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Wirtschaftlichkeitsprüfung - Richtgrößenprüfung - verspätetes Vorbringen - Prüfgremien - Beurteilungsspielraum - Richtgrößenvereinbarung


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 7. Senat Entscheidungsdatum 30.09.2011
Aktenzeichen L 7 KA 16/08 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 84 SGB 5, § 106 SGB 5

Leitsatz

1. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung obliegt es dem Vertragsarzt, im Verfahren vor den sachkundig besetzten Prüfungsgremien seine vertragsärztliche Tätigkeit betreffende Umstände in einer Form darzulegen, die den Schluss auf Praxisbesonderheiten oder zumindest gezielte Nachfragen erlauben. Erstmaliges Vorbringen im gerichtlichen Verfahren ist unbeachtlich.

2. Dies gilt auch, wenn die Prüfgremien bei der das Vorjahr betreffenden Prüfung Praxisbesonderheiten anerkannt haben, auf die sich der Vertragsarzt erstmals im gerichtlichen Verfahren beruft. Denn es gibt keinen Automatismus, Umstände, die bei der Prüfung des Vorjahres als Praxisbesonderheit anerkannt wurden, auch bei der Prüfung des Folgejahres als solche zu werten.

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. Januar 2008 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um einen Regress aufgrund der Richtgrößenprüfung für das Jahr 2000.

Die Klägerin nimmt als Augenärztin an der vertragsärztlichen Versorgung im B Bezirk M teil. Aufgrund einer Richtgrößenprüfung für das Jahr 1999 setze der Beklagte ihr gegenüber mit Bescheid vom 19. Mai 2003 einen Regress i.H.v. 7.212,26 € fest. Als Praxisbesonderheiten erkannte er hierbei zu Gunsten der Klägerin Verordnungskosten für postoperative Antiphlogistika i.H.v. 4.695.- DM sowie Verordnungskosten für 43 Glaukompatienten i.H.v. 11.614,30 DM (270,10 DM je Patient) an. Über die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht Berlin noch nicht entschieden.

Bereits mit Schreiben vom 5. November 2002 hatte die Geschäftsstelle der Prüfgremien der Klägerin mitgeteilt, dass die von ihr im Jahre 2000 verordneten Arznei-, Verband- und Heilmittel die Richtgrößensumme um 59,15 % überschritten. Diesem Schreiben waren als Anlagen beigefügt eine differenzierte Übersicht der Verordnungskosten der Klägerin, die Prüfkriterien für die Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Richtgrößenüberschreitungen sowie ein Dokumentationsbogen zur Geltendmachung von Praxisbesonderheiten. Nachdem die Geschäftsstelle der Prüfgremien der Klägerin unter dem 12. Mai 2003 mitgeteilt hatte, welche Datensätze zur Einsichtnahme bereitstünden und die Klägerin trotz entsprechender weiterer Aufforderung keine Stellungnahme abgab, setze der Prüfungsausschuss am 7. Oktober 2003 gegen die Klägerin einen Regress i.H.v. 18.007,20 € fest. Den hiergegen gerichteten, in keiner Weise begründeten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Beschluss vom 27. Oktober 2005, an die Klägerin übersandt mit Schreiben vom 16. November 2005, zurück. Zur Begründung führte er aus, dass Praxisbesonderheiten nach den vereinbarten Indikationsgebieten nicht festzustellen und von der Klägerin auch nicht geltend gemacht worden seien.

Im Klageverfahren brachte die Klägerin vor, es fehle bereits an einer wirksamen Richtgrößenvereinbarung für das Jahr 2000. Im Übrigen habe sie bereits im Verfahren wegen der Richtgrößenprüfung für das Jahr 1999 Praxisbesonderheiten gegenüber dem Prüfungsausschuss und dem Beklagten vorgetragen. Da diese den Prüfgremien somit bekannt gewesen und Glaukompatienten typischerweise Langzeitpatienten seien, habe sie ihr Vorbringen nicht für das Jahr 2000 wiederholen müssen. Ihre fehlende Mitwirkung sei daher unschädlich.

Mit Urteil vom 30. Januar 2008 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Dass die Richtgrößen für das Jahr 2000 erst im August 2002 in dem von der Beigeladenen zu 1) herausgegebenen „KV-Blatt“ veröffentlich worden und somit rückwirkend in Kraft getreten seien, sei ausnahmsweise zulässig, weil die Richtgrößen der Jahre 1999 und 2000 identisch seien und die im Juli 1999 veröffentlichte Richtgrößenvereinbarung für das Jahr 1999 bis zum Inkrafttreten der Richtgrößenvereinbarung für das Jahr 2000 fortgegolten habe. Einwände gegen die Berechnung der Richtgrößen bzw. die Überschreitung seien nicht erhoben worden. Ob die Klägerin mit ihrem Klagevorbringen zu Besonderheiten der Praxis im vorliegenden Fall wegen Verspätung ausgeschlossen sei, brauche nicht entschieden zu werden. Denn auch während des Klageverfahrens habe sie keine substantiierten Angaben zu Praxisbesonderheiten gemacht.

Gegen dieses ihr am 12. Februar 2008 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin vom 12. März 2008, in deren Rahmen sie ihr Vorbringen aus dem Klageverfahren wiederholt und ergänzend vorbringt: Wegen eines Wechsels in der Praxis-EDV sei die Aufarbeitung der Daten nur manuell möglich. Eine detaillierte Darstellung werde zeitnah ergänzt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. Januar 2008 sowie den Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2005 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beigeladenen haben sich nicht geäußert.

Der Berichterstatter hat die Sach- und Rechtslage im Erörterungstermin vom 13. Juli 2011, zu dem die Klägerin nicht erschienen ist, mit dem Beklagtenvertreter erörtert.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die dem Senat vorgelegen hat, verwiesen.

Entscheidungsgründe

Der Senat kann gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss entscheiden, da er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten wurden zu dieser Vorgehensweise gehört.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2005 ist nicht zu beanstanden.

1) Nach § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V aF wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten oder bei Überschreitung der Richtgrößen nach § 84 SGB V (Auffälligkeitsprüfung) geprüft. Nach § 106 Abs. 5a Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 5 SGB V aF werden durch die Prüfgremien (Prüfungs- und Beschwerdeausschuss) Prüfungen bei Überschreitung der Richtgrößen durchgeführt, wenn die Richtgrößen um mehr als fünf vom Hundert überschritten werden und auf Grund der vorliegenden Daten nicht davon auszugehen ist, dass die Überschreitung durch Praxisbesonderheiten begründet ist. Bei einer Überschreitung der Richtgrößen um mehr als 15 vom Hundert hat der Vertragsarzt den sich aus der Überschreitung der Richtgrößen ergebenden Mehraufwand zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist.

2) Diese gesetzlichen Vorgaben wird der Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2005 gerecht.

a) Der Beklagte hat seiner Prüfung die zutreffenden Richtgrößen zugrunde gelegt.

Gemäß § 84 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) in der im Jahre 2000 geltenden, hier maßgeblichen Fassung (alte Fassung – aF) vereinbaren die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit der Kassenärztlichen Vereinigung für die Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V einheitliche arztgruppenspezifische Richtgrößen für das Volumen der je Arzt verordneten Leistungen, insbesondere von Arznei-, Verband- und Heilmitteln. Die so vereinbarten Richtgrößen gelten bis zum Inkrafttreten von Folgevereinbarungen (§ 84 Abs. 4 SGB V aF). Diese Richtgrößen können ihre Steuerungsfunktion nur entfalten, wenn sie vor Beginn des jeweiligen Kalenderjahres vereinbart und bekannt gemacht werden. Geschieht dies erst im Laufe oder – wie im vorliegenden Fall – erst nach Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres, tritt eine – verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässige – echte Rückwirkung i.S.e. Rückbewirkung von Rechtsfolgen ein (BSG, Urteil vom 23. März 2011, AZ: B 6 KA 9/10 R, veröffentlicht in juris, m. w. N.).

Der Senat kann offen lassen, ob für die erst im Jahre 2002 vereinbarten und veröffentlichten Richtgrößen für das Jahr 2000 eine nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen ausnahmsweise zulässige echte Rückwirkung in Frage kommt. Denn unabhängig hiervon wird ein Vertragsarzt durch die rückwirkende Inkraftsetzung von Richtgrößen dann nicht in eigenen Rechten verletzt, wenn die neue Richtgröße (Vereinbarung) die Rechtsposition entweder des geprüften Vertragsarztes (z.B. wegen beibehaltener oder günstigerer Richtgröße) oder die seiner Fachgruppe bzw. aller Vertragsärzte des KV-Bezirks (z. B. infolge einer typisierenden Betrachtung) nicht verschlechtert (vgl. BSG a.a.O.).

Im vorliegenden Fall wurde die Rechtsposition der Klägerin durch die Richtgrößen für das Jahr 2000 nicht verschlechtert. Denn diese Richtgrößen sind mit den (bereits im Juli 1999 bekannt gegebenen) Richtgrößen für das Jahr 1999 identisch: Im Arzneimittelbereich galten jeweils Richtgrößen von 10,47 DM (für Mitglieder/Familienangehörige) und 21,17 DM (für Rentner), im Heilmittelbereich galt eine einheitliche Richtgröße von 0,01 DM je Versichertem.

b) Auch im Übrigen hat der Beklagte beanstandungsfrei das Verordnungsverhalten der Klägerin im Jahre 2000 anhand der für dieses Jahr geltenden Richtgrößen geprüft. Rechnerische Fehler sind hierbei weder geltend gemacht noch anderweitig ersichtlich.

Beurteilungsfehler des Beklagten sind ebenfalls nicht zu erkennen. Es wäre Sache des Klägerin gewesen, im Verfahren vor den sachkundig besetzten Prüfungsgremien ihre vertragsärztliche Tätigkeit betreffende Umstände in einer Form darzulegen, die den Schluss auf Praxisbesonderheiten oder zumindest gezielte Nachfragen erlauben. Nur sie hätte die dafür erforderlichen Tatsachen vortragen und Nachweise vorlegen können. Von dieser Möglichkeit hat sie jedoch bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Beklagten keinen Gebrauch gemacht. Soweit sie im Laufe des Gerichtsverfahrens erstmals darauf hinwies, dass der Beklagte im Rahmen der Richtgrößenprüfung für das Jahr 1999 bestimmte Praxisbesonderheiten anerkannt habe und sich die hierfür maßgeblichen Umstände im Jahr 2000 nicht geändert hätten, kann sie damit nicht gehört werden. Ihrer Mitwirkungsobliegenheit hatte sie im Verfahren vor den Prüfgremien zu genügen.Denn der Senat darf seiner Entscheidung keinen anderen Sachverhalt zugrunde legen als denjenigen, von dem der Beklagte richtigerweise ausgegangen ist. Die Gerichte prüfen insofern nämlich nur, ob der Beklagte seiner Entscheidung einen richtig und vollständig ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt hat.

Ein Sachverhalt ist dann richtig und vollständig ermittelt, wenn der Beklagte zum Zeitpunkt seiner Entscheidung unter Beachtung des Amtsermittlungsgrundsatzes alle entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte ermittelt und diese in seine Entscheidung eingestellt hat. Versäumt es ein Vertragsarzt, den Beklagten auf nur ihm – dem Arzt – bekannte, ihm günstige Gesichtspunkte hinzuweisen, wird die Entscheidung des Beklagten, die diese Gesichtspunkte nicht berücksichtigt, schon deshalb nicht unvollständig und fehlerhaft, weil der Beklagte diese Gesichtspunkte nicht berücksichtigen konnte. Daraus folgt, dass der Vertragsarzt mit dem Vortrag der ausschließlich ihm schon im Verwaltungsverfahren bekannten Umstände im Klageverfahren ausgeschlossen ist. Andernfalls liefe die Sachentscheidungskompetenz des Beklagten, die in seinem Beurteilungs- und Ermessensspielraum besteht, leer, weil der Vertragsarzt es in der Hand hätte, durch ein Zurückhalten relevanten Tatsachenvortrags bis zum sozialgerichtlichen Verfahren jede Entscheidung des Beklagten rechtswidrig werden zu lassen. Nur diese strenge Sichtweise garantiert, dass der (bewusst) möglichst spät substantiiert vortragende Arzt nicht dadurch privilegiert wird, dass das (ver)späte(te) Vorbringen wegen fehlender Berücksichtigung in den Prüfbescheiden regelmäßig zu deren Aufhebung und der Verurteilung zur Neubescheidung führt (vgl. BSG, Urteil vom 15. November 1995, Az.: 6 RKa 58/94, veröffentlicht in Juris; Senat, Urteil vom 31. August 2011, Az.: L 7 KA 157/07, demnächst veröffentlicht in Juris).

Ist somit das verspätete klägerische Vorbringen zu möglichen Praxisbesonderheiten im Jahre 2000 unbeachtlich, folgt aus dem Umstand, dass der Beklagte bei der Richtgrößenprüfung für das Vorjahr Praxisbesonderheiten in bestimmtem Umfang anerkannt hat, nichts anderes. Denn es gibt keinen Automatismus, Umstände, die bei der Prüfung des Vorjahres als Praxisbesonderheit anerkannt wurden, auch bei der Prüfung des Folgejahres als solche zu werten. Zum einen bedarf es regelmäßig einer genauen Untersuchung, ob diese Umstände tatsächlich in beiden Jahren unverändert vorlagen: So ist im Falle der Klägerin denkbar, dass sich die Zahl der Glaukompatienten oder der postoperativ zu betreuenden Patienten – warum auch immer – in nicht unerheblichem Umfang geändert hat, oder dass sich bei den einzelnen Patienten das Ausmaß der Erkrankung geändert hat, sodass nunmehr andere therapeutischen Maßnahmen angezeigt sind. Zum zweiten können sich die für die Vergleichsgruppe – in der Regel die ärztliche Fachgruppe, hier also die Augenärzte – relevanten Daten geändert haben; möglicherweise liegen im Folgejahr auch erstmals valide Daten vor, die zu modifizierten Voraussetzungen für die Annahme einer Praxisbesonderheit führen. Zum dritten könnte eine Senkung der Abgabepreise, z.B. für Arzneimittel, dazu führen, dass die Behandlung einer bestimmten Erkrankung nur noch in geringerem Umfang oder überhaupt keine überdurchschnittliche Kosten (mehr) verursacht, sodass sich eventuell der wegen der Praxisbesonderheit abgesetzte Verordnungskostenbetrag reduziert oder eine Praxisbesonderheit nicht mehr zu bejahen ist. Dies alles zu prüfen, haben die Prüfgremien aber nur dann Anlass, wenn der Vertragsarzt – anders als die Klägerin – auch im Folgejahr die im Vorjahr anerkannten Praxisbesonderheiten geltend macht. Ohne einen solchen Hinweis würden Ermittlungen der Prüfgremien zu den o.g. Punkten „ins Blaue hinein“ erfolgen; hierzu besteht keine rechtliche Verpflichtung.

Der Beklagte durfte daher mit Recht davon ausgehen, dass die klägerische Praxis im Jahre 2000 keine Praxisbesonderheiten aufwies.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Absatz 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Absatz 2 SGG nicht vorliegen.