Stamm ihres Vermögens angreifen muss. Dabei hat das Bundessozialgericht im Einzelnen offen gelassen, ob dabei gegebenenfalls Kriterien eines Schonvermögens zu berücksichtigen wären und ob weitere Besonderheiten bei kleinen Vermögensstämmen bestehen, weil in dem dort entschiedenen Fall, in dem es um ein sehr großes ererbtes Vermögen ging, diese Fragen nicht aufgeworfen wurden.
Auch vorliegend kann indessen die Frage eines möglichen Schonvermögens offen bleiben, denn der Kläger verfügte bei Antragstellung im Jahr 2001 nicht nachweislich über einen berücksichtigungsfähigen Vermögensstamm. Sein einziges feststellbares Vermögen zu diesem Zeitpunkt beschränkt sich auf das Eigentum an einem Hausgrundstück in Schweden. Es handelt sich dabei um ein in dörflicher oder kleinstädtischer Umgebung angesiedeltes Grundstück von 1.200 m² Fläche, auf dem sich ein Ferienhaus mit etwa 50 m² Wohnfläche befindet. Der Kläger hatte dieses Hausgrundstück mit dem Ferienhaus in baufälligem Zustand im Jahr 1992 für etwa 18.000,00 DM erworben und mit später mit eigenen Mitteln modernisiert. Jedoch war ein Anbau einer längeren Zufahrt von dem Grundstück zur mehrere Hundert Meter entfernt gelegenen nächsten asphaltierten Fahrstraße erforderlich, um den behindertenrechtlichen Kriterien, die in Schweden galten, Rechnung zu tragen. Hierzu war der Kläger durch schwedische Verwaltungsentscheidung, bestätigt durch schwedische Gerichtsentscheidung, verpflichtet worden, gleichzeitig mit der Auflage, dass im Falle der Veräußerung des Grundstückes die Kosten für die behindertengerechte Erschließung des Grundstücks, die zunächst der schwedische Staat übernommen hatte, durch den Kläger an den schwedischen Staat zu erstatten wären.
Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht feststellen, dass das Grundstück des Klägers im Jahr 2001 einen überhaupt feststellbaren, rechtlich konkretisierbaren und berücksichtigungsfähigen Wert im Sinne eines Vermögensstammes besessen hat.
Darüber hinaus verfügte der Kläger bei Antragstellung im Jahr 2001 auch nicht über eigenes Einkommen, weil er keiner Erwerbstätigkeit nachgehen konnte und auch keiner Erwerbstätigkeit nachging, und ebenfalls auch nicht über Unterhaltsansprüche gegen seine Ehefrau, weil diese – ebenso wie der Kläger – nur über eine Erwerbsunfähigkeitsrente deutlich unterhalb von 800,00 Euro monatlich verfügte.
Ein Ausschluss des Anspruchs des Klägers auf Halbwaisenrente ergibt sich auch nicht nach den Kriterien, die das Bundessozialgericht mit Urteil vom 11. Oktober 1994, Aktenzeichen 9 RV 35/93, zitiert nach juris, aufgestellt hat. Nach dieser Rechtsprechung fällt der Anspruch gebrechlicher und zum Selbstunterhalt unfähiger Waisen mit dauerhafter Eingliederung in das Erwerbsleben endgültig weg. Dies betrifft Waisen, die nach Erlangung der Erwerbsfähigkeit über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg erwerbstätig sind und dabei Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichten. Im konkreten Fall hat das Bundessozialgericht offen gelassen, wie lang der Zeitraum der Beitragsentrichtung in Folge Erwerbstätigkeit sein muss. Im zu entscheidenden Fall betrug der Zeitraum eine Dauer von etwa 20 Jahren, angedeutet hat das Bundessozialgericht, dass eine Untergrenze jedenfalls dann erreicht sein könnte, wenn die fünfjährige allgemeine Wartezeit nicht erreicht ist (vgl. Bundessozialgericht, aaO, juris, Randnummer 16).
Nach diesen Kriterien ergibt sich vorliegend für den Kläger kein Anspruchsausschluss. Er hat zwar einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erworben, nicht jedoch auf der Grundlage einer langjährigen Erwerbstätigkeit. Vielmehr sind im Versicherungsverlauf des Klägers nur drei Jahre Beitragszeit (und dies vor Vollendung des 18. Lebensjahres) und 34 Jahre Zurechnungszeit wegen des Bezuges der Invalidenrente bzw. des Fortbestehens der Invalidität oder Erwerbsunfähigkeit in Ansatz gebracht worden. Der Kläger hat nach Vollendung des 18. Lebensjahres überhaupt keine Beiträge durch Erwerbstätigkeit geleistet, durch die ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hätte entstehen können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.