Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 27. Senat | Entscheidungsdatum | 21.03.2013 | |
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Aktenzeichen | L 27 P 73/11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 14 SGB 11, § 15 SGB 11, § 48 SGB 10 |
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 18. Oktober 2011 sowie der Bescheid der Beklagten vom 16. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. April 2010 aufgehoben.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der 1966 geborene Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der bei ihm anerkannten Pflegestufe I in der gesetzlichen Pflegeversicherung.
Auf den im Februar 2006 gestellten Antrag des Klägers, der nach einem Herzstillstand an einem hirnorganischen Psychosyndrom leidet, holte die City BKK Pflegekasse, bei welcher der Kläger versichert war, das MDK-Gutachten vom 2. März 2006 ein, in welchem die Pflegefachkraft L einen Zeitaufwand in der Grundpflege von 64 Minuten am Tag ermittelte (Körperpflege: 47 Minuten, Ernährung: 6 Minuten, Mobilität: 11 Minuten). Daraufhin gewährte die Pflegekasse dem Kläger mit Bescheid vom 10. März 2006 Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 16. Februar 2006, d.h. nach Abschluss der Rehabilitationsbehandlung in der N R B.
In der Folgezeit ließ die Pflegekasse den Pflegebedarf des Klägers nachprüfen: Im MDK-Gutachten vom 6. August 2009 ermittelte die Pflegefachkraft S bei dem Kläger einen Zeitaufwand in der Grundpflege von 15 Minuten am Tag (Körperpflege: 10 Minuten, Ernährung: 0 Minuten, Mobilität: 5 Minuten): Der Kläger benötige durch gute Förderung der Ehefrau nur noch wenige Hilfen in Form von Startmotivation und Kontrollen bei den alltäglichen Verrichtungen. Auf der Grundlage dieses Gutachtens hob die Pflegekasse mit Bescheid vom 16. Oktober 2009 den Bewilligungsbescheid mit Wirkung zum 1. November 2009 auf. Auf den Widerspruch des Klägers veranlasste die Pflegekasse eine weitere Begutachtung. Im MDK-Gutachten vom 18. März 2010 schätzte die Pflegefachkraft W den Zeitaufwand in der Grundpflege auf 21 Minuten am Tag ein (Körperpflege: 14 Minuten, Ernährung: 3 Minuten, Mobilität: 4 Minuten). Daraufhin wies die Pflegekasse mit Widerspruchsbescheid vom 21. April 2010 den Widerspruch als unbegründet zurück.
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger sich gegen die Aufhebung gewandt. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Psychiaters Prof. Dr. Z vom 9. Januar 2011, der den Zeitaufwand in der Grundpflege auf knapp 30 Minuten am Tag eingeschätzt hat (Körperpflege: knapp 19 Minuten, Ernährung: 6 Minuten, Mobilität: 5 Minuten). In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28. Februar 2011 hat der Gutachter unter Berücksichtigung eines weiteren Zeitbedarfs bei der Körperpflege von 2 Minuten (Nachreinigen nach dem Stuhlgang) den Hilfebedarf mit rund 32 Minuten angegeben.
Die Pflegekasse ist mit Ablauf des 30. Juni 2011 geschlossen worden. Mit deren Abwicklung ist die Beklagte betraut.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18. Oktober 2011 abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Die Herabsetzung der Pflegestufe sei rechtmäßig, da der Kläger, wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend dargelegt habe, keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegestufe I mehr habe.
Auf den Antrag des Klägers bei der BKK Verkehrsbau Union, bei der er nunmehr pflegeversichert ist, hat diese das MDK-Gutachten vom 28. Oktober 2011 veranlasst. Hierin hat der Arzt F bei dem Kläger einen Zeitaufwand in der Grundpflege von 46 Minuten am Tag (Körperpflege: 38 Minuten, Ernährung: 4 Minuten, Mobilität: 4 Minuten) festgestellt. Der Kläger erhält daraufhin seinen Angaben zufolge seit September 2011 wieder Leistungen nach der Pflegestufe I.
Mit der Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts bringt der Kläger insbesondere vor, dass sich sein Zustand seit Herbst 2008 in keiner Hinsicht geändert habe.
Die Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 18. Oktober 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. April 2010 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt ihrem schriftlichen Vorbringen zufolge,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.
Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Beklagten im Termin verhandeln und entscheiden (§ 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet.
Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 18. Oktober 2011 die Anfechtungsklage des Klägers zu Unrecht abgewiesen, da der Aufhebungsbescheid der Beklagten vom 16. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. April 2010 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bewilligungsbescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist. Hierbei sind die im Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die im Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung vorhanden gewesen sind, zu vergleichen.
Die von der Beklagten durch den Bescheid vom 10. März 2006 getroffene Entscheidung über die Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I ist als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zu qualifizieren. Im Vergleich zu den im Zeitpunkt der Aufhebung der Bewilligung zum 1. November 2009 bestehenden Verhältnissen hat der Senat keine wesentliche Änderung feststellen können.
Vorliegend kommt es nach § 37 Abs. 1 SGB XI maßgeblich darauf an, dass der Anspruchsteller pflegebedürftig ist und mindestens der Pflegestufe I zugeordnet werden kann. Pflegebedürftigkeit liegt hierbei nach § 14 Abs. 1 SGB XI vor, wenn der Betroffene wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedarf, die nach § 14 Abs. 3 SGB XI in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen besteht. Als gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im vorgenannten Sinne gelten nach § 14 Abs. 4 SGB XI im Bereich der Körperpflege, der neben den Bereichen der Ernährung und der Mobilität zur Grundpflege gehört, das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- oder Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Die Zuordnung zur Pflegestufe I setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XI voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss hierbei wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen.
Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ist in Fällen der vorliegenden Art, in denen um die Herabsetzung bzw. Aufhebung einer Pflegestufe im Pflegeversicherungsrecht gestritten wird, nicht bereits dann eingetreten, wenn in einem nach Erlass des Bewilligungsbescheides eingeholten Gutachten der Zeitaufwand in der Grundpflege maßgeblich geringer eingeschätzt wurde als in dem der Bewilligung zu Grunde liegendem Erstgutachten. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, dass in tatsächlicher Hinsicht, beispielsweise in dem Gesundheitszustand des Betroffenen, Änderungen eingetreten sind, die nachvollziehbar den Umfang dessen Hilfebedarfs vermindert haben. Für das Vorliegen dieser Änderung trifft den Beklagten, der sich in dem Aberkennungsbescheid hierauf beruft, die materielle Beweislast.
Der Senat kann vorliegend aus den im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten gutachterlichen Äußerungen nicht die Überzeugung gewinnen, dass die Verhältnisse sich tatsächlich wesentlich geändert hätten.
Die Gutachten, in denen die Voraussetzungen der Pflegestufe I verneint werden, sind untereinander nicht konsistent, da die Gutachter bei der Einschätzung des Zeitaufwands in der Grundpflege des Klägers wesentlich voneinander abweichen: Im MDK-Gutachten vom 6. August 2009 wurden 15 Minuten am Tag, im MDK-Gutachten vom 18. März 2010 21 Minuten am Tag und in dem von dem Sozialgericht eingeholten Gutachten des Psychiaters Prof. Dr. Z vom 9. Januar 2011 mit ergänzender Stellungnahme vom 28. Februar 2011 32 Minuten am Tag für erforderlich gehalten. Hinzu kommt, dass – wie der gerichtlichen Sachverständige dargelegt hat – die neuropsychiatrische Befundung und Einschätzung in den MDK-Gutachten praktisch unbrauchbar sind, weil sie die Einschränkungen und Veränderungen des Klägers nicht oder falsch darstellen. Indes sieht sich der Senat außerstande, seine Überzeugung, dass sich vorliegend die tatsächlichen Verhältnisse wesentlich geändert hätten, auf die Bewertung des Psychiaters Prof. Dr. Z zu stützen, der Kläger habe durch die medizinische Rehabilitation und die außergewöhnlich engagierte Unterstützung seiner Familie in relativ kurzer Zeit erstaunlich viele verloren gegangene Fähigkeiten wiedererlangt, so dass er inzwischen viele Alltagsaktivitäten wieder eigenständig durchführen könne. Abgesehen davon, dass die Rehabilitationsbehandlung in der N R B am 16. Februar 2006 und damit noch vor dem MDK-Gutachten vom 2. März 2006 endete, in welchem ein Zeitaufwand in der Grundpflege von 64 Minuten am Tag ermittelt wurde, ist die Einschätzung des gerichtlichen Sachverständigen mit den Feststellungen des Arztes F in dem MDK-Gutachten vom 28. Oktober 2011 nicht zu vereinbaren. Dieser hat bei dem Kläger einen Zeitaufwand in der Grundpflege von 46 Minuten am Tag festgestellt. Es ist den Akten kein Hinweis darauf zu entnehmen, dass der Gesundheitszustand des Klägers sich nach der Untersuchung durch Psychiaters Prof. Dr. Z im Januar 2011 wieder verschlechtert hätte. Vielmehr hat der MDK-Gutachter in der Anamnese aufgenommen, dass seit August 2009 keine wesentlichen Verbesserungen der Fähigkeiten eingetreten seien; durch die regelmäßige Aktivierung und das tägliche Training der kognitiven Fähigkeiten habe sich die Gesamtsituation eher verbessert.
Insgesamt erscheint es dem Senat nicht ausgeschlossen, dass die gutachterlichen Abweichungen in der Höhe des Zeitaufwands in der Grundpflege auf unterschiedliche Bewertungen zurückzuführen sind, die eine Aufhebung der ursprünglichen Bewilligung nicht rechtfertigen können: Hat der Psychiater Prof. Dr. Z in dem Gutachten vom 9. Januar 2011 fast ausnahmslos eine Impulsgabe im Bereich der Körperhygiene für ausreichend erachtet und dementsprechend den Zeitaufwand für das Waschen (ohne Duschen/Baden) mit 8 Minuten am Tag beurteilt, so hielt die Pflegefachkraft L in dem MDK-Gutachten vom 2. März 2006 bei der Ganzkörperwäsche sowie dem Waschen von Händen und Gesicht nicht nur Anleitungen, sondern auch Unterstützungen für erforderlich, die sie für diesen Bereich mit einem Zeitaufwand von 32 Minuten am Tag einschätzte.
Weitere Erkenntnisse sind durch die Einholung neuer Gutachten nicht zu erwarten, da die maßgeblichen Zeiträume sieben bzw. vier Jahre zurückliegen. Die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts geht – wie bereits dargelegt – zu Lasten der Beklagten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.