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Entscheidung 1 Ws 151/11


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 1. Strafsenat Entscheidungsdatum 06.10.2011
Aktenzeichen 1 Ws 151/11 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Leitsatz

Die Strafaussetzung kann aus Verhältnismäßigkeitsgründen nicht widerrufen werden, wenn die Bewährungszeit zwar nachträglich formell wirksam verlängert wurde, der Verlängerungsbeschluss jedoch aus Rechtsgründen nicht hätte ergehen dürfen
(hier: zur Verlängerung führende "Anlasstat" war nicht strafbar) § 56 f Abs. 1 Nr. 1, 56 f Abs. 2 Nr.1 StGB.

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ... vom 30. März 2011 aufgehoben.

Die Vollstreckung der Reststrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts ... vom 9. Juli 2002 - 70 Ls 125/01 - wird erlassen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten hat die Landeskasse zu tragen.

Gründe

I.

Durch Beschluss vom 20. Juli 2006 (rechtskräftig seit dem 2. August 2006) setzte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ... die Vollstreckung der Reststrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts ... vom 9. Juli 2002 - 70 Ls 125/01 - für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung aus.

Während der Bewährungszeit wurde der Beschwerdeführer durch Strafbefehl des Amtsgerichts ... – 88 Cs 420/Js 24917/07 (230/07) - vom 16. Juli 2007 rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 15,- € verurteilt. In den Strafbefehl wurde dem Beschwerdeführer zur Last gelegt, er habe am 16. April 2007 den Tatbestand der Unterschlagung (§ 246 Abs. 1 StGB) erfüllt, „indem Sie ein Snowboard im Wert von 350,- €, welches Eigentum der Zeugin …. ist und in Ihrem Besitz hatten und dies erst nach Erstattung der Anzeige durch die Zeugin an diese zurückgaben.“ Die Staatsanwaltschaft ... beantragte daraufhin am 19. November 2007, die Bewährungszeit um ein Jahr zu verlängern. Aus der daraufhin von der Strafvollstreckungskammer beigezogenen Ermittlungsakte ergab sich, dass der Beschwerdeführer der Zeugin … mehrere Monate vor der „Tat“ einen Geldbetrag von 200,- € geliehen hatte, welchen er unstreitig trotz wiederholter Mahnungen nicht zurückerhalten hatte. Daraufhin hatte er die Zeugin ... angerufen und angekündigt, dass sie ihr Snowboard erst zurückerhalte, wenn sie ihm die 200,- € zurückzahle. Nachdem die Zeugin …. - nach der Anzeigenerstattung - dem Beschwerdeführer das Geld zurückgezahlt hatte, hatte sie ihr Snowboard von dem Beschwerdeführer umgehend zurückerhalten.

Nachdem die Strafvollstreckungskammer zunächst Bedenken gegen die beantragte Verlängerung der Bewährungszeit geäußert hatte, wurde die Bewährungszeit schließlich nach einem Bearbeiterwechsel durch äußerst knappen Formularbeschluss vom 4. März 2010 um ein Jahr verlängert. Der Verlängerungsbeschluss wurde dem Beschwerdeführer nicht zugestellt, sondern am 22. März 2010 formlos übersandt. Jedoch teilte dessen Bewährungshelfer am 31. März 2010 mit, dass der Beschwerdeführer ihm den Beschluss vom 4. März 2010 heute ausgehändigt habe.

Bereits am 25. November 2009 hatte der Beschwerdeführer begonnen, seinen Lebens- und Kokainbedarf auch durch die Begehung von Straftaten zu finanzieren, indem er fremde Kraftfahrzeuge stahl und anschließend weiter veräußerte. Die Begehung derartiger Straftaten setzte der Beschwerdeführer auch fort, nachdem er den Verlängerungsbeschluss vom 4. März 2010 erhalten hatte. Durch Urteil des Landgerichts … vom 7. Dezember 2010 wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahls im besonders schweren Fall in elf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Ferner wurde die Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Aus den Urteilsgründen ergibt sich, dass der Beschwerdeführer zwei Taten vor Erlass des Verlängerungsbeschlusses, eine Tat am 12. März 2009 und sieben Taten nach Erhalt des Verlängerungsbeschlusses begangen hatte.

Durch den angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ... die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen. Zur Begründung heißt es in dem äußerst knappen Beschluss lediglich, der Beschwerdeführer habe in der Bewährungszeit elf Straftaten des Diebstahls im besonders schweren Fall begangen. Der angefochtene Beschluss verhält sich weder zu der Frage, ob die Straftaten vor oder nach Erlass bzw. Erhalt des Verlängerungsbeschlusses begangen wurden, noch dazu, ob die Bewährungszeit überhaupt hätte verlängert werden dürfen.

II.

Die gemäß § 453 Abs. 2 Satz 3 StPO statthafte sofortige Beschwerde des Verurteilten ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden. Sie hat auch in der Sache Erfolg.

Die Strafe war gemäß § 56 g StGB zu erlassen, weil die Bewährungszeit abgelaufen ist und die Voraussetzungen für den Widerruf der Strafaussetzung nicht vorliegen.

Der Widerruf der Strafaussetzung gemäß § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt insbesondere voraus, dass der Verurteilte eine Straftat in der Bewährungszeit begangen hat.

Vorliegend beruhte der Widerruf der Strafaussetzung ausschließlich auf Straftaten, die der Verurteilte nach Ablauf der ursprünglich festgesetzten, jedoch innerhalb der nachträglich verlängerten Bewährungszeit begangen hatte. Auf diese Taten konnte der Widerruf letztlich nicht gestützt werden.

1. Der Widerruf der Strafaussetzung wegen der Taten, die der Beschwerdeführer zwischen dem Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und dem Erhalt des Verlängerungsbeschlusses beging, ist unzulässig.

Im Hinblick auf den verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz des Vertrauensschutzes kann ein Widerruf grundsätzlich nicht auf solche Straftaten gestützt werden, die während eines Zeitraums begangen wurden, in dem der Täter von dem rückwirkenden Beschluss über die sich nahtlos anschließende Bewährungszeit noch keine Kenntnis hatte. In dieser Zwischenzeit ist es für den Betroffenen offen, ob die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen, die Bewährungszeit verlängert oder die Strafe erlassen wird. Er steht deshalb subjektiv nicht unter dem Druck, sich bewähren zu müssen und darf daher mit der nachträglichen Konsequenz des Widerrufs nicht überrascht werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 1995 -2 BvR 168/95 – mit zahlreichen Hinweisen auf die entsprechende Rechtsprechung, SK-Schall, StGB, § 56 f Rnr. 11 m.w.N.; Fischer, StGB, 57. Auflage, § 56 f Rnr. 3a m.w.N.). Nur dann, wenn kein Vertrauenstatbestand gegeben ist, weil der Betroffene aufgrund konkreter Umstände, etwa die Kenntnis von einem Antrag der Staatsanwaltschaft über die Verlängerung der Bewährungszeit oder der Mitteilung des Gerichts, dass die Verlängerung geprüft werde, kein Vertrauen aufbauen konnte, kommt ein Widerruf ausnahmsweise in Betracht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 1995 -2 BvR 168/95 –, zitiert nach Juris; Senatsbeschluss vom 17. März 2004 – 1 Ws 29/04 -; OLG Frankfurt, Beschluss vom 10. April 2008 - 3 Ws 331/08 -, zitiert nach Juris; OLG Hamm, Beschluss vom 20. Oktober 2009 -3 Ws 386/09 –, zitiert nach Juris; Fischer, StGB, 58. Auflage, § 56 f Rnr. 3a m.w.N.).

Vorliegend wurde der Verlängerungsbeschluss zweieinhalb Jahre nach Rechtskraft des gegen den Beschwerdeführer ergangenen Strafbefehls des Amtsgerichts ... vom 16. Juli 2007 und zwei Jahre und fünf Monate, nachdem die Staatsanwaltschaft die Verlängerung der Bewährungszeit beantragt hatte, erlassen.

2. Wegen der Taten, die der Beschwerdeführer nach Kenntnisnahme des Verlängerungsbeschlusses beging, ist der Widerruf der Strafaussetzung ebenfalls unzulässig.

Nach Auffassung des Senats kann die Strafaussetzung auch dann nicht widerrufen werden, wenn die Bewährungszeit zwar nachträglich formell wirksam verlängert wurde, der Verlängerungsbeschluss jedoch aus Rechtsgründen nicht hätte ergehen dürfen. Ein Verlängerungsbeschluss, der auf keiner rechtlichen Grundlage beruhte, kann keine Grundlage für einen Widerruf der Strafaussetzung sein. Es wäre nämlich unverhältnismäßig, insbesondere mit dem Freiheitsgrundrecht eines Verurteilten nicht vereinbar, die Strafaussetzung zu widerrufen, obwohl die materiellen Voraussetzungen für einen Bewährungswiderruf nicht gegeben sind.

Vorliegend lagen die rechtlichen Voraussetzungen für die Verlängerung der Bewährungszeit nicht vor.

Die Verlängerung der Bewährungszeit setzt gemäß § 56 f Abs. 2 Nr.1 StGB voraus, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf der Strafaussetzung gemäß § 56 f Abs. 1 StGB vorliegen, jedoch eine Verlängerung der Bewährungszeit ausreichend ist. Der Widerruf der Strafaussetzung nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass die schuldhafte Begehung einer Straftat in der Bewährungszeit zur Überzeugung des über den Widerruf befindenden Gerichts erwiesen ist (vgl. BVerfG NStZ 1987,118; KG, Beschluss vom 30. Juni 2005 – 5 Ws 291/05 – m.w.N.; MüKo-Groß, StGB, § 56 f Rnr. 40 m.w.N.; Lackner/Kühl, StGB, 27. Auflage, § 56 f Rnr. 3; Fischer, StGB, 58. Auflage, § 56 f Rnrn. 4, 5 m.w.N.). Das für den Widerruf zuständige Gericht ist dabei nicht an die rechtskräftige Entscheidung eines anderen Gerichts gebunden. Es darf sich zwar auf ein rechtskräftiges Urteil stützen und sich dadurch die Überzeugung von Art und Ausmaß der Schuld des Täters verschaffen. Dies gilt aber dann nicht, wenn die Gründe eines rechtskräftigen Urteils den Schuldspruch nicht tragen, wenn dem Widerrufsgericht aufgrund anderer Beweismittel die Unschuld des Verurteilten bekannt ist, es die Rechtsauffassung des Tatrichters nicht teilt oder wenn sich im Strafbefehlsverfahren dessen typische, mit seinem summarischen Charakter zusammenhängende Risiken für die Ermittlung des wahren Sachverhalts verwirklicht haben (vgl. KG, Beschlüss vom 13. Juli 2005 - 5 Ws 356/05 – m.w.N. und vom 30. Juni 2005 – 5 Ws 291/05 – m.w.N.; OLG Düsseldorf, StV 1996, 45; OLG Zweibrücken, StV 1991, 270; MüKo-Groß, StGB, § 56 f Rnr. 40 m.w.N.; Lackner/Kühl, StGB, 27. Auflage, § 56 f Rnr. 3; Fischer, StGB, 58. Auflage, § 56 f Rnrn. 4, 5 m.w.N.).

Vorliegend wurde der Beschwerdeführer zwar durch Strafbefehl des Amtsgerichts ... vom 16. Juli 2007 rechtskräftig wegen Unterschlagung zu einer Geldstrafe verurteilt, jedoch tragen die Feststellungen nicht den Schuldspruch. Vielmehr ergibt sich aus der Ermittlungsakte, dass der Beschwerdeführer keine Unterschlagung begangen hat.

Die Tathandlung des § 246 Abs. 1 StGB besteht in der rechtswidrigen Zueignung einer fremden Sache, d.h. darin, dass der Täter die Sache oder den in ihr verkörperten Sachwert mit Ausschlusswirkung gegenüber dem Eigentümer seinem eigenen Vermögen oder dem eines Dritten in der Weise zuführt, dass er selbst oder der Dritte zum Scheineigentümer wird (vgl. Fischer, StGB, 58. Auflage, § 246 Rnr. 5 m.w.N.). Nach der ständigen Rechtsprechung und der herrschenden Meinung ist es ausreichend, aber auch erforderlich, dass der Zueignungswille des Täters durch eine nach außen erkennbare Handlung betätigt wird (sog. „Manifestationstheorie“ vgl. LK-Vogel, StGB, 12. Auflage, § 246 Rnrn. 21, 22 m.w.N.; Fischer, StGB, 58. Auflage, § 246 Rnr. 6 m.w.N.). Die Manifestation der Zueignung kann beispielsweise darin liegen, dass der Täter den Besitz der Sache gegenüber dem Eigentümer ableugnet, über diese unter Unterlassen eines Hinweises auf die Fremdheit schuldrechtliche Verträge abschließt oder diese verbraucht (vgl. Fischer, StGB, 58. Auflage, § 246 Rnr. 7 m.w.N.; LK-Vogel, StGB, 12. Auflage, § 246 Rnrn. 38-41 m.w.N.). Hingegen liegt beim „bloßen“ Unterlassen der zivilrechtlich geschuldeten Rückgabe einer Sache keine Zueignung vor (vgl. LK-Vogel, StGB, 12. Auflage, § 246 Rnrn. 37, 43 m.w.N., Fischer, StGB, 58. Auflage, § 246 Rnr. 9 m.w.N.). Dies gilt auch, wenn der Täter die Herausgabe einer Sache trotz rechtlicher Verurteilung unter Anerkennung des fremden Eigentums unterlässt (OLG Koblenz StV 84, 288), etwa um eine eigene Gegenforderung durchzusetzen (vgl. BGH Beschluss vom 9. Januar 2007 - 3 StR 472/06 – zitiert nach Juris). Auch in der Wegnahme einer Sache als Pfand oder als Druckmittel zur Durchsetzung anderer Ansprüche liegt keine Zueignung (vgl. LK-Vogel, StGB, 12. Auflage, § 242 Rnr. 168 m.w.N.; Fischer, StGB, 58. Auflage, § 242 Rnr. 36 m.w.N.).

Vorliegend ergibt sich aus den Feststellungen des gegen den Beschwerdeführer ergangenen Strafbefehls vom 16. Juli 2007 nicht, durch welche Handlung sich der Beschwerdeführer das Snowboard der Zeugin ... zugeeignet haben soll. Weder wird behauptet, dass der Beschwerdeführer gegenüber der Zeugin ... oder einem Dritten seinen Besitz oder die Eigentümerstellung der Zeugin ... bestritten haben soll noch, dass er auf andere Weise wie ein Eigentümer über dieses verfügt hat. Die Tatsache, dass er das Snowboard erst nach Anzeigenerstattung zurückgab, reicht für die Annahme einer Zueignung nicht aus, zumal nicht einmal festgestellt wird, dass die Eigentümerin zuvor gegenüber dem Beschwerdeführer die Herausgabe verlangt hatte. Vielmehr ergibt sich aus der Ermittlungsakte, dass sich der Beschwerdeführer das Snowboard nicht zugeeignet hatte. Er hatte die Eigentümerstellung der Zeugin ... gerade nicht geleugnet, sondern durch die Ankündigung, sie erhalte ihr Snowboard erst nach Rückzahlung der geschuldeten 200,- € zurück, ihre Eigentümerstellung ausdrücklich anerkannt und lediglich seinen unstreitig bestehenden Zahlungsanspruch gegenüber der Zeugin ... durchsetzten wollen.

Der Strafbefehl des Amtsgerichts ... vom 16. Juli 2007 konnte mithin die Verlängerung der Bewährungszeit nicht begründen. Ein Widerruf der Strafaussetzung wegen neuer Taten, die in der verlängerten Bewährungszeit gegangen wurden, muss deshalb unterbleiben.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO entsprechend.