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Halbwaisenrente; Europäischer Freiwilligendienst


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 8. Senat Entscheidungsdatum 16.09.2010
Aktenzeichen L 8 R 1376/07 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 48 Abs 4 S 1 Nr 2 SGB 6, EGBes 1031/2000

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 12. September 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch auf Halbwaisenrente aus Anlass der Teilnahme der Klägerin am Europäischen Freiwilligendienst gemäß dem Beschluss Nr. 1031/2000/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2000 zur Einführung des gemeinschaftlichen Aktionsprogramms "Jugend" (EFD).

Die Klägerin ist im Februar 1986 geboren. Aus der Versicherung ihres am 17. April 1996 verstorbenen Vaters bewilligte die Beklagte ihr ab dem Todestag Halbwaisenrente, zuletzt befristet bis zum 31. Juli 2005 (Ende der Schulausbildung; Bescheid vom 23. September 2004).

Im Rahmen des Verfahrens zur „Nachprüfung der weiteren Waisenrentenberechtigung“ teilte die Klägerin mit, ab 1. Oktober 2005 über die Entsendeorganisation Hessisches Diakoniezentrum H e.V. und die Aufnahmeorganisation X (Spanien) für voraussichtlich neun Monate am EFD teilzunehmen und bat um Mitteilung, ob der Anspruch auf Halbweisenrente in dieser Zeit weiter bestehe.

Durch Bescheid vom 7. Juli 2005 lehnte die Beklagte die weitere Gewährung von Halbwaisenrente ab. Die Teilnahme am EFD werde im Gesetz nicht als Tatbestand genannt, der einen Rentenanspruch nach Vollendung des 18. Lebensjahres begründen könne.

Mit ihrem Widerspruch hat die Klägerin geltend gemacht, dass der EFD voll und ganz den gesetzlichen Kriterien des deutschen Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) entspreche. Er müsse deshalb auch so wie dieses behandelt werden und einen Anspruch auf Halbwaisenrente begründen.

Durch Widerspruchsbescheid vom 24. November 2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der EFD stelle kein FSJ im Sinne des Gesetzes dar. Aus dem Umstand, dass nach Einkommensteuerrecht während des EFD ein Anspruch auf Kindergeld bestehe, lasse sich nichts anderes ableiten. Im übrigen werde der EFD auch nicht von der Entsendeorganisation finanziert, sondern von der Europäischen Union.

Mit der Klage hat die Klägerin den Anspruch weiterverfolgt. Die Auffassung der Beklagten widerspreche der Intention des Gesetzgebers, bei fortgesetzter Ausbildung auch eine Hinterbliebenenrente weiterzuzahlen. Die entsendende Organisation habe ihren Sitz in Deutschland und sei Einsatzstelle eines zugelassenen Trägers für das FSJ, nämlich der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Sie hat eine Kopie des Fördervertrages DE-21-507-2005-R2, abgeschlossen zwischen der Deutschen Agentur für das EU-Aktionsprogramm JUGEND und dem Hessischen Diakoniezentrum H e.V. vom 13. Juni 2005 und des Anhangs V hierzu vom 27. Juni 2005 eingereicht.

Auf Anfrage des Sozialgerichts hat das Hessische Diakoniezentrum H e.V. einen EFD der Klägerin vom 15. Oktober 2005 bis zum 15. April 2006 bestätigt (Schreiben vom 9. November 2007). Ferner hat das Sozialgericht eine Auskunft der deutschen Agentur für das EU-Aktionsprogramm JUGEND eingeholt, die mit Datum des 6. Februar 2007 abgegeben wurde. Daran anschließend hat das Hessische Diakoniezentrum H e.V. mit Datum des 10. Mai 2007 eine weitere Auskunft abgegeben.

Durch Gerichtsbescheid vom 12. September 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Halbwaisenrente über Juli 2005 hinaus bis zum 30. April 2006. Der EFD erfülle nicht die Voraussetzungen eines FSJ im Sinne des deutschen Gesetzes über die Förderung eines FSJ. Im besonderen fehle es an der für das FSJ zwingend vorgeschriebenen pädagogischen Begleitung vor, während und nach dem Dienst, die bei einem zwölfmonatigen Dienst im Ausland mindestens fünf Wochen umfassen müsse. Die von der Klägerin nach Angaben der Entsendeorganisation durchlaufenen „vielen Vorbereitungsgespräche“ und das vom 19. bis 22. September 2005 durchgeführte Ausreiseseminar reichten nicht aus.

Mit ihrer Berufung hat die Klägerin weiter geltend gemacht, dass die Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch erfüllt seien. Sie habe eine für die Dauer ihres EFD ausreichend lange pädagogische Begleitung erhalten. Jedenfalls aber stelle der EFD einen Spezialfall des FSJ dar. Der Gesetzgeber habe den EFD ausdrücklich fördern und nicht einschränken oder behindern wollen.

Dem Vortrag der Klägerin ist der Sache nach der Antrag zu entnehmen,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 12. September 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. November 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr vom 1. August 2005 bis zum 30. April 2006 Halbwaisenrente aus der Versicherung des E L zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung und ihre Bescheide für zutreffend.

Die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten lagen dem Senat bei seiner Entscheidung vor. Wegen Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt dieser Aktenstücke Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung über die Berufung entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Die Berufung ist unbegründet.

Die Klägerin hat nicht aufgrund ihrer Teilnahme am EFD vom 15. Oktober 2005 bis 15. April 2006 einen Anspruch auf Gewährung einer Halbwaisenrente. Da sie bereits 2004 das 18. Lebensjahr vollendet hatte, kommt ein Anspruch nur unter den Voraussetzungen des § 48 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz vom 21. Juli 2004, BGBl. I 1791; im folgenden ohne Zusatz zitiert) in Betracht. Danach besteht der Anspruch längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres, wenn die Waise (a) sich in Schulausbildung oder Berufsausbildung befindet oder (b) sich in einer Übergangszeit von höchstens vier Kalendermonaten befindet, die zwischen zwei Ausbildungsabschnitten oder zwischen einem Ausbildungsabschnitt und der Ableistung des gesetzlichen Wehr- oder Zivildienstes oder der Ableistung eines freiwilligen Dienstes im Sinne des Buchstabens c liegt, oder (c) ein freiwilliges soziales Jahr im Sinne des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres oder ein freiwilliges ökologisches Jahr im Sinne des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen ökologischen Jahres leistet oder (d) wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.

Die Klägerin erfüllt während ihres EFD vom 15. Oktober 2005 bis zum 15. April 2006 keinen der insoweit nur in Betracht kommenden Tatbestände des § 48 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a) oder c) SGB VI. Als Folge davon liegt in der Zwischenzeit nach dem Ende der (anspruchsbegründenden) Schulausbildung, vom 1. August bis zum 14. Oktober 2005, auch nicht der Tatbestand des § 48 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe b) SGB VI) vor.

Beim EFD handelt es sich nicht um eine Schul- oder Berufsausbildung im Sinne des § 48 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a) SGB VI. Nach den aktenkundigen Unterlagen, im besonderen den Auskünften der Entsendeorganisation der Klägerin und der deutschen Agentur für das EU-Aktionsprogramm JUGEND dient er nicht der Vermittlung allgemeinbildender oder konkret auf ein Berufsbild bezogener Kenntnisse, sondern vorrangig der allgemeinen Persönlichkeitsbildung, der Förderung sozialer Kompetenzen und dem Erbringen von Hilfeleistungen. Dahingestellt bleiben kann deshalb, ob der tatsächliche zeitliche Aufwand der Klägerin für den EFD wöchentlich mehr als 20 Stunden betrug, wie von § 48 Abs. 4 Satz 2 SGB VI außerdem gefordert.

Der EFD stellt auch kein freiwilliges soziales Jahr im Sinne des § 48 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe c) SGB VI dar. Dies scheitert bereits daran, dass der Träger des FSJ auch dann seinen Sitz in der Bundesrepublik Deutschland haben muss, wenn das FSJ selbst im Ausland stattfindet (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 des Gesetzes über das FSJ i. d. F. der Bekanntmachung vom 15. Juli 2002, BGBl. I 2596). Abgesehen davon bezeichnet auch die deutsche Agentur für das EU-Aktionsprogramm JUGEND in ihrer Auskunft für das Sozialgericht vom 6. Februar 2007 den EFD zusammenfassend als „Freiwilligendienst eigener Prägung“ und beschreibt sowohl Übereinstimmungen als auch Abweichungen zum FSJ.

§ 48 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe c) SGB VI kann auch nicht entsprechend auf den EFD angewendet werden (so, auch zum folgenden, bereits LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2006 – L 12 RA 123/04 und LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28. Oktober 2009 – L 2 KN 25/09). Ein Analogieschluss setzte voraus, dass das Gesetz eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte, also planwidrige Regelungslücke enthält (s. dazu etwa BSG SozR 3-2600 § 48 Nr. 7). Dafür ergibt sich jedoch kein Anhaltspunkt. Denn der Gesetzgeber war in Kenntnis des Umstandes tätig geworden, dass neben dem FSJ nach bundesdeutschem Recht vergleichbare Freiwilligendienste nach europäischem Recht angeboten werden: Er hat in der Vorschrift des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe d) Einkommensteuergesetz über die steuerrechtliche Berücksichtigungsfähigkeit volljähriger Kinder freiwillige Dienste aufgrund von Beschlüssen des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates dem freiwilligen sozialen Jahr bzw. dem freiwilligen ökologischen Jahr nach deutschem nationalen Recht ausdrücklich gleichgestellt. Wenn er im Gegensatz dazu die bereits vor dem Beschluss Nr. 1031/2000/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2000 zur Einführung des gemeinschaftlichen Aktionsprogramms "Jugend“ bestehende, dem § 48 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe c) SGB VI entsprechende Regelung im Recht der Hinterbliebenenrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 48 Abs. 4 Nr. 2 Buchstabe a) SGB VI in der bis 31. Juli 2004 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261) nicht ändert, so spricht dies dafür, dass dies bewusst geschehen ist und nicht auf einem Versehen beruht („beredtes Schweigen“, s. dazu etwa BSG SozR 3-2500 § 4 Nr. 1).

Es besteht auch kein Anlass, § 48 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe c) SGB VI „verfassungskonform“ im Sinne des Anliegens der Klägerin auszulegen. Im Besonderen ist der allgemeine Gleichheitssatz nicht dadurch verletzt, dass der Gesetzgeber nur bestimmte Freiwilligendienste als anspruchsbegründende für eine Waisenrente vorsieht. Im Bereich der Hinterbliebenenrenten hat er einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Ausformung der Leistungsvoraussetzungen. Denn sie beruhen weniger auf versicherungsrechtlichen als auf fürsorgerischen Gründen (s. (BSG SozR 3-2600 § 48 Nr. 7, die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 2002 – 1 BvR 1864/02). Es ist deshalb nicht willkürlich und damit nicht gleichheitswidrig, wenn er den Anspruch auf eine Rentenleistung an Volljährige, die sich nicht mehr in einer Schul- oder Berufsausbildung befinden oder aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sind, sich selbst zu unterhalten, nur in eng begrenzten Fällen zulässt. Ebenso wenig ergibt sich ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz daraus, dass die Gewährung eines Waisengeldes gemäß den Vorschriften über die Beamtenversorgung nach Vollendung des 18. Lebensjahres im wesentlichen an Tatbestände des Einkommensteuerrechts anknüpft (§ 61 Abs. 2 Satz 1 Beamtenversorgungsgesetz des Bundes). Denn die Beamtenversorgung folgt eigenständigen Regeln, die ihre Grundlage in der verfassungsrechtlichen Absicherung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums haben (Art. 33 Abs. 5 Grundgesetz). Zu diesen Grundsätzen gehört die Alimentations- und Fürsorgeverpflichtung des Dienstherrn, welche die Versorgung der Familien der Beamtinnen und Beamten nach deren Tod einschließt. Eine mitunter erhöhte Fürsorge für die Waisen von Beamtinnen oder Beamten rechtfertigt sich jedenfalls dadurch, dass diese umgekehrt der Treuepflicht gegenüber dem Dienstherren unterliegen, die in der allgemeinen Sozialversicherung keine Parallele hat (s. BSG und BVerfG a.a.O.; ferner etwa BVerfGE 70, 69 ff.).

Die Versagung des geltend gemachten Anspruchs aufgrund von Vorschriften des nationalen Rechts wirft schließlich auch nicht die Frage der Vereinbarkeit mit Vorschriften des Europarechts auf, so dass kein Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof einzuleiten war (s. dazu BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2010 – 1 BvR 230/09). Aufgrund Art. 5 Nr. (Abs.) 4 des Beschlusses Nr. 1031/2000/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2000 zur Einführung des gemeinschaftlichen Aktionsprogramms "Jugend" bestand zwar ein Handlungsauftrag an die Mitgliedsstaaten, die ihnen notwendig und geeignet erscheinenden Maßnahmen zu ergreifen, um etwaige rechtliche oder administrative Hindernisse für die Teilnahme an dem Programm zu beseitigen. Im Rahmen dieses Handlungsauftrags waren die Mitgliedsstaaten aber nicht gehalten, den EFD rechtlich vollständig etwaigen nationalen freiwilligen Diensten gleichzustellen, deren Ziele denen des EFD (Art. 2 des Beschlusses a.a.O.) gleichen oder sich jedenfalls mit ihnen überschneiden. Wenn die Bundesrepublik Deutschland rechtliche Hindernisse im Wesentlichen im Steuerrecht gesehen und dort beseitigt hat, so liegt dies im Rahmen des jedem Einzelstaat zustehenden Beurteilungsspielraums.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Zwar ist der Beschluss Nr. 1031/2000/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2000 zur Einführung des gemeinschaftlichen Aktionsprogramms "Jugend" als rechtliche Grundlage für den von der Klägerin abgeleisteten EFD ab 1. Januar 2007 durch den Beschluss Nr. 1719/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. November 2006 über die Einführung des Programms Jugend in Aktion im Zeitraum 2007-2013 ersetzt worden. Die im vorliegenden Rechtsstreit entscheidungserhebliche Frage der Auslegung des § 48 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB VI stellt sich jedoch unverändert auch unter dessen Geltung.