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Grundsicherung für Arbeitsuchende - Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung - Diabetiker mellitus Typ II - Vollkost - Empfehlung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. zur Gewährung von Krankenkostenzulagen in der Sozialhilfe vom 01.10.2008


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 25. Senat Entscheidungsdatum 01.03.2012
Aktenzeichen L 25 AS 469/10 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 21 Abs 5 SGB 2

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 18. Februar 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist ein Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung.

Die 1962 geborene Klägerin leidet an einem Diabetes mellitus Typ II und bezieht von dem Beklagten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). In der Vergangenheit hatte der Beklagte der Klägerin wegen ihrer Diabetes-Erkrankung Leistungen wegen eines Mehrbedarfes für kostenaufwändige Ernährung in Höhe von monatlich 51,13 Euro bewilligt. Am 19. Mai 2009 beantragte die Klägerin Leistungen für den Bewilligungszeitraum ab dem 1. Juli 2009 und machte dabei auch einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung geltend. Der Beklagte bewilligte ihr indes mit Bescheid vom 27. Mai 2009 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 6. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 2009 für den Zeitraum vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2009 neben den hier nicht streitgegenständlichen Leistungen für Unterkunft und Heizung lediglich den monatlichen Regelsatz in Höhe von 359,- Euro.

Hiergegen hat die Klägerin am 28. Juli 2009 Klage erhoben. Im Klageverfahren hat sie eine Stellungnahme ihrer behandelnden Ärztin Dr. T vom 16. September 2009 vorgelegt. Diese hat ausgeführt, dass neben der medikamentösen Therapie die Einhaltung eines adäquaten Ernährungsregimes eine Behandlungssäule sei. Dabei handele es sich um eine bilanzierte, ballaststoffreiche normale Mischkost; auf spezielle so genannte Diabetesnahrungsmittel könne verzichtet werden. Ob der Erwerb von zum Beispiel kalorienreduzierten oder zuckerreduzierten Lebensmitteln, zu denen die Klägerin zur besseren Steuerung ihres Stoffwechsels vielleicht häufiger greife, mit höherem finanziellen Aufwand verbunden sei, könne sie nicht beurteilen.

Die Klägerin hat handschriftlich „Gründe für Mehrbedarf“ verfasst. 30,- Euro (sie und die nachfolgenden Euro-Beträge sollen monatlich anfallen) seien für schadstoffarmes Obst und Gemüse aus deutschem Anbau aufzuwenden, da das andere belastet von Schadstoffen und krebserregend sei. Da „Insulin dies auch tu[e]“, könne sie diese Lebensmittel nicht zu sich nehmen; es könne nur lose Ware gekauft werden, die teurer sei. 12,- Euro seien für Roggen- und Vollkornbrötchen (zwei Stück am Tag) aufzuwenden. Wegen einer Niereninsuffizienz müsse sie vier Liter am Tag trinken, also zwei Flaschen mehr als andere; bei zu hohem Zucker müsse sie fast täglich einen Liter mehr trinken. Der Mehrbedarf belaufe sich auf 30,- Euro; da sie deswegen auch mehr Toilettenpapier verbrauche, falle ein weiterer Mehrbedarf von 1,90 Euro an. Zur Bekämpfung von Unterzucker benötige sie einen Mehrbedarf von 15,- bis 20,- Euro begründende „schnelle Kohlenhydrate“, Traubenzucker und Saft. Für vom Arzt „angeordneten“ Reha-Sport fielen 8,- Euro an, für zwei Mal in der Woche Schwimmen 40,- Euro.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht die Klage durch Gerichtsbescheid vom 18. Februar 2010 abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 21 Abs. 5 SGB II lägen nicht vor. Soweit die Klägerin Mehrkosten für Schwimmen und Toilettenpapier geltend mache, dienten diese Aufwendungen bereits nicht der Ernährung. Auf spezielle Diabetes-Produkte sei die Klägerin auch nach Mitteilung ihrer behandelnden Ärztin nicht angewiesen. Auch im Übrigen seien unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles und der Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V. (nachfolgend: DV) keine weiteren Ermittlungen angezeigt. Denn nach diesen Empfehlungen sei bei Diabetes mellitus kein ernährungsbedingter Mehrbedarf, sondern Vollkost angezeigt.

Gegen den ihr am 26. Februar 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 9. März 2010 Berufung eingelegt. Bei den Empfehlungen des DV handele es sich um kein antizipiertes Sachverständigengutachten; sie seien zudem unzutreffend. Die Stellungnahmen und Gutachten, die zur Überarbeitung der ursprünglich einen Mehrbedarf bei Diabetes mellitus Typ II vorsehenden Empfehlungen geführt hätten, seien weder unumstritten, noch beruhten sie auf einem aktuellen Vergleich der Kosten einer normalen Ernährung mit der für einen Diabeteskranken erforderlichen Ernährung. Die Klägerin hat eine weitere handschriftliche Aufstellung vorgelegt, die den ernährungsbedingten Mehrbedarf begründen soll. Der monatliche Mehrbedarf belaufe sich auf 5,20 Euro für Diabetiker-Marmelade, zum Beispiel von „Natreen“, 22,50 Euro für Vollkornbrötchen, 16,- Euro für Diät-Obst im Glas, 4,- Euro für Müsli-Riegel für zwischendurch, 132,- Euro für Saft von „Natreen“, 5,50 Euro für Pfannkuchen, 8,- Euro für Diät-Kuchen, 4,- Euro für Traubenzucker bei Unterzucker und 8,- Euro für zusätzliche Kohlenhydrate bei Unterzucker.

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 18. Februar 2010 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 27. Mai 2009 in der Fassung des Bescheides vom 6. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 2009 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr höhere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch für den Zeitraum vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2009 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt schriftlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (vgl. § 153 Abs. 1, § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>), ist nicht begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ist zutreffend. Die als Anfechtungs- und Leistungsklage (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 49/10 R – juris) zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist rechtmäßig. Höhere Leistungenzur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung (vgl. zu diesem Streitgegenstand BSG, a. a O.) für den Zeitraum vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2009 stehen der Klägerin nicht zu.

Die Klägerin ist im streitigen Zeitraum leistungsberechtigt als erwerbsfähige Hilfebedürftige gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der Fassung desRV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20. April 2007 (BGBl. I S. 554). Damit hat sie Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der hier nicht streitgegenständlichen angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Die Klägerin hat aber wegen der von ihr für erforderlich gehaltenen Ernährung keinen Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung.

Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, erhalten nach § 21 Abs. 5 SGB II in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes vom 24. Dezember 2003 (BGBl I S. 2954) einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Voraussetzung ist eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die eine Ernährung erforderlich macht, deren Kosten höher („aufwändiger") sind als dies für Personen ohne eine solche Einschränkung der Fall ist (vgl. BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 49/10 R – juris, m. w. N.). Für die Beurteilung, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe einem Hilfebedürftigen ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung zusteht, können für den hier streitgegenständlichen Zeitraum die Empfehlungen des DV zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe vom 1. Oktober 2008 (Empfehlungen 2008) jedenfalls als Orientierungshilfe herangezogen werden. Weitere Ermittlungen sind im Einzelfall nur dann erforderlich, sofern Besonderheiten, insbesondere von den Empfehlungen abweichende Bedarfe, substantiiert geltend gemacht werden (vgl. BSG, Urteil vom 10. Mai 2011 – B 4 AS 100/10 R – zu den Empfehlungen 1997; Urteil vom 27. Februar 2008 – B 14/7b AS 64/06 R – juris). Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Nach den Empfehlungen 2008 (II.2 Nr. 4.1, III.) ist bei einer Erkrankung an Diabetes mellitus (Typ I und II, konventionell und intensiviert konventionell behandelt) die Ernährung mit einer so genannten Vollkost regelmäßig erforderlich, aber auch ausreichend. Eine solche Ernährung unterfällt aber nicht dem Anwendungsbereich des § 21 Abs. 5 SGB II, weil es sich bei der Vollkost nicht um eine Krankenkost handelt, sondern um eine Ernährungsweise, die auf das Leitbild des gesunden Menschen Bezug nimmt und deshalb aus den Regelleistungen nach dem SGB II zu bestreiten ist (vgl. BSG, Urteil vom 10. Mai 2011 – B 4 AS 100/10 R – juris). Die Notwendigkeit einer kostenaufwändigeren speziellen Diabeteskost wird im Unterschied zu den Empfehlungen 1997 auch für den hier vorliegenden Fall einer Erkrankung an Diabetes Mellitus Typ II nicht mehr gesehen, weil den Empfehlungen 2008 zufolge neuere wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, wonach sich auch die in diesem Fall erforderliche Basiskost grundsätzlich nicht von der im Rahmen der Primärprävention zur Gesunderhaltung empfohlenen Ernährungsweise unterscheidet. Dies liegt zum einen in der Fortentwicklung der Insulintherapie und der Entwicklung neuer Medikamente und zum anderen darin begründet, dass in wissenschaftlichen Studien der Vorteil spezifischer Diabetiker-Sondernahrungen nicht nachgewiesen werden konnte (vgl. Begründung zur Sechzehnten Verordnung zur Änderung der Diätverordnung vom 1. Oktober 2010 <BGBl. I S. 1306>, BR-Drucksache 475/10, S. 7 ff.; Deutsche Diabetes Gesellschaft, Kennzeichnung von Diabetiker-Lebensmitteln muss sich ändern, www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/redaktion/news/Kennzeichnung_von_Diabetiker-Lebensmitteln_28102007.pdf).

Einen hiervon abweichenden Bedarf hat die Klägerin nicht substantiiert geltend gemacht. Ihrem Vorbringen lässt sich nicht die Notwendigkeit einer speziellen Diabeteskost entnehmen. Vielmehr entspricht der von der Klägerin geltend gemachte Ernährungsbedarf im Wesentlichen der in den Empfehlungen 2008 empfohlenen Vollkost, die jedoch, wie bereits ausgeführt, aus der Regelleistung zu bestreiten ist. In Bezug auf spezielle Diabetesnahrungsmittel (Diabetiker-Marmelade, Diät-Obst, Diät-Kuchen) hat auch die behandelnde Ärztin eine Notwendigkeit einer kostenaufwändigen Kost nicht erkannt. Die Notwendigkeit des in dieser Höhe erstmals im Berufungsverfahren geltend gemachten Mehrbetrages von 132,- Euro monatlich für Saft von „Natreen“ ist offenkundig nicht begründbar.

Soweit die Klägerin die Richtigkeit der Empfehlungen 2008 in Zweifel zieht, kann dem nach den obigen Ausführungen ebenfalls nicht gefolgt werden, zumal die Empfehlungen maßgeblich auf den dort zitierten wissenschaftlichen Quellen (Das Rationalisierungsschema 2004 des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner und anderer Fachverbände, Aktuelle Ernährungsmedizin, Ausgabe 29/2004, S. 245; Wissenschaftliche Ausarbeitung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. zum Thema Lebensmittelkosten im Rahmen einer vollwertigen Ernährung, April 2008, www.dge.de/pdf/ws/Lebensmittelkosten-vollwertige-Ernaehrung.pdf; Toeller u. a., Evidenz-basierte Ernährungsempfehlungen zur Behandlung und Prävention des Diabetes mellitus, Diabetes und Stoffwechsel Ausgabe 14/2005, S. 75) beruhen, denen eine umfassende Erhebung und Auswertung von Daten zu entnehmen ist (vgl. dazu LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21. September 2010 – L 20 AS 1317/10 B ER – juris).

Der Klägerin steht für den streitgegenständlichen Zeitraum auch kein Anspruch auf höhere Regelleistungen zu. Der Beklagte hat die ihr zustehenden Regelleistungen in Höhe von 359,- Euro monatlich für den streitigen Zeitraum in vollem Umfang gewährt. Soweit das Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 u. a. –, BVerfGE 125, 175) die Höhe der Regelleistungen mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt hat, ergibt sich daraus für die Klägerin kein Anspruch auf höhere Regelleistungen, weil der Gesetzgeber mit der Entscheidung lediglich verpflichtet wurde, die Regelleistungen für die Zukunft neu festzusetzen. Schließlich kann die Klägerin auch nicht aus sonstigen Gründen einen ernährungsbedingten Sonderbedarf außerhalb des Anwendungsbereiches des § 21 Abs. 5 SGB II geltend machen (vgl. BSG, Urteil vom 10. Mai 2011 – B 4 AS 100/10 R – juris).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.