Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 27. Senat | Entscheidungsdatum | 18.10.2010 | |
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Aktenzeichen | L 27 P 48/10 B ER | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 86b SGG |
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juni 2010 geändert und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Januar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. April 2010 und des Bescheides vom 2. Juni 2010 mit Wirkung bis längstens zum 31. Januar 2011 angeordnet. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Kosten für das Verfahren in beiden Instanzen zu 2/3 zu erstatten. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
Die zulässige Beschwerde hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Gem. § 86b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen die Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung hat, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Voraussetzung hierfür ist, dass das Interesse des Einzelnen an der aufschiebenden Wirkung gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Bescheides überwiegt. Dies ist entgegen der Ansicht des Sozialgerichts in Fällen eines durch den Gesetzgeber vorgesehenen Entfallens der aufschiebenden Wirkung nicht erst dann anzunehmen, wenn der angegriffene Verwaltungsakt offenkundig rechtswidrig ist, sondern es ist analog der in § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG enthaltene Maßstab für eine Aussetzung der Vollziehung durch die Verwaltung heranzuziehen. Danach soll die Aussetzung der Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. So liegt es, wenn der Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlicher ist als sein Misserfolg (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. April 2009, L 20 AS 302/09 B ER, Juris, Randnr. 15).
Bei der im Verfahren zur Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen aber auch ausreichenden summarischen Prüfung bestehen in dem genannten Sinne ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide, mit denen die Antragsgegnerin das der Antragstellerin ursprünglich bewilligte Pflegegeld für Pflegebedürftige der Pflegestufe III gem. § 37 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Elftes Buch (SGB XI) auf ein solches für Pflegebedürftige der Pflegestufe II herabgesetzt hat. Grundlage für eine solche Herabsetzung ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X). Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.
Soweit sich die Antragsgegnerin auf eine solche Änderung der Verhältnisse beruft und hierzu auf die Begutachtung der Antragstellerin durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) vom 18. September 2009 sowie die Stellungnahmen der dabei eingesetzten Gutachterin vom 6. November 2009 Bezug nimmt, begegnet dies durchgreifenden Bedenken. Die Aussage- und Überzeugungskraft jenes Gutachtens ist unter mehreren Gesichtspunkten in Frage zu stellen. So wendet die Antragstellerin überzeugend ein, die Mitarbeiterin des MDK habe sich von ihrer Hilfsbedürftigkeit nur sehr eingeschränkt ein Bild machen können, weil sie die Antragstellerin am Tag der Begutachtung bettlägerig erkrankt angetroffen hätte, so dass nur eine sehr kursorische Untersuchung in liegendem Zustand hätte durchgeführt werden können. Das Vorbringen der Antragstellerin zu ihrer Bettlägerigkeit am Begutachtungstag wird durch das Gutachten des MDK bestätigt. Zwar hat die Mitarbeiterin des MDK in ihrer Stellungnahme vom 6. November 2009 angegeben, die rechte Körperhälfte sei funktionstüchtig, die Kraft der rechten Hand abgeschwächt, jedoch ohne Beeinträchtigung der Greif und Haltefunktion gewesen, doch hat sie ebenso wie in ihrem Gutachten zur Begründung der Pflegestufe II darauf Bezug genommen, dass die Antragstellerin sich im Juli 2008 zu einer stationären Reha befunden habe, bei der geringe Erfolge hinsichtlich der Mobilität hätten erzielt werden können. Es seien eine vermehrte Ressourcennutzung und eine geringe Zustandsverbesserung zu verzeichnen. Wie die Mitarbeiterin des MDK sich ein eigenes Bild von der Mobilität und der Ressourcennutzung der nur liegend angetroffenen Antragstellerin gemacht haben will, erschließt sich aber nicht. Offenbar ist insofern eine Übernahme von Teilen des Abschlussberichtes vom 29. Juli 2008 über den Aufenthalt in der stationären Reha erfolgt, obwohl dieser selbst den offenbar kaum zu verzeichnenden Erfolg dokumentiert. So lautet der Befund:
„Frau S war bei Entlassung bei allen notwendigen Transfers auf ausgeprägte Fremdhilfe angewiesen, in der Lage kurzzeitig mit Hilfe zu stehen und mit Zuhilfenahme von zwei Krankengymnastinnen einige Schritte zu laufen. Bei der Ausübung der Aktivitäten des täglichen Lebens ist sie weiterhin auf ausgeprägte Fremdhilfe angewiesen.“
Darüber hinaus enthält das vom MDK erstellte Gutachten selbst ein deutliches Indiz dafür, dass ein etwaiger Erfolg der Reha nur von kurzer Dauer gewesen sein könnte. Denn die Klägerin musste nach einem Sturz auf den linken Unterschenkel und Fuß bereits im August 2008 erneut für mehrere Wochen in stationäre Behandlung aufgenommen werden, als deren Ergebnis ihr nach dem im Gutachten zitierten Entlassungsbericht nur mit Hilfe Transfers in den Rollstuhl sowie einige Schritte im Zimmer gelungen seien.
Vor dem Hintergrund einer angeblich festzustellenden verbesserten Mobilität und vermehrten Ressourcennutzung durch die Antragstellerin erscheint es ohne nähere Erläuterung auch wenig plausibel, dass in den Bereichen Körperpflege und Mobilität eine signifikante Verringerung des Hilfebedarfes, für die mundgerechte Zubereitung von Nahrung zugleich aber eine Erhöhung des Pflegebedarfes festzustellen gewesen sein soll. Ohne das Hinzutreten besonderer Umstände wäre hier eine gleichläufige Entwicklung zu erwarten.
Die Hilfsbedürftigkeit der Antragstellerin im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung wird daher im anhängigen Klageverfahren näher aufzuklären sein. Soweit das Sozialgericht in dem angegriffenen Beschluss ausführt, es sei nicht davon auszugehen, dass die Antragstellerin in der Hauptsache obsiegen werde, weil sie die Einschätzung des MDK nicht widerlegt und ärztliche Stellungnahmen dazu nicht vorgelegt habe, entspricht dies nicht der Beweislastverteilung im Klageverfahren. In einem Verfahren, mit dem dauerhaft bewilligte Leistungen wegen veränderter tatsächlicher Umstände auf der Grundlage von § 48 Abs. 1 SGB X herabgesetzt werden, trifft für das Vorliegen der geltend gemachten veränderten Umstände die Behörde die materielle Beweislast. Anders liegt es erst, wenn der Leistungsempfänger sich in einer Weise obstruktiv verhält, die als Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben anzusehen ist und daher eine Umkehr der Beweislast rechtfertigt, etwa weil Untersuchungen verweigert werden bzw. an ihnen nicht in genügender Weise mitgewirkt wird (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O., Randnr. 26). Dass diese Grenze hier erreicht gewesen wäre, kann auch angesichts der im Verwaltungsvorgang dokumentierten mehrfachen vergeblichen Versuche des MDK zur Begutachtung der Antragstellerin nicht festgestellt werden, da es letztlich zu der Untersuchung am 18. September 2009 gekommen ist.
Ausgehend von der aufgezeigten weiteren Aufklärungsbedürftigkeit der tatsächlichen Umstände und der Zweifelhaftigkeit der Feststellungen des MDK ist nach Überzeugung des Senats nach gegenwärtigem Erkenntnisstand ein Erfolg der Hauptsachenklage wahrscheinlicher als deren Misserfolg. Dies rechtfertigt und gebietet die Anordnung der aufschiebenden Wirkung.
Im Wege des von § 86b SGG eröffneten Ermessens hält der Senat allerdings eine Befristung der aufschiebenden Wirkung bis zum 31. Januar 2011 für angemessen, um Gelegenheit zu weiterem Vortrag bzw. zur Sachaufklärung zu geben; insoweit war die Beschwerde zurück zu weisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die Antragstellerin mit ihrem Antrag auf unbefristete Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht vollständig hat durchsetzen können.
Dieser Beschluss ist gem. § 177 SGG unanfechtbar.