Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 08.12.2010 | |
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Aktenzeichen | L 13 SB 112/07 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 48 SGB 10, § 69 SGB 9 |
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Januar 2007 geändert.
Der Bescheid des Beklagten vom 16. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2004 wird hinsichtlich der darin enthaltenen Absenkung des GdB aufgehoben.
Der Beklagte wird unter Änderung der vorgenannten Bescheide und des Bescheides vom 9. November 2010 verpflichtet, bei dem Kläger ab April 2009 einen Grad der Behinderung von 100 festzustellen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).
Der Beklagte hatte bei dem 1952 geborenen Kläger mit Bescheid vom 13. Dezember 2001 einen Gesamt-GdB von 90 festgestellt und sich die Nachprüfung des Gesundheitszustandes für Dezember 2003 vorbehalten. Hierbei hatte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegt:
a) Myelodysplastisches Syndrom mit Knochenmarktransplantation 12/2000 (80),
b) Gleichgewichtsstörungen und Gangstörung nach toxischer Enzephalitis mit hirnorganischem Psychosyndrom und multiplen infektiösen Komplikationen (40),
c) Arbeitsunfallfolgen (20),
d) wiederkehrende Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre, chronische Gastritis (10),
e) wiederkehrende Periarthritis beider Schultern (10),
f) Herzfehler, Vorhofseptumaneurysma (10).
Den Verschlimmerungsantrag von April 2002 lehnte er mit Bescheid vom 14. Oktober 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2003 ab.
Auf den weiteren Verschlimmerungsantrag des Kläger vom 11. März 2004 setzte der Beklagte nach dessen Anhörung auf der Grundlage der gutachterlichen Stellungnahmen der Internisten Dr. S und Dr. T sowie des Dr. K mit Bescheid vom 16. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2004 den Gesamt-GdB auf 80 herab, wobei er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte:
a) Arbeitsunfallfolgen (20),
b) wiederkehrende Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre, chronische Gastritis (10),
c) wiederkehrende Periarthritis beider Schultern (10),
d) myelodysplastisches Syndrom mit Knochenmarktransplantation 12/2000 im Stadium der kompletten Remission (20),
e) Gleichgewichtsstörungen und Gangstörung nach toxischer Enzephalitis mit hirnorganischem Psychosyndrom und multiplen infektiösen Komplikationen (50),
f) chronische Leberentzündung – Hepatitis (30),
g) Herzfehler, Vorhofseptumaneurysma, Bluthochdruck (20).
Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Feststellung eines Gesamt-GdB von 100 begehrt. Neben Befundberichten hat das Sozialgericht das Gutachten des Allgemeinmediziners Dr. B vom 23. Juni 2006 eingeholt, der einen Gesamt-GdB von 80 vorgeschlagen hat.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 15. Januar 2007 abgewiesen. Es ist hierbei der Bewertung durch den Sachverständigen gefolgt.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er hat u.a. den Arztbericht der V GmbH vom 3. Januar 2007 über die Ende 2006 durchgeführte ambulante Rehabilitationsmaßnahme eingereicht. Der Senat hat diverse Befund- und Entlassungsberichte der den Kläger behandelnden Ärzte eingeholt. Ferner hat der Beklagte das externe Gutachten des Orthopäden Dr. V vom 2. April 2008 vorgelegt, wonach trotz Aufnahme eines weiteren Einzel-GdB von 20 für Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule und Osteoporose der Gesamt-GdB weiterhin mit 80 zu bewerten sei.
Auf den Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat den Orthopäden Dr. Th gehört, der sich im Gutachten vom 18. November 2009 im Hinblick auf die wesentlichen Verschlechterungen auf orthopädischem Gebiet für einen Gesamt-GdB von 90 ausgesprochen hat.
Der Senat hat schließlich Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Nervenarztes Dr. C vom 18. August 2010. Der Sachverständige hat vorgeschlagen, die Gleichgewichtsstörungen und Gangstörungen nach mehrzeitig aufgetretenen ZNS-Läsionen und das leichte hirnorganische Psychosyndrom ab 2009 mit einem GdB von 60 zu bewerten. Daraufhin hat der Beklagte mit Bescheid vom 9. November 2010 bei dem Kläger einen Gesamt-GdB von 90 ab April 2009 festgestellt. Folgende Einzel-GdB legte er hierbei zugrunde:
a) Gleichgewichtsstörungen und Gangstörungen nach toxischer Enzephalitis und mehrfache Hirninfarkte mit hirnorganischem Psychosyndrom und multiplen infektiösen Komplikationen (60),
b) myelodysplastisches Syndrom mit Knochenmarktransplantation 12/2000 nach Ablauf der Heilungsbewährung (30),
c) chronische Hepatitis B (30),
d) Arbeitsunfallfolgen (20),
e) Herzfehler, Vorhofseptumaneurysma, Bluthochdruck (20),
f) wiederkehrende Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre, chronische Gastritis (20),
g) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Osteoporose (20),
h) chronische Bronchitis, Lungenfunktionseinschränkung (20).
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Januar 2007 aufzuheben sowie
1. den Bescheid des Beklagten vom 16. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2004 hinsichtlich der darin enthaltenen Absenkung des GdB aufzuheben,
2. den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 16. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2004 und in der Fassung des Bescheides vom 9. November 2010, soweit diese eine Anhebung des GdB ablehnen, zu verpflichten, bei ihm ab März 2004 einen Grad der Behinderung von 100 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält an seinen Entscheidungen fest.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Die Berufung des Klägers hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Die Anfechtungsklage, die insoweit gegen den Bescheid vom 16. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2004 gerichtet ist, als der Beklagte den Gesamt-GdB auf 80 herabstufte, ist begründet. Denn in dem für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides betrug der Gesamt-GdB bei dem Kläger nicht lediglich 80, sondern unverändert 90.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in den Fassungen von 2004, 2005 und – zuletzt – 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.
Bei dem myelodysplastischen Syndrom mit Knochenmarktransplantation im Dezember 2000 (das im Übrigen den zutreffenden Hinweisen des Gutachters Dr. B zufolge in den Vorbescheiden nicht mit einem GdB von 80, sondern mit einem GdB von 100 hätte bewertet werden müssen) ist nach drei Jahren, also im Dezember 2003, Heilungsbewährung eingetreten. Nach Nr. 26.16 (S. 104) der AHP 2004 bzw. Teil B Nr. 16.8 (Bl. 79) der Anlage 2 zur VersMedV ist der GdB nicht niedriger als 30 zu bewerten. Demgegenüber stellte der Beklagte insoweit fälschlicherweise nur einen GdB von 20 ein.
Der Senat sieht hingegen keinen Anlass, von der Bewertung der Gleichgewichts- und Gangstörungen nach toxischer Enzephalitis mit hirnorganischem Psychosyndrom und multiplen infektiösen Komplikationen durch Beklagten mit einem GdB von 50 abzuweichen. Dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. B, diesen Komplex mit einem GdB von 40 zu bewerten, wird nicht gefolgt, da die Befundlage, wie der Gutachter einräumt, für den Zeitraum vor seiner Begutachtung lückenhaft ist. Aus den Einzel-GdB für
a) Arbeitsunfallfolgen (20),
b) wiederkehrende Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre, chronische Gastritis (10),
c) wiederkehrende Periarthritis beider Schultern (10),
d) myelodysplastisches Syndrom mit Knochenmarktransplantation 12/2000 im Stadium der kompletten Remission (30),
e) Gleichgewichtsstörungen und Gangstörung nach toxischer Enzephalitis mit hirnorganischem Psychosyndrom und multiplen infektiösen Komplikationen (50),
f) chronische Leberentzündung – Hepatitis (30),
g) Herzfehler, Vorhofseptumaneurysma, Bluthochdruck (20)
ist ein Gesamt-GdB von 90 zu bilden. Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Nr. 19 Abs. 3 der AHP bzw. Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Der Einzel-GdB von 50 für die Gleichgewichtsstörungen und Gangstörung nach toxischer Enzephalitis mit hirnorganischem Psychosyndrom und multiplen infektiösen Komplikationen ist im Hinblick auf die mit jeweils einem Einzel-GdB von 30 zu bewertenden chronische Hepatitis und das myelodysplastische Syndrom mit Knochenmarktransplantation 12/2000 im Stadium der kompletten Remission auf einen Gesamt-GdB von 90 heraufzusetzen. Die weiteren Funktionsbehinderungen sind nicht geeignet, den Gesamt-GdB zu erhöhen, soweit sie jeweils nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind. Denn nach Nr. 19 Abs. 4 der AHP bzw. Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Auch bei den leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es hier nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Die von dem Kläger erhobene Verpflichtungsklage, mit welcher er ab Stellung seines Verschlimmerungsantrags im März 2004 die Heraufsetzung seines Gesamt-GdB auf 100 begehrt, ist nur zum Teil begründet. Bis zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides bestehen für die Annahme eines Gesamt-GdB von 100 keinerlei Anhaltspunkte.
Auch die von Dr. B festgestellten Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule und die Osteoporose führen zu keiner Anhebung des Gesamt-GdB auf 100. Der Orthopäde Dr. V, der diesen Komplex in seinem Gutachten vom 2. April 2008 mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet hat, hat überzeugend dargelegt, dass diese Leiden sich nicht wesentlich verschlimmernd, insbesondere hinsichtlich der Mobilität, auswirken. Ein eigenständiges Schmerzsyndrom hat er nicht feststellen können; Paresen sind nicht nachweisbar gewesen.
Der Gesamt-GdB von 90 ist auch nicht im Hinblick auf die Ausführungen des Orthopäden Dr. Th in dem nach § 109 SGG eingeholten Gutachten vom 18. November 2009 anzuheben. Dessen Vorschlag, die Funktionseinschränkungen der oberen und unteren Sprunggelenke sowie der Zehengelenke mit einem GdB von 25 zu bewerten, ist nicht nachvollziehbar. Angesichts der Bewegungsmaße des linken oberen Sprunggelenks von 5-0-20° liegt – entgegen der Ansicht der Chirurgin H in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 23. Februar 2010 – bereits eine Bewegungseinschränkung stärkeren Grades vor, die nach Nr. 26.18 der AHP bzw. Teil B Nr. 18.14 (Bl. 101) der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten ist. Zutreffend ist dagegen der Hinweis der Versorgungsärztin, dass eine nur um ein Viertel eingeschränkte Beweglichkeit im linken unteren Sprunggelenk keinen GdB von 10 nach sich zieht. Eine Erhöhung des Gesamt-GdB ist damit – entsprechend der Regel in Nr. 19 Abs. 4 der AHP bzw. Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV – nicht verbunden.
Im Hinblick auf die überzeugenden Ausführungen des Nervenarztes Dr. C im Gutachten vom 18. August 2010, wonach die Gleichgewichtsstörungen und Gangstörungen nach mehrzeitig aufgetretenen ZNS-Läsionen und das leichte hirnorganische Psychosyndrom ab 2009 mit einem GdB von 60 zu bewerten sind, ist der Gesamt-GdB auf 100 anzuheben. Maßgeblich ist auf den Zeitpunkt abzustellen, an dem der Kläger den Mediainfarkt mit Hemiparese rechts und Gangstörung mit erforderlicher Gehhilfe erlitten hatte, also auf den 7. April 2009.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dem Beklagten waren die gesamten Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen, da der Kläger nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.