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Klage eines Dritten gegen eine Ausnahme von den Festsetzungen eines Bebauungsplans; Bebauungstiefe; allgemeines Wohngebiet; bauplanungsrechtliches Gebot der Rücksichtnahme; bauordnungsrechtliche Abstandflächen; erdrückende Wirkung einer Wand; Verkehrsimmissionen; Lärmimmissionen; Funktionslosigkeit von Bebauungsplänen


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 10. Senat Entscheidungsdatum 17.12.2013
Aktenzeichen OVG 10 N 53.11 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 31 Abs 1 BauGB, § 34 Abs 1 BauGB, § 34 Abs 2 BauGB, § 31 Abs 1 BauGB, § 34 Abs 1 BauGB, § 34 Abs 2 BauGB, § 8 Nr 1 BauO BE 1958, § 8 Nr 2 BauO BE 1958, Ziff 6.1 TA Lärm

Leitsatz

Funktionslosigkeit von Bebauungsplänen

Tenor

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das ihnen am 13. April 2011 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin wird abgelehnt.

Die Kosten des Zulassungsverfahrens tragen die Kläger mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, der diese selbst trägt.

Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 7.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Kläger wenden sich gegen eine in einem Genehmigungsfreistellungsverfahren dem Beigeladenen erteilte isolierte Ausnahmeentscheidung zur Überschreitung einer bauplanerischen Festsetzung zur Bebauungstiefe für einen Anbau an ein Wohngebäude.

Die Kläger sind Eigentümer des mit einem Wohngebäude bebauten Grundstücks C... 2... in Berlin-Zehlendorf, das im Geltungsbereich des Bebauungsplans X-23 vom 22. Oktober 1956 liegt, der dort ein Wohngebiet im Sinne von § 8 Nr. 25 Bauordnung für die Stadt Berlin vom 9. November 1929 festsetzt. Die C... ist eine mehrspurig ausgebaute Hauptverkehrsstraße.

Der Beigeladene zeigte bei dem Beklagten unter anderem die Errichtung eines Anbaus an ein bestehendes Wohngebäude auf dem Grundstück S... Straße 8... an, das im Geltungsbereich des übergeleiteten Bebauungsplans in der Fassung vom 28. Dezember 1960 (ABl. 1961, S. 742) liegt. Festgesetzt ist dort ein allgemeines Wohngebiet. Gemäß § 8 Nr. 1 a BO 58 ist eine Bebauungstiefe von 20 m gerechnet von der straßenseitigen Baugrenze zulässig. Das Vorhabengrundstück liegt im Blockinnenbereich des Straßenviertels und ist bereits mit einem zweigeschossigen Wohngebäude bebaut. Mit Bescheid vom 14. März 2008 erteilte der Beklagte dem Beigeladenen eine Ausnahme gemäß § 31 Abs. 1 BauGB für die Überschreitung der zulässigen Bebauungstiefe wegen des Anbaus. Der inzwischen fertiggestellte zweigeschossige Anbau schließt an das bestehende Wohngebäude an und befindet sich ca. 3,10 m entfernt von der Grundstücksgrenze zu dem westlich gelegenen Grundstück der Kläger. Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Ausnahmeentscheidung abgewiesen. Hiergegen richtet sich der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung.

II.

Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt auf der Grundlage der Darlegungen der Kläger nicht vor. Derartige Zweifel bestehen dann, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden und auch die Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung derartigen Zweifeln unterliegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2009 - 1 BvR 812/09 -, NJW 2010, 1062, juris; OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 10. September 2012 - OVG 10 N 59.10 -, juris Rn. 3).

Das Vorbringen der Kläger, die Ausnahmeentscheidung verstoße gegen das Rücksichtnahmegebot, stellt die Bewertung und Würdigung des Verwaltungsgerichts, wonach die Kläger ein Abwehrrecht gegen die Ausnahme nur nach Maßgabe des drittschützenden Gebots der Rücksichtnahme haben und dieses nach den Umständen des Einzelfalls nicht verletzt ist, nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage.

Nach § 8 Nr. 1 a BO 58 beträgt die Bebauungstiefe (vgl. § 23 Abs. 4 BauNVO) in dem allgemeinen Wohngebiet in offener Bauweise 20 m. § 8 Nr. 2 BO 58 sieht davon Ausnahmen vor. Die Überschreitung der Begrenzung der Bebauungstiefe kann danach für Gebäude zugelassen werden, wenn städtebauliche Gründe nicht entgegenstehen. Selbst eine aus städtebaulichen Gründen nicht zu rechtfertigende Ausnahme von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes zur Bebauungstiefe führt nur dann zu einer Verletzung von Nachbarrechten, wenn ein Verstoß gegen das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme vorliegt (OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 11. Dezember 2013 - OVG 10 N 90.10 -; vgl. OVG Bln, Urteil vom 11. Februar 2003 - OVG 2 B 16.99 -, BauR 2004, 713, juris Rn. 24 m.w.N.).

Der Zulassungsantrag zeigt nicht auf, dass die für den Anbau des Beigeladenen zugelassene Ausnahme von der zulässigen Bebauungstiefe für die Kläger nach Lage der Dinge unzumutbar ist und damit das Gebot der Rücksichtnahme verletzt.

Das Vorbringen der Kläger, dass der Anbau die morgendliche Besonnung ihres Grundstücks und damit die Nutzbarkeit des Gartens und Wintergartens vermindere, ist nicht geeignet, die Bewertung des Verwaltungsgerichts in Zweifel zu ziehen, wonach das Vorhaben in Bezug auf Belichtung, Besonnung und Belüftung nicht das Gebot der Rücksichtnahme verletzt. Zwar weisen die Kläger unter Bezugnahme auf die von ihnen angeführte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Januar 1983 (BVerwG 4 B 224.82, BRS 40 Nr. 192) zu Recht darauf hin, dass das Rücksichtnahmegebot auch dann verletzt sein kann, wenn - wie hier - die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften eingehalten worden sind (st.Rspr., zuletzt OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 9. August 2013 - OVG 10 S 25.12 -; Beschluss vom 14. Januar 2013 - OVG 10 S 53.12 -; BVerwG, Beschluss vom 11. Januar 1999 - BVerwG 4 B 128/98 -, NVwZ 1999, 879, juris Ls. 1). Da die Kläger infolge der von ihrem Grundstück aus gesehen östlichen Lage des Anbaus nur eine Beeinträchtigung der morgendlichen Besonnung darlegen können, haben sie nicht schlüssig dargetan, dass sie über den gesamten Tagesverlauf gesehen in qualifizierter Weise beeinträchtigt sind, was für eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme erforderlich ist.

Auch die Rüge der Kläger, der durch die Ausnahme zugelassene Anbau habe „optisch erdrückende Wirkung“, da aufgrund der Höhe und der Breite des Baukörpers der (frühere) Blick in den durchgrünten Blockinnenbereich durch eine abweisende Wand verstellt würde, stellt die gegenteilige Bewertung des Verwaltungsgerichts nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage. Da § 8 Nr. 2 BO 58 Ausnahmen von der Bebauungstiefe auch in einem allgemeinen Wohngebiet mit einer offenen Bauweise zulässt, mussten die im benachbarten Wohngebiet befindlichen Kläger als Grundstückseigentümer mit der Möglichkeit der Zulassung solcher Ausnahmen rechnen. Sie sind daher nicht über das bauordnungsrechtliche Abstandsflächenrecht hinaus im rückwärtigen Bereich ihres Grundstücks in besonderer Weise planungsrechtlich gegen an die Grundstücksgrenze heranrückende Wohngebäude geschützt. Zu berücksichtigen ist weiter, dass die Bauaufsichtsbehörde mit dem bestandskräftigen Ergänzungsbescheid vom 8. Dezember 2008 zum Ausnahmebescheid die Auflage erteilt hat, dass die westliche (den Klägern zugewandte) Außenwand des Anbaus mit immergrünen Pflanzen zu begrünen ist, weshalb eine abweisende Wand mit erdrückender Wirkung bei Umsetzung der Auflage nicht angenommen werden kann. Hinzu kommt, dass zwischen dem Wohngebäude der Kläger und der Grundstücksgrenze eine größere unbebaute Fläche liegt, weshalb auch die zum Garten ausgerichteten Wohnräume der Kläger nach den Umständen des Einzelfalls in dem städtebaulich verdichteten Gebiet nicht unzumutbar beeinträchtigt werden. Das Verwaltungsgericht hat zudem zu Recht ausgeführt, dass die Höhe und Kubatur des Anbaus den Rahmen der Umgebungsbebauung einhält und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der rückwärtige Bereich des klägerischen Grundstücks nach Norden und Süden von grenznaher Bebauung auf den Nachbargrundstücken frei ist, von dem Extremfall einer „Hinterhofsituation“ nicht die Rede sein kann.

Ohne Erfolg bleibt auch die Behauptung der Kläger, der Anbau auf dem östlich gelegenen Nachbargrundstück führe für sie zu einer unzumutbaren „Abgasbelastung“, da die von der C... herüberwehenden Abgase und Feinstäube von der Wand des Anbaus auf ihr Grundstück zurückgeworfen würden. Die Kläger haben nicht substantiiert dargetan, dass nach den Umständen des Einzelfalls die Errichtung des Anbaus östlich ihres Grundstücks eine derart abträgliche bauliche Anlage ist, dass sie nach Lage der Dinge im Hinblick auf die Immissionen der Verbrennungsmotoren der Kraftfahrzeuge, welche die westlich gelegene C... befahren, unzumutbaren Luftverunreinigungen, insbesondere gesundheitsschädlichen Schadstoffen ausgesetzt sind. Der Beklagte hat, ohne dass die Kläger dem entgegengetreten wären, ausgeführt dass die C... im Umweltatlas als mäßig mit Schadstoffen belastet eingestuft ist und das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass der rückwärtige Bereich des klägerischen Grundstücks nahezu 20 m von der C... entfernt liegt und nach Norden und Süden offen ist, weshalb eine durch die Ausbreitung der Immissionen hervorgerufene Verdünnung der verkehrsbedingten Immissionen jedenfalls naheliegt. Angesichts dessen hätten die Kläger im Zulassungsverfahren die Unzumutbarkeit der durch den Verkehr verursachten Immissionen infolge der streitgegenständlichen Errichtung des Anbaus in Auseinandersetzung mit den vorgenannten plausiblen Bewertungen substantiiert darlegen müssen, was unterblieben ist.

Auch das Vorbringen der Kläger zu erhöhten Lärmimmissionen infolge möglicherweise auftretender Schallreflexionen an der Westfassade des Anbaus, ist nicht geeignet, die eingehende Begründung des Verwaltungsgerichts, wonach das Vorhaben keine unzumutbaren Lärmimmissionen zur Folge habe, ernstlich in Zweifel zu ziehen. Das Verwaltungsgericht hat die Verletzung des Rücksichtnahmegebots verneint und dabei als Maßstab für die Beurteilung der Zumutbarkeit der Störungen die nach Ziffer 6.1 d für allgemeine Wohngebiete geltenden Immissionsrichtwerte der TA-Lärm [tags 55 dB(A), nachts 40 dB(A)] außerhalb von Gebäuden herangezogen, wobei die auf der Grundlage von § 48 BImSchG erlassene TA-Lärm die Grenze der Zumutbarkeit von Umwelteinwirkungen für Nachbarn und damit das Maß der gebotenen Rücksichtnahme mit Wirkung auch für das Baurecht im Umfang seines Regelungsbereiches grundsätzlich allgemein festlegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. November 2012 - BVerwG 4 C 8.11 -, BVerwGE 145, 145, juris Rn. 19). Es ist sodann unter Berücksichtigung der von den Klägern vorgelegten schalltechnischen Untersuchung vom 11. Dezember 2008 zu der Bewertung gelangt, dass angesichts der Vorbelastung des klägerischen Grundstücks eine Rücksichtslosigkeit des Vorhabens nicht besteht. Diese Bewertung haben die Kläger nicht umfassend angegriffen, sondern beschränken sich auf den Einwand, dass nicht die Immissionsrichtwerte für das allgemeine Wohngebiet, sondern die für ein reines Wohngebiet (vgl. Ziffer 6.1 e TA-Lärm) maßgeblich seien, weil die bauplanerischen Festsetzungen funktionslos geworden seien. Dieser Einwand greift schon deshalb nicht durch, weil die Kläger nicht den Anforderungen des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt haben, dass im Falle der geltend gemachten Funktionslosigkeit des Bebauungsplans die nach § 34 BauGB maßgebliche nähere Umgebung einem faktischen reinen Wohngebiet entspricht. Hinzu kommt, dass die Kläger nicht substantiiert vorgetragen haben, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans X-23 vom 22. Oktober 1956 über ein Wohngebiet im Sinne von § 8 Nr. 25 BauO Bln 1929 funktionslos geworden sind. Bebauungspläne können nur in äußerst seltenen Fällen funktionslos sein. Eine bauplanerische Festsetzung tritt nur dann außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt und wenn diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. Entscheidend ist, ob die jeweilige Festsetzung noch geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann (BVerwG, Urteil vom 3. Dezember 1998 - BVerwG 4 CN 3/97 -, BVerwGE 108, 71, juris Rn. 22). Angesichts dessen ist der Vortrag der Kläger, dass im Plangebiet „kein Platz für Geschäfte und Werkstätten“ sei, nicht hinreichend substantiiert, um gewichtige Anhaltspunkte darzulegen, dass die Plankonzeption der Festsetzung des Wohngebietes im Sinne von § 8 Nr. 25 Abs. 2 BauO Bln 1929, wonach in Wohngebieten neben Wohngebäuden auch Geschäfts- und Werkstätten kleineren Umfangs zulässig sind, die den notwendigen Bedürfnissen der Bevölkerung in dem Gebiet entsprechen, wenn sie keine Nachteile oder Belästigungen durch Rauch, üble Düfte, ungewöhnliche Geräusche, Erschütterungen und Wärme für die Nachbarschaft herbeiführen, nicht mehr geeignet sein soll, einen sinnvollen Beitrag zur städtebaulichen Ordnung im Geltungsbereich des Bebauungsplans zu leisten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffer 9.7.1. des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 7./8. Juli 2004 (DVBl 2004, S. 1525), wobei der Senat der erstinstanzlichen Wertfestsetzung folgt.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).