Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 27. Senat | Entscheidungsdatum | 05.12.2012 | |
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Aktenzeichen | L 27 P 57/10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 15 SGB 11, § 48 SGB 10 |
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Juni 2010 sowie die Bescheide der Beklagten vom 16. Februar, vom 21. Juli und vom 14. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2007 aufgehoben.
Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Klägerin wendet sich gegen die Herabstufung der ihr gewährten Pflegestufe II auf Pflegestufe I.
Auf den Antrag der 1954 geborenen Klägerin gewährte ihr die Beklagte durch Bescheid vom 22. Dezember 1998 mit Wirkung ab 23. Oktober 1998 Pflegegeld der Pflegestufe II. Dieser Entscheidung legte sie das MDK-Gutachten vom 4. Dezember 1998 zugrunde, in dem der Arzt B einen Zeitaufwand für die Grundpflege von 127 Minuten täglich und für die hauswirtschaftliche Versorgung von 70 Minuten täglich ermittelt hatte. Im ersten Nachprüfungsverfahren bestätigte die Pflegefachkraft B im MDK-Gutachten vom 24. Januar 2002 die Pflegestufe II. Die Gutachterin stellte hierbei den Zeitaufwand für die Grundpflege von 127 Minuten täglich und für die hauswirtschaftliche Versorgung von 90 Minuten täglich fest. Eine Besserung sei nicht zu erwarten.
Die Beklagte holte im Zuge eines weiteren Nachprüfungsverfahrens das MDK-Gutachten der Pflegefachkraft A vom 18. Januar 2006 ein, die den Zeitaufwand für die Grundpflege mit 65 Minuten täglich und für die hauswirtschaftliche Versorgung mit 60 Minuten täglich einschätzte. Daraufhin teilte die Beklagte der Klägerin unter dem 16. Februar 2006 mit, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe II bei ihr nicht mehr vorlägen. Sie führte weiter aus, dass die Genehmigung über die bisherige Pflegestufe vom 22. Dezember 1998 „durch dieses Schreiben“ aufgehoben werde. Künftig werde die Klägerin nur noch Leistungen der Pflegestufe I erhalten. Hiergegen erhob die Klägerin unter Beifügung einer Pflegedokumentation Widerspruch. Im Antwortschreiben vom 18. April 2006 erklärte die Beklagte, der Widerspruch gegen das Anhörungsschreiben vom 16. Februar 2006 sei nicht statthaft. Nach ergänzender Stellungnahme der Gutachterin vom 25. April 2006 und einer weiteren, nach Aktenlage erstellten Stellungnahme des MDK vom 28. April 2006 setzte die Beklagte mit Bescheid vom 21. Juli 2006 ab 1. August 2006 die Pflegestufe auf I herab. Hierbei wiederholte sie, dass der Einspruch der Klägerin gegen das Anhörungsschreiben vom 21. Juli 2006 nicht als Widerspruch im rechtlichen Sinne angesehen werden könne.
Die Klägerin stellte in einem Antragsformular der Beklagten unter dem 25. Juli 2006 einen „Höherstufungsantrag“, den die Beklagte – dem daraufhin eingeholten MDK-Gutachten des Arztes B vom 11. September 2006 folgend – mit Bescheid vom 14. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2007 ablehnte.
Mit ihrer bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Das Sozialgericht hat die Gutachten der Chirurgin Dr. H vom 8. Dezember 2007 und des Psychiaters Prof. Dr. Z vom 9. Juni 2008 mit ergänzender Stellungsnahme vom 12. September 2008 eingeholt. Der Sachverständige hat nach Untersuchung der Klägerin in deren Wohnung einen Zeitaufwand für die Grundpflege von 105 Minuten täglich und für die hauswirtschaftliche Versorgung von 94 Minuten täglich festgestellt.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 23. Juni 2010 abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Pflegegeld der Pflegestufe II habe, da ihr Hilfebedarf in der Grundpflege nicht mindestens 120 Minuten betrage. Dies ergebe sich aus dem gerichtlichen Sachverständigengutachten des Psychiaters Prof. Dr. Z, dem im Wesentlichen gefolgt werde.
Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin Berufung eingelegt. Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens der Pflegesachverständigen L vom 24. Januar 2012, die nach Untersuchung der Klägerin am 1. Dezember 2011 den Zeitaufwand für die Grundpflege von 126 Minuten täglich und für die hauswirtschaftliche Versorgung von mindestens 60 Minuten täglich ermittelt hat. Die Gutachterin hat den Spätsommer/Herbst 2011 als den Zeitraum angesehen, in dem der Hilfebedarf der Klägerin in der Grundpflege oberhalb der für die Zuerkennung der Pflegestufe II erforderlichen 120 Minuten gelegen hat.
Auf der Grundlage des außerhalb des gerichtlichen Streitverfahrens eingeholten MDK-Gutachten der Pflegefachkraft S vom 6. Dezember 2011, die den Zeitaufwand für die Grundpflege auf 131 Minuten täglich und für die hauswirtschaftliche Versorgung auf 60 Minuten täglich eingeschätzt hat, hat die Beklagte der Klägerin durch Bescheid vom 10. Januar 2012 mit Wirkung ab 1. November 2011 Pflegegeld der Pflegestufe II gewährt.
Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, dass nunmehr lediglich über den Zeitraum vom 1. August 2006 bis zum 30. Oktober 2011 gestritten werde.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Juni 2010 sowie die Bescheide der Beklagten vom 16. Februar, vom 21. Juli und vom 14. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2007 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält an ihrer Entscheidung für den streitgegenständlichen Zeitraum fest.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist das Begehren der Klägerin nicht darauf gerichtet, die Beklagte zu verpflichten, ihr die Pflegestufe II zuzuerkennen, sondern darauf, den Herabsetzungsbescheid der Beklagten aufzuheben.
Der von der Klägerin in dem Antragsformular unter dem 25. Juli 2006 gestellte „Höherstufungsantrag“ ist – der erkennbaren Absicht der Klägerin entsprechend – als Widerspruch gegen den Bescheid vom 21. Juli 2006 zu verstehen, mit dem die Beklagte die der Klägerin ursprünglich bewilligte Pflegestufe II ab 1. August 2006 auf die Pflegestufe I herabsetzte. Sie wollte sich ganz offensichtlich gegen die Aufhebungsentscheidung wehren. Der Umstand, dass sie den hierfür statthaften Rechtsbehelf nicht als Widerspruch bezeichnete, sondern hierfür ein Antragsformular der Beklagten verwandte, ist unschädlich. Maßgebend ist das Begehren der Klägerin. Dass dieses sich gegen die Aufhebung richtete, ergibt sich bereits aus dem engen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Bescheid vom 21. Juli 2006 und dem Schreiben der Klägerin vom 25. Juli 2006. Auch ist es nachvollziehbar, dass die Klägerin nicht ausdrücklich „Widerspruch“ einlegte, da die Beklagte ihr fälschlicherweise im Schreiben vom 18. April 2006 mitgeteilt hatte, ein Widerspruch gegen das Anhörungsschreiben vom 16. Februar 2006 sei nicht statthaft. Tatsächlich handelte es sich bei diesem Schreiben nicht um eine Anhörung, sondern um einen Verwaltungsakt, da die Beklagte hierin explizit ausführte, dass die Genehmigung über die bisherige Pflegestufe vom 22. Dezember 1998 durch dieses Schreiben aufgehoben werde. Der von der Beklagten später erlassene Bescheid vom 21. Juli 2006 enthielt im Wesentlichen den gleichen Wortlaut wie das zu Unrecht als Anhörung deklarierte Schreiben vom 16. Februar 2006. Auch dieser Umstand dürfte die Klägerin davon abgehalten haben, einen ausdrücklich als „Widerspruch“ bezeichneten Rechtsbehelf zu erheben. Nach Zurückweisung ihres späteren Widerspruchs durch Widerspruchsbescheid vom 21. März 2007 hat die Klägerin – ihrem bisherigen Rechtsschutzziel entsprechend – Klage erhoben, die, da sie gegen die Herabsetzungsentscheidung gerichtet ist, als Anfechtungsklage zu qualifizieren ist.
Der Aufhebungsbescheid der Beklagten vom 14. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bewilligungsbescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist. Hierbei sind die im Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die im Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung vorhanden waren, zu vergleichen.
Die von der Beklagten durch den Bescheid vom 22. Dezember 1998 getroffene Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II ist als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zu qualifizieren. Im Vergleich zu den im Zeitpunkt des Aufhebungsbescheides der Beklagten vom 14. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2007 bestehenden Verhältnissen hat der Senat keine wesentliche Änderung feststellen können.
Im vorliegenden Zusammenhang ist eine Änderung dann wesentlich im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, wenn die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld der Pflegestufe II entfallen sind. Nach § 37 Abs. 1 SGB XI ist es zunächst erforderlich, dass der Anspruchsteller pflegebedürftig ist. Pflegebedürftigkeit liegt hierbei nach § 14 Abs. 1 SGB XI vor, wenn der Betroffene wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedarf, die nach § 14 Abs. 3 SGB XI in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen besteht. Als gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im vorgenannten Sinne gelten nach § 14 Abs. 4 SGB XI im Bereich der Körperpflege, der neben den Bereichen der Ernährung und der Mobilität zur Grundpflege gehört, das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- oder Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Die Zuordnung zur Pflegestufe II setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XI voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss hierbei wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens drei Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als zwei Stunden entfallen müssen.
Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ist in Fällen der vorliegenden Art, in denen um die Herabsetzung einer Pflegestufe im Pflegeversicherungsrecht gestritten wird, nicht bereits dann eingetreten, wenn in einem nach Erlass des Bewilligungsbescheides eingeholten Gutachten der Zeitaufwand in der Grundpflege maßgeblich geringer eingeschätzt wurde als in dem der Bewilligung zu Grunde liegendem Erstgutachten. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, dass in dem Gesundheitszustand des Betroffenen Änderungen eingetreten sind, die nachvollziehbar den Umfang dessen Hilfebedarfs vermindert haben. Für das Vorliegen dieser Änderung trifft den Beklagten, der sich in dem Aberkennungsbescheid hierauf beruft, die materielle Beweislast.
Der Senat kann vorliegend aus den im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten gutachterlichen Äußerungen nicht die Überzeugung gewinnen, dass die Verhältnisse sich tatsächlich wesentlich geändert hätten. Die Einschätzung der Pflegefachkraft A im MDK-Gutachtens vom 18. Januar 2006, dass der Zeitaufwand für die Grundpflege lediglich 65 Minuten täglich betrage, ist nicht nachvollziehbar. Die Einschätzung der Gutachterin, die Klägerin habe „sich zwischenzeitlich mit ihren Defiziten gut adaptiert“, sie könne ihre Ressourcen besser einsetzen, ist mit dem Ergebnis der Vorbegutachtung vom 24. Januar 2002 nicht zu vereinbaren. Die Pflegefachkraft B führte in ihrem Gutachten aus, dass eine Besserung nicht zu erwarten sei. Die Beklagte hätte diesem Widerspruch weiter nachgehen müssen, und zwar durch eine Neubegutachtung auf der Grundlage eines weiteren Hausbesuchs mit Untersuchung der Klägerin, und sich nicht darauf beschränken dürfen, eine ergänzende Stellungnahme der Gutachterin vom 25. April 2006 und eine gutachterliche Stellungnahme des MDK nach Aktenlage einzuholen. Nach Ansicht des Senats erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Einschätzung des Hilfebedarfs in der Grundpflege mit 65 Minuten täglich durch die Pflegefachkraft A aufgrund einer Verkennung der psychischen Erkrankung der Klägerin nicht ihrem tatsächlichen Hilfebedarf zum damaligen Zeitpunkt entsprach. Denn insbesondere im psychiatrischen Bereich weist das Gutachten – worauf der Psychiater Prof. Dr. Z in dessen von dem Sozialgericht eingeholten Gutachten vom 9. Juni 2008 ausdrücklich hingewiesen hat – erhebliche Mängel auf. So wurden die psychischen Leiden der Klägerin, die im Rahmen der gutachterlichen Befundung erwähnt wurden („zeitweise“ depressiv), weder als pflegerelevante Diagnose aufgeführt noch bei der Ermittlung des konkreten Hilfebedarfs in der Grundpflege gewürdigt. Überzeugend hat der Sachverständige dargelegt, dass der Unterschied in der Bemessung des Hilfebedarfs der Klägerin im Bereich der Grundpflege auf diesen Umstand zurückgeführt werden könne.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.