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Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (§ 69 Abs. 3 FGO) Umsatzsteuer 2005 bis 2007


Metadaten

Gericht FG Berlin-Brandenburg 5. Senat Entscheidungsdatum 04.06.2013
Aktenzeichen 5 V 5022/13 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Die Vollziehung der Umsatzsteuerbescheide vom 23.10.2012 für 2005 bis 2007 wird in Höhe der ausgewiesenen Zahllasten bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung ausgesetzt.

Die Kosten des Verfahrens werden dem Antragsgegner auferlegt.

Gründe

I.

Der Antragsteller betreibt das Einzelunternehmen „B.“, das Parfums herstellt und vertreibt. Die Kundschaft besteht etwa zur Hälfte aus Käufern aus dem osteuropäischen Drittland, die die Ware gegen Barzahlung erwerben und die Ausfuhr selbst übernehmen. Im Rahmen einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung wurde durch ein kriminaltechnisches Gutachten festgestellt, dass ein Teil der in den Jahren 2005 bis 2007 ausgestellten Rechnungen über steuerfreie Ausfuhrlieferungen Abdrucke von gefälschten polnischen Zollstempeln aufwiesen. Untersucht wurden die Stempelaufdrucke auf 57 Rechnungen an 13 Abnehmer. Auf diese Abnehmer entfielen Umsätze von rund 946.000 € der insgesamt in den Streitjahren erzielten Ausfuhrumsätze von rund 1.346.000 €. Auf den Prüfungsbericht vom 18.4.2012 wird Bezug genommen.

Die Prüferin und ihr folgend der Antragsgegner versagten die Steuerfreiheit für alle an die 13 Abnehmer ausgeführten Lieferungen und erhöhten die steuerpflichtigen Umsätze zu 16 % um 212.146 € (2005) und 274.590 € (2006) und zu 19 % um 320.353 (2007). Gegen die geänderten Umsatzsteuerbescheide legte der Antragsteller Einspruch ein, der noch nicht beschieden ist, und beantragte zugleich die Aussetzung der Vollziehung, die der Antragsgegner ablehnte.

Der Antragsteller macht geltend, der Antragsgegner habe zu Unrecht alle Umsätze in das Drittland der Umsatzsteuer unterworfen, da er nicht einmal 5 % aller 1.185 Rechnungen an Drittlandsabnehmer überprüft habe. Dieser Prozentsatz sei nicht repräsentativ, zumal unklar sei, wie viele der untersuchten Rechnungen auf welche Jahre des Prüfungszeitraums entfielen. Unter Umständen betrage der Anteil der geprüften Rechnungen auch weniger als 5 % aller Rechnungen eines Jahres.

Zudem ignoriere der Antragsgegner, dass nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) trotz mangelhaften Buch- und/oder Belegnachweises von einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung auszugehen sei, wenn nach objektiver Beweislage eine Lieferung in das EU-Ausland feststehe. Dies gelte analog für Ausfuhrlieferungen. Die im Streitfall gegebenen Umstände ließen auf eine tatsächliche Ausfuhr schließen. Er – der Antragsteller – habe die Ware beim Zollamt D. zur Vorbereitung der Ausfuhr vorführen lassen. Sie sei alsdann in seinem Geschäft von den Kunden abgeholt worden, die sämtlich ihren Geschäftssitz in der Ukraine, Russland oder Kasachstan hätten. Es sei daher nicht plausibel, dass diese die Ware nicht ins Ausland verbracht hätten, es sei ihnen offenbar vielmehr um die Vortäuschung einer ordnungsgemäßen Verzollung gegangen.

Dessen ungeachtet sei die Steuerfreiheit nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des BFH jedenfalls im Billigkeitswege zu gewähren. Denn er – der Antragsteller – habe von den gefälschten Stempeln keine Kenntnis gehabt und auch nicht haben können. Er habe als Privatperson vergeblich eine kriminaltechnische Überprüfung der Stempelabdrucke zu erreichen versucht, eine solche könne nach Auskunft des Zollkriminalamtes nur von Amts wegen erfolgen. Für ihn selbst – den Antragsteller – als Laien sei es unmöglich, eine Fälschung zu erkennen. Mit den ihm bekannten Abnehmern, die im Jahr 2000 gefälschte Rechnungen vorgelegt hätten, habe er keine Geschäfte mehr getätigt. Die Art der Geschäftsabwicklung – Barzahlung, Abholung anstatt Versendung, Transport durch mehrere Abnehmer gleichzeitig – sei für osteuropäische Kunden üblich und beruhe auf nachvollziehbaren Kosten- und Sicherheitserwägungen der Abnehmer. Er – der Antragsteller – habe somit keine Zweifel haben müssen und nicht die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns vermissen lassen.

Schließlich sei die Vollziehung der angefochtenen Bescheide auch unbillig, weil er – der Antragsteller – in diesem Fall sofort Insolvenz anmelden müsste, Geschäftswerte zerschlagen und Arbeitsplätze vernichtet würden.

Der Antragsteller beantragt,

die Vollziehung der Umsatzsteuerbescheide vom 23.10.2012 für 2005 bis 2007 in Höhe der ausgewiesenen Zahllasten bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung auszusetzen,

hilfsweise, die Beschwerde zum BFH zuzulassen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzuweisen.

Er macht geltend, ausweislich der Anlage 2 des Prüfungsberichts sei keine unspezifizierte Hochrechnung erfolgt, vielmehr habe sich jede der namentlich genannten Personen falscher Ausfuhrpapiere bedient, so dass kein Grund für die Annahme bestehe, diese Personen hätten nur für einen Teil ihrer Geschäfte gefälschte Dokumente benutzt.

Abgesehen davon spreche die objektive Beweislage nicht für eine tatsächliche Ausfuhr der Ware. Wenn die Ausfuhr tatsächlich erfolgt wäre, hätte der Verwendung echter Papiere nichts im Wege gestanden.

Über die Frage einer Steuerbefreiung trotz fehlenden Ausfuhrnachweises sei entgegen der Auffassung des Antragstellers allein im Billigkeitsverfahren zu entscheiden. Eine Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Billigkeitsgründen erübrige sich aber, da vorläufiger Rechtsschutz im Wege der Aussetzung der Vollziehung insoweit nicht in Betracht komme.

Schließlich habe der Antragsteller die Unbilligkeit der Vollziehung wegen Gefährdung seiner wirtschaftlichen Existenz nicht glaubhaft gemacht.

Dem Gericht haben bei seiner Entscheidung neben der Verfahrensakte ein Band Umsatzsteuerakten, zwei Aktenbände mit Berichten über Umsatzsteuer-Sonderprüfungen sowie ein Aktenband mit Bilanzen vorgelegen.

II.

Der Antrag ist begründet.

Nach summarischer Überprüfung des derzeitigen Sach- und Streitstands bestehen ernstliche Zweifel im Sinne von § 69 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Steuerbescheide. Die ernstlichen Zweifel ergeben sich im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung des EuGH zum Gutglaubens- bzw. Vertrauensschutz im Umsatzsteuerrecht (EuGH, vgl. insbesondere Urteil vom 21.2.2008 - C-271/06 - Netto Supermarkt, UR 2008, 508; Urteil vom 21.6.2012 - C-80/11 und C-143/11 - Mahagében und Dávid, UR 2012, 591 sowie Urteil vom 6.9.2012 - C-324/11 – Tóth, UR 2012, 851). Danach ist der Schutz des guten Glaubens als allgemeiner Rechtsgrundsatz nicht nur im Rahmen des Vorsteuerabzugs, sondern generell im Bereich des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung hat nach Auffassung des Senats im Festsetzungsverfahren zu erfolgen, um dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer zu genügen.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Ausfuhrlieferung sind nach Aktenlage nicht erfüllt. Gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 2 UStG liegt eine nach § 4 Nr. 1 Buchst. a UStG steuerfreie Ausfuhrlieferung vor, wenn bei einer Lieferung der Abnehmer den Gegenstand der Lieferung in das Drittlandsgebiet, ausgenommen die in § 1 Abs. 3 UStG genannten Gebiete, befördert oder versendet hat und ein ausländischer Abnehmer ist. Diese Voraussetzungen sind von dem Unternehmer nachzuweisen (§ 6 Abs. 4 Satz 1 UStG). Der in den §§ 8 und 9 der UStDV näher geregelte Ausfuhrnachweis ist von dem Antragsteller nicht erbracht worden, da die Ausfuhrstempelungen der polnischen Grenzzollstellen gefälscht waren. Auf den Ausfuhrnachweis kann auch nicht verzichtet werden, weil "aufgrund der objektiven Beweislage feststeht", dass die Voraussetzungen der Ausfuhrlieferung vorliegen (vgl. Urteil des BFH vom 28.5.2009, V R 23/08, BStBl II 2010, 517). Von einer Ausfuhr kann nach der objektiven Beweislage im Streitfall nicht zwingend ausgegangen werden.

Allerdings hat der Antragsteller detailliert und unwidersprochen dargelegt, dass er die Fälschung nicht hat erkennen können, dass er insbesondere als Privatperson nicht die Möglichkeit einer kriminaltechnischen Untersuchung der Stempelaufdrucke in Auftrag geben kann und dass er nicht an die Abnehmer geliefert hat, die im Jahr 2000 gefälschte Rechnungen vorgelegt hatten. Der Senat hält dies jedenfalls im Rahmen der hier gebotenen summarischen Überprüfung für glaubhaft und sieht auch in der Art der Geschäftsabwicklung keinen Grund für Zweifel an der Seriosität der Abnehmer. Die von dem Antragsgegner erhobenen Einwände sind per se nicht geeignet, die Angaben des Antragstellers in Frage zu stellen. Bei dieser Sachlage stellt sich die Frage nach einer Steuerfreiheit der in Rede stehenden Lieferungen aus Gründen des Vertrauensschutzes.

Eine ausdrückliche Vertrauensschutzregelung wie § 6a Abs. 4 UStG für innergemeinschaftliche Lieferungen sieht das UStG für Ausfuhrlieferungen nicht vor, eine analoge Anwendung dieser Vorschrift kommt aus den im Urteil des BFH vom 30.7.2008 (V R 7/03, BStBl II 2010, 1075) genannten Gründen nicht in Betracht.

In seiner Entscheidung „Netto Supermarkt“, dem ein nahezu identischer Sachverhalt zugrunde liegt, hat der EuGH aber ausgeführt, dass die Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung wie insbesondere Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit von den Mitgliedstaaten zu beachten seien. Die Maßnahmen zur Verhinderung von Steuerhinterziehung dürften nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist. Die Verteilung des Risikos zwischen Lieferern und Finanzverwaltung aufgrund eines von einem Dritten begangenen Betrugs müssten mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein. Dies sei nicht der Fall, wenn dem Lieferer unabhängig davon, ob er an dem Betrug beteiligt gewesen sei, die gesamte Verantwortung zur Zahlung der Mehrwertsteuer auferlegt werde. Dieser müsse aber alle Maßnahmen ergriffen haben, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden könnten um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht in einen Betrug einbezogen wird.

Nach diesen Grundsätzen kann der Antragsteller den Schutz seines guten Glaubens für sich in Anspruch nehmen mit der Folge, dass die Umsätze steuerfrei zu belassen sind.

Der Vertrauensschutz ist bereits im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigen. Mit den zitierten Entscheidungen „Mahagében und Dávid“ sowie „Tóth“ hat der EuGH seine Rechtsprechung zum Gutglaubensschutz im Umsatzsteuerrecht fortgeführt. Bezogen auf den Vorsteuerabzug betont er, dass der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer eine vollständige Entlastung des Unternehmers von der Mehrwertsteuer gebietet, und zwar unabhängig vom Zweck und Ergebnis der wirtschaftlichen Tätigkeiten (EuGH, Urteil vom 21.6.2012 - C-80/11 und C-143/11 - Mahagében und Dávid, UR 2012, 591, Tz. 39 sowie Urteil vom 6.9.2012 - C-324/11 – Tóth, UR 2012, 851, Tz. 25). Dies gebietet es nach Auffassung des Senats, den Schutz des guten Glaubens bereits im Rahmen der Festsetzung der Umsatzsteuer zu berücksichtigen. Denn wenn der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer eine vollständige Entlastung des Unternehmers gebietet, dann muss dies im Festsetzungsverfahren umgesetzt werden. Es reicht insofern nicht aus, den Steuerpflichtigen auf ein nachrangiges Billigkeitsverfahren zu verweisen. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass bei einer Verlagerung des Gutglaubensschutzes in das Billigkeitsverfahren ein effektiver vorläufiger Rechtsschutz nicht gewährleistet wäre. Ein solcher wäre nur in Form der einstweiligen Anordnung möglich, die aber regelmäßig eine Existenzgefährdung des Steuerpflichtigen voraussetzt. Dies verträgt sich ersichtlich nicht mit den zu beachtenden Rechtsprechungsgrundsätzen des EuGH (vgl. auch Stapperfend in UR 2013, 321).

Wenngleich die Entscheidungen „Mahagében und Dávid“ sowie „Tóth“ zum Gutglaubensschutz beim Vorsteuerabzug ergangen sind, so kann nach Auffassung des Senats für die hier streitige Steuerfreiheit von Ausfuhrliegerungen nichts anderes gelten. Denn auch insoweit gebietet es der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, den Unternehmer bereits im Festsetzungsverfahren nicht mit Umsatzsteuerforderungen zu belasten, die die Finanzverwaltung letztendlich von ihm – wegen des bestehenden Gutglaubensschutzes – nicht verlangen kann.

Mit dieser Entscheidung setzt sich das Gericht nicht in Widerspruch zu dem Urteil des BFH vom 14.11.2012 (XI R 8/11, BFH/NV 2013, 103). Dort vertritt der BFH zwar die Auffassung, dass das EuGH-Urteil „Mahagében und Dávid“ für die Steuerbefreiung von innergemeinschaftlichen Lieferungen keine Bedeutung habe, da es lediglich den Vorsteuerabzug betreffe. Entsprechendes dürfte daher für Ausfuhrlieferungen gelten. Allerdings bezieht sich der BFH allein auf die Aussage des EuGH zur Feststellungslast, die im vorliegenden Streitfall aber nicht relevant ist, da der Belegnachweis hier – anders als in dem vom BFH entschiedenen Fall – vollständig, aber falsch ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.