Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat | Entscheidungsdatum | 03.05.2019 | |
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Aktenzeichen | 11 N 89.18 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2019:0503.11N89.18.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 36 Abs 2 S 1 AufenthG, § 124 Abs 2 Nr 1 VwGO |
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das im Wege schriftlicher Entscheidung ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. September 2018 wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Mit dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Generalkonsulats der Bundesrepublik Deutschland in Izmir vom 8. Dezember 2016 verpflichtet, der 1933 geborenen Klägerin ein Visum zum Zwecke des Familiennachzugs zu ihren Söhnen zu erteilen. Der gegen dieses Urteil gerichtete Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil dessen Begründung die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) nicht rechtfertigt.
1. Die Beklagte zeigt nicht auf, dass das Verwaltungsgericht bei der Bestimmung der tatbestandlichen Anforderungen des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG einen unzutreffenden Maßstab angelegt hätte. Das Verwaltungsgericht hat seiner Prüfung zutreffend zugrunde gelegt, dass § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG den Nachzug sonstiger Familienangehöriger auf Fälle einer außergewöhnlichen Härte beschränke, das heißt auf seltene Ausnahmefälle, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Schutzes der Familie grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspreche, also schlechthin unvertretbar wäre. Dies setze grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen könne, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen sei und diese Hilfe zumutbar nur in Deutschland erbracht werden könne. Die danach erforderliche spezifische Angewiesenheit auf familiäre Hilfe liege nicht bei jedem Betreuungsbedarf vor, sondern komme nur dann in Betracht, wenn geleistete Nachbarschaftshilfe oder im Herkunftsland angebotener professioneller Beistand den Bedürfnissen des Nachzugswilligen qualitativ nicht gerecht werden könne. Wenn der alters- oder krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person so weit fortgeschritten sei, dass ihr Wunsch auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheine, sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, spreche dies dagegen, sie auf Hilfeleistungen Dritter verweisen zu können. Pflege durch enge Verwandte in einem gewachsenen familiären Vertrauensverhältnis, das geeignet sei, den Verlust der Autonomie als Person infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen in Würde kompensieren zu können, erweise sich auch mit Blick auf die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm als aufenthaltsrechtlich schutzwürdig. Zur Beurteilung, ob eine außergewöhnliche Härte vorliege, sei eine umfassende Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls unter Beachtung des Einflusses von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK auf das deutsche Ausländerrecht erforderlich. Dabei seien sowohl der Grad des Autonomieverlusts des nachzugswilligen Ausländers als auch das Gewicht der familiären Bindungen zu den in Deutschland lebenden Familienangehörigen und deren Bereitschaft und Fähigkeit zur Übernahme der familiären Pflege zu berücksichtigen. Diese auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und des OVG Berlin-Brandenburg gestützte abstrakte Beschreibung der tatbestandlichen Anforderungen des streitigen Familiennachzugsanspruchs gibt keinen Anlass zu Beanstandungen und weicht auch von dem rechtlichen Ausgangspunkt der Beklagten nicht erkennbar ab.
2. Einen entscheidungserheblichen Subsumtionsfehler des Verwaltungsgerichts zeigt die Beklagte ebenfalls nicht auf.
2.1. Ihr Einwand, es sei nicht nachgewiesen, dass die Klägerin, wie vom Verwaltungsgericht angenommen, unter einer weit fortgeschrittenen und weiter fortschreitenden Demenz leide, ist nicht berechtigt. Dass die Klägerin seit mehreren Jahren an einer Demenzerkrankung leidet, die, was dem Krankheitsbild immanent sein dürfte, ständig fortschreitet, wird durch die vom Verwaltungsgericht angeführten, in Ablichtung bei der Streitakte befindlichen Stellungnahmen unterschiedlicher Ärzte in deren Gesamtschau eindrucksvoll belegt. Insbesondere der von der Klägerin eingereichte Bericht des Dr. Metin Siyasal über die Ergebnisse eines am 11. April 2018 bei der Klägerin durchgeführten mentalen Tests ihrer geistigen Fähigkeiten gelangt in auch medizinisch laienhaft nachvollziehbarer Weise zu dem Ergebnis, dass die Klägerin aufgrund extremer Vergesslichkeit ihre täglichen einfachen Handlungen nicht ausüben könne. Die Klägerin könne zwar noch telefonieren, Arzt- bzw. Krankenhausbesuche mit Hilfe Dritter oder mit einem Taxi absolvieren, in Begleitung sehr mühsam einkaufen gehen sowie mit sehr viel Mühe, je nach Tagesform, Wäsche waschen und Essen zubereiten. Sie habe jedoch Orientierungsschwierigkeiten, finde häufig den Weg nach Hause nicht, vergesse, welche Institutionen für die in bar erfolgende Zahlung der Rente und die ebenfalls in bar zu leistende Begleichung der fixen Kosten zuständig seien, vergesse, welche Medikamente sie einnehmen solle und wann, insbesondere in Bezug auf Herztabletten, auch vergesse sie, den Wasserhahn zuzudrehen. Zusätzlich sei sie in ihrer Mobilität eingeschränkt, Treppensteigen sei unmöglich, die Nahrungszubereitung gelinge nicht immer (das Essen brenne öfter an), wobei das Kochen sowie Heizen über eine selbst zu organisierende Gasflasche erfolge. Sie habe große Probleme bei der täglichen Körperpflege, so gut wie keine Sozialkontakte mehr und könne die Hausreinigung nicht mehr durchführen. Auch zeigt der Test, dass die Erkrankung der Klägerin weiter fortgeschritten ist, denn während sie bei einem entsprechenden Test im August 2016 noch 10 Punkte erzielt hatte, erreichte sie bei dem im April 2018 durchgeführten Test nur noch 6 Punkte.
2.2. Ohne Erfolg bleibt auch der Einwand der Beklagten, es werde nicht deutlich, inwiefern die Leiden der Klägerin über das übliche Maß hinausgingen und dementsprechend das Schicksal der Klägerin im Vergleich zu anderen in der Türkei lebenden älteren Personen mit Kindern in Deutschland als außergewöhnlich hart zu bezeichnen sei. Denn die Frage, ob die Klägerin auf eine in Deutschland zu leistende familiäre Lebenshilfe ihrer Kinder angewiesen ist, hängt nicht davon ab, ob die für ihren Autonomieverlust verantwortlich zeichnende Erkrankung bezogen auf ihr Alter selten oder untypisch ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 10/12 –, Rn. 38, juris) ist nicht entsprechend zu differenzieren, sondern vielmehr danach zu fragen, ob der „alters- oder krankheitsbedingte“ Autonomieverlust soweit fortgeschritten ist, dass er die Inanspruchnahme familiärer Lebenshilfe im Inland rechtfertigt.
Im Übrigen ändert dieser Einwand an der vom Verwaltungsgericht eingehend begründeten Betreuungsbedürftigkeit der Klägerin nichts. Das Verwaltungsgericht hat ausführlich dargelegt, aus welchen Gründen der eingetretene Autonomieverlust der Klägerin ihren Wunsch, die Hilfeleistungen ihrer engsten Familienangehörigen in Anspruch zu nehmen, nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar macht (vgl. dazu insbesondere Seite 8 des Entscheidungsabdrucks).
2.3. Die von der Beklagten weiterhin aufgeworfene Frage, wie die Betreuung der Klägerin in der Türkei gegenwärtig geregelt sei, beantwortet sich ebenfalls anhand der Darlegungen des Verwaltungsgerichts, des angeführten ärztlichen Berichts des Dr. S...sowie der Angaben ihres Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung. Das Verwaltungsgericht hat diesbezüglich ausgeführt, dass die Klägerin verwitwet sei und ihr in der Türkei lebender Bruder selbst bereits über 80 Jahre alt und schwer krank sei. Nichten und Neffen der Klägerin würden anders als diese nicht in Izmir leben; auch sei das Näheverhältnis zu diesen mit dem zu ihren jeweils in Deutschland lebenden beiden Söhnen, bei denen es sich um ihre einzigen Kinder handle, nicht vergleichbar. Der Bevollmächtigte der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 4. April 2018 vorgetragen, die Klägerin habe derzeit niemanden, der sich um sie kümmern könne. Dem vermag auch die Beklagte nicht substantiiert entgegenzusetzen, dass und auf welche Weise die Klägerin in der Türkei ausreichend betreut würde oder zumindest werden könnte. Allein der Umstand, dass es für die Klägerin dort bislang nicht zu einem wirklich gravierenden Zwischenfall gekommen ist, rechtfertigt noch nicht die Annahme, dass sie dort in einer ihren Autonomieverlust hinreichend ausgleichenden Weise betreut würde und ihr Wunsch, familiäre Lebenshilfe in Deutschland in Anspruch zu nehmen, nicht schutzwürdig wäre.
Soweit die Beklagte beanstandet, das Verwaltungsgericht habe die Alternative einer (gemeint wohl: professionellen) pflegerischen Betreuung in der Türkei nicht ermittelt, greift dies schon deshalb nicht durch, weil das Verwaltungsgericht aufgrund der von ihm angestellten Gesamtwertung zu dem Ergebnis gelangt ist, die Klägerin könne auf Nachbarschaftshilfe, die Hilfe entfernterer Verwandter sowie professionellen Beistand Dritter nicht verwiesen werden. Vielmehr erscheine es aufgrund ihrer ärztlich attestierten Defizite auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar, dass sie sich in die Obhut ihrer in Deutschland lebenden Söhne zurückziehen wolle. Dass diese Gesamtwertung im Ergebnis verfehlt wäre, vermag die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung nicht darzutun. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Argumentation des Verwaltungsgericht auch nicht unschlüssig, soweit es davon ausgeht, dass die Klägerin zwar noch aufstehen, essen, trinken und Toilettengänge verrichten könne, gleichwohl aber einen für den zuerkannten Anspruch hinreichenden Autonomieverlust annimmt. Denn das Verwaltungsgericht durfte gestützt auf die vorliegenden ärztlichen Atteste jedenfalls davon ausgehen, dass die demenzbedingte Vergesslichkeit der Klägerin sie im Alltag stark behindert und auch zu ernstzunehmenden Gefahrensituationen, etwa infolge Vergessens der Medikamenteneinnahme, führen kann. Ein die Inanspruchnahme inländischer familiärer Lebenshilfe rechtfertigender Autonomieverlust muss nicht notwendig darin liegen, dass dem nachzugswilligen Ausländer selbst einfachste elementare Verrichtungen nicht mehr gelingen.
2.4. Die Beklagte zeigt auch nicht auf, dass die in Deutschland vorhandenen familiären Betreuungsmöglichkeiten für die Klägerin nicht ausreichend seien. Ihre Auffassung, für die Klägerin sei in Deutschland eine dauerhafte Pflege durch eine geschulte Person erforderlich, wenn sie sich denn in einem derart schlechten Gesundheitszustand befinde, wie es für die Annahme einer außergewöhnlichen Härte erforderlich sei, würde darauf hinauslaufen, dass sich ein Nachzugsanspruch prinzipiell mit der Argumentation verneinen ließe, dass der Wunsch nach Inanspruchnahme familiärer Lebenshilfe zwar nachvollziehbar sei, diese jedoch nicht ausreiche.
3. Ferner macht die Beklagte ohne Erfolg geltend, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Lebensunterhalt der Klägerin i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gesichert sei. Sie trägt diesbezüglich vor, das Verwaltungsgericht gehe bei dem Sohn der Klägerin, rechtsfehlerhaft von einem pfändbaren Einkommen i.H.v. 1376 Euro aus. Es nehme an, dass die Unterhaltsverpflichtung gegenüber seiner Ehefrau nach § 850c Abs. 4 ZPO bei der Berechnung des pfändbaren Teils des Einkommens auf Antrag außer Betracht bleibe. Bei der Entscheidung, ob ein Unterhaltsberechtigter bei der Berechnung des unpfändbaren Betrages außer Betracht zu lassen sei, sei die Höhe der eigenen Einkünfte von maßgeblicher Bedeutung. ... könne durch ihren Minijob ihren Lebensunterhalt nicht sichern. Von einer positiven Bescheidung eines Antrags nach § 850c Abs. 4 ZPO könne nicht ausgegangen werden, sodass sich das pfändbare Einkommen von ... auf lediglich 769,75 Euro belaufe.
Abgesehen davon, dass das Verwaltungsgericht ein pfändbares Einkommen i.H.v. 1376 Euro nicht für ... sondern für ... angenommen hat, würde die Differenz zwischen 1376 Euro und 769,75 Euro, nämlich 606,25 Euro, nach den von der Beklagten im Übrigen nicht angegriffenen Berechnungen des Verwaltungsgerichts für die Annahme der Lebensunterhaltssicherung der Klägerin nicht relevant werden. Denn das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Summe der pfändbaren Beträge (beider Söhne der Klägerin) und der Rente der Klägerin (2440,68 Euro) den Bedarf der Klägerin für Lebenshaltung, Kranken- und Pflegeversicherung sowie Unterkunft und Heizung (1179,67 Euro) um 1261,01 Euro übersteige. Werden von dem letztgenannten Betrag 606,25 Euro subtrahiert, so verbleibt nach der Berechnung des Verwaltungsgerichts immer noch eine Überdeckung i.H.v. 654,76 Euro. Warum dennoch der Lebensunterhalt der Klägerin nicht gesichert sein sollte, legt die Beklagte nicht substantiiert dar.
4. Die Einwände der Beklagten greifen auch nicht durch, soweit sie sich gegen die verwaltungsgerichtliche Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null richten. Dass sich das Verwaltungsgericht zur Begründung einer Ermessensreduzierung auf Null darauf gestützt hat, dass das Interesse der Klägerin an einer Pflege und Betreuung durch ihre Söhne durch Art. 6 Abs. 1 GG sowie Art. 8 EMRK geschützt sei und dadurch hohes Gewicht habe, ist nicht zu beanstanden. Soweit es abschließend ausgeführt hat, Gründe, die trotz Vorliegens einer außergewöhnlichen Härte und der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen einschließlich der Sicherung des Lebensunterhalts die Versagung des Visums rechtfertigen könnten, seien nicht ersichtlich, setzt die Beklagte dem nichts Durchschlagendes entgegen. Liegt im Einzelfall eine Ermessensreduzierung auf Null vor, so steht die vom Verwaltungsgericht angenommene Spruchreife dem von der Beklagten angeführten Grundsatz der Gewaltenteilung nicht entgegen, weil in diesen Fällen kein gerichtlich zu respektierender behördlicher Entscheidungsspielraum verbleibt. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wie die Beklagte selbst geltend macht und auch vom Verwaltungsgericht nicht verkannt wurde, an die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals einer außergewöhnlichen Härte extrem hohe Anforderungen zu stellen sind, sodass Ermessenserwägungen, die dennoch eine Versagung des Visums rechtfertigen könnten, keinesfalls naheliegen und auch von der Beklagten nicht aufgezeigt werden. Soweit die Beklagte ausführt, insbesondere die aufgrund der Krankheit, des Alters und der Pflegebedürftigkeit der Klägerin über das gewöhnliche Maß hinausgehende Belastung der öffentlichen Kassen hätte vorliegend Berücksichtigung finden müssen, lässt sie außer Betracht, dass das Verwaltungsgericht eine hinreichenden Sicherung des Lebensunterhalts der Klägerin gerade angenommen und damit eine Belastung öffentlicher Kassen ausgeschlossen hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).