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GdB - Wirbelsäule - somatoforme Schmerzstörung


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat Entscheidungsdatum 15.04.2010
Aktenzeichen L 13 SB 315/07 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 69 SGB 9

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 4. September 2007 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung seines Bescheides vom 8. Dezember 2004 in der Fassung des Bescheides vom 3. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2006 verpflichtet, für den Kläger auch ab dem 1. April 2006 einen GdB von 50 festzustellen.

Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des für den Kläger festzusetzenden Grades der Behinderung (GdB).

Der im Jahre 1956 geborene Kläger leidet unter Anderem an Erkrankungen der Wirbelsäule und an einer somatoformen Schmerzstörung. Mit Bescheid vom 8. Dezember 2004 stellte der Beklagte auf den Antrag des Klägers vom 19. März 2003 einen GdB von 20 fest. Dem lagen festgestellte Behinderungen in Gestalt einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule mit einem isolierten (fiktiven) GdB von 20 und Bluthochdruck (GdB 10) zugrunde.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren stellt der Beklagte mit Bescheid vom 3. November 2005 einen GdB von 30 fest auf der Grundlage von Funktionsbehinderungen des Schultergelenks rechts (GdB 20), des Handgelenks rechts (GdB 20) und des Hüftgelenks beidseits (GdB 10) sowie einer psychischen Störung (GdB 20). Nach Durchführung weiterer medizinischer Ermittlungen im Widerspruchsverfahren stellte der Beklagte aufgrund der vorgenannten Behinderungen schließlich mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 2006 einen GdB von 40 fest und wies den Widerspruch im Übrigen zurück.

Im anschließenden Rechtsstreit hat das Sozialgericht Frankfurt (Oder) Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt. Aufgrund richterlicher Beweisanordnung hat am 23. Juni 2007 der Arzt für Neurologie/Schmerztherapie Dr. B ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist er zu der Einschätzung gelangt, der GdB insgesamt sei für die Zeit vom Jahre 2005 bis zum Monat März 2006 mit 50 und ansonsten mit 40 zu bewerten; dem lagen Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Halswirbelsäule (GdB 30 von März 2003 bis März 2006, danach GdB 20), im Bereich der Landenwirbelsäule (GdB 20), ferner Funktionsbeeinträchtigungen in Gestalt einer somatoformen Schmerzstörung (GdB 30 von März 2003 bis März 2006, danach GdB 20), eines Bluthochdrucks mit Linksherzhypertrophie (GdB 20) und von Fußdeformitäten (GdB 10) zu Grunde.

Mit Urteil vom 4. September 2007 hat das Sozialgericht, vor allem gestützt auf das vorgenannte Gutachten, den Beklagten unter Änderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, bei dem Kläger für die Zeit vom 19. März 2003 bis zum 31. März 2006 einen GdB von 50 anzuerkennen; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Gegen dieses Urteil haben sowohl der Beklagte (am 18. Dezember 2007) als auch der Kläger (am 19. Dezember 2007) jeweils fristgemäß Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Während der Beklagte der Ansicht ist, der GdB des Klägers hätte zu keinem Zeitpunkt mit mehr als 40 bewertet werden dürfen, ist der Kläger der Auffassung, der GdB sei auch über den Monat März 2006 hinaus mit 50 zu bewerten.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 4. September 2007 zu ändern, die Klage auch für den Zeitraum vom 19. März 2003 bis zum 31. März 2006 abzuweisen und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) zu ändern und den Beklagten unter weiterer Aufhebung seines Bescheides vom 8. Dezember 2004 in der Fassung des Bescheides vom 3. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2006 zu verpflichten, zugunsten des Klägers auch für die Zeit ab dem 1. April 2006 einen GdB von 50 festzustellen.

Zur Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat ein in einem Rentenverfahren durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. T erstattetes Sachverständigengutachten vom 4. Januar 2006 beigezogen sowie Befundberichte der behandelnden Internistin Dr. D vom 5. Februar 2009 und des Hausarztes des Klägers Dr. K vom 16. März 2009 eingeholt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze mit Anlage sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, welche im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Festsetzung eines GdB von 50 ab dem Monat März 2003 unbefristet über den Monat März 2006 hinaus.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in den Fassungen von 1996, 2004, 2005 und – zuletzt – 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (Anlage VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten ist – abgelöst haben.

Die bei dem Kläger bestehenden Störungen im Bereich der Wirbelsäule sind hiernach seit Antragstellung im März 2003 mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten:

Maßgebend sind die Vorgaben in Teil A Nr. 26.18 AHP bzw. in Teil B Nr. 18.9 Anlage VersMedV. Diese sehen folgende Bewertungsrahmen vor:

ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität

0

                 

mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung,
rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder
Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauern auftretende
leichte Wirbelsäulensyndrome

10

                 

mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem
Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende
oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität
mittleren Grades, häufig rezidivierende und über
Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome)

20

                 

mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem
Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende
oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität
schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen
andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome)

30

                 

mit mittelgradigen bis schweren funktionellen
Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten

30 – 40

Nach der umfassenden Beweiserhebung im gerichtlichen Verfahren ist der Senat der Überzeugung, dass der Kläger an schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten leidet, die insgesamt mit einem fiktiven Einzel-GdB von 40 zu bewerten sind. Betroffen sind im Falle des Klägers zwei Wirbelsäulenabschnitte, nämlich die Halswirbelsäule und die Lendenwirbelsäule. In beiden Abschnitten sind jeweils schwere funktionelle Auswirkungen nachgewiesen:

Im Bereich der Halswirbelsäule ist ein umfassender Beschwerdekomplex gegeben, der auf Verschleißerscheinungen an mehreren zervikalen Bandscheiben und rechts betont knöchernen Einengungen der Nervenaustrittsöffnungen beruht. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus den dem Senat zur Verfügung stehenden medizinischen Unterlagen, insbesondere aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B. Dieser konnte sich neben eigenen Untersuchungen insbesondere auf ein Magnetresonanztomogramm stützen, das die vorgenannten gesundheitlichen Einschränkungen mit bildgebenden Mitteln dokumentiert hat. Diese Einschränkungen haben über den gesamten hier streitbefangenen Zeitraum hinweg zu häufig rezidivierenden und anhaltenden Bewegungseinschränkungen schweren Grades und zu häufig rezidivierenden und Wochen andauernden Wirbelsäulensyndromen geführt. Die hieraus resultierenden Einschränkungen der Beweglichkeit nicht nur der Halswirbelsäule, sondern auch des Oberkörpers mit Einstrahlungen in die Arme hat vorübergehend zu derart starken und lang andauernden Schmerzen geführt, dass der Kläger zeitweise kontinuierlich durch starke Opioide behandelt werden musste, die sogar zu einer Medikamentenabhängigkeit des Klägers geführt haben.

Hierbei lässt der Senat ausdrücklich offen, ob die Funktionseinschränkungen insbesondere in den Jahren 2005 und 2006, wie es der Sachverständige ausgeführt hat, zu einer besonderen weiteren Zuspitzung geführt haben, denn auch ohne diese liegt im Bereich der Halswirbelsäule eine schwere funktionelle Einschränkung im oben beschriebenen Sinne vor.

Zugleich war auch der Bereich der Lendenwirbelsäule im gesamten hier streitbefangenen Zeitraum von schweren funktionellen Einschränkungen betroffen. So leidet der Kläger insbesondere an starken Schmerzen im unteren Wirbelsäulenbereich, die häufig rezidivieren und dann jeweils zu lang anhaltenden starken und sehr schmerzhaften Funktionseinschränkungen führen. Sie beruhen, wie sich insbesondere aus dem vorgenannten medizinischen Gutachten des Sachverständigen Dr. B ergibt, auf in bildgebenden Verfahren mehrfach nachgewiesenen degenerativen Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule. Sie wirken sich auf den gesamten unteren Bewegungsapparat nachhaltig aus und führen zu erheblichen Bewegungseinschränkungen auch im Bereich der Beine und Füße. Der Senat hat keine Zweifel daran, dass die aufeinander einwirkenden und einander verstärkenden Einschränkungen der beiden betroffenen Wirbelsäulenabschnitte nicht nur jeweils für sich genommen schwere Funktionseinschränkungen darstellen, sondern insgesamt am oberen Rande der vorgenannten Bewertungsskala anzusetzen und mit einem (fiktiven) Einzel-GdB von 40 zu bewerten sind.

Daneben leidet und litt der Kläger im gesamten streitbefangenen Zeitraum an einer somatoformen Schmerzstörung und psychischen Störung mit Stimmungsschwankungen und Einschränkung der Erlebnisfähigkeit und Teilhabe, die der Sachverständige nachvollziehbar festgestellt hat. Solche Störungen werden nach Teil A Nr. 26.3 AHP und nach Teil B Nr. 3.7 Anlage VersMedV in leichteren Fällen mit einem GdB von 0-20 und in schwereren Fällen mit einem GdB von 30 – 40 bewertet. Der Sachverständige hat hier für den Zeitraum der besonders starken, durch Opioide behandelten Schmerzen des Klägers einen GdB von 30 und ansonsten von 20 angenommen. Für den Senat steht jedenfalls zweifelsfrei fest, dass der insoweit festzustellende (fiktive) Einzel-GdB im gesamten Zeitraum mindestens den Wert von 20 erreicht hat, weil insbesondere die festzustellende somatoforme Schmerzstörung zu wesentlichen Einschränkungen der psychischen Funktionsfähigkeit des Klägers geführt hat. Es bedarf keiner Entscheidung, ob darüber hinaus sogar mindestens für einen bestimmten Zeitraum ein höherer Einzel-GdB anzusetzen ist, weil selbst bei einem Einzel-GdB von lediglich 20 aufgrund der psychischen Störungen des Klägers bereits insgesamt der von Kläger begehrte GdB von insgesamt 50 zu bilden ist:

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 19 Abs. 3 AHP bzw. Teil A Nr. 3c Anlage VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Dies führt vorliegend zur Bildung eines GdB von insgesamt 50 für den gesamten streitbefangenen Zeitraum, denn die vorgenannten beiden (fiktiven) Einzelwerte von 40 und von 20 beeinflussen sich insbesondere wegen der im Vordergrund stehenden starken Schmerzen derart stark, dass der höchste Einzelwert von 40 um 10 auf 50 zu erhöhen ist. Vor diesem Hintergrund bedurfte es auch keiner weiteren Klärung, ob etwa im Falle des Klägers weitere Funktionseinschränkungen durch eine Herzkrankheit oder auf anderen medizinischen Teilgebieten feststellbar sind.

Die Berufung des Beklagten war zurückzuweisen, weil aus den vorgenannten Gründen ohnehin kein niedrigerer GdB als bereits vom Sozialgericht angenommen auszusprechen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.