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Türkischer Staatsangehöriger; fünfjähriger Schulaufenthalt in der Türkei; Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis und des Aufenthaltsrechts aus Art. 7 ARB Nr. 1/80; Verlassen des Aufnahmestaats ohne berechtigte Gründe; Auslegung der "berechtigten Gründe"; Zwangslage; strukturelle Schulmängel; Vorabentscheidung durch den EuGH


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat Entscheidungsdatum 30.06.2010
Aktenzeichen OVG 11 S 28.10 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen Art 7 EWGAssRBes 1/80, Art 234 EG, Art 267 AEUV, Art 6 GG, Art 8 MRK, § 80 Abs 5 VwGO, § 146 Abs 4 VwGO

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 17. Mai 2010 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Beschwerde trägt der Antragsteller.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der am ... März 1994 in Deutschland - als Sohn hier lebender türkischer Eltern - geborene türkische Antragsteller begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage VG 15 K 82.10 auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis.

Nachdem der Antragsteller, der am 23. Juli 1997 eine bis zum 2. März 2010 (Vollendung des 16. Lebensjahres) ausgestellte Aufenthaltserlaubnis erhalten hatte, zunächst Schüler einer Grundschule in Berlin war - das letzte vorgelegte Schulzeugnis der 4. Klasse datiert vom 30. Januar 2004 -, besuchte er in den fünf Schuljahren 2004/2005 bis 2008/2009 auch nach den vorgelegten Zeugnissen unstreitig eine Schule in der Türkei. Ausweislich von Bescheinigungen einer Verbundenen Haupt- und Realschule in Berlin wurde er am 1. August 2009 erstmalig in eine dortige Kleinklasse aufgenommen und wird seine Schulzeit am 31. Juli 2010 beenden.

Seinen am 4. Februar 2010 gestellten Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis lehnte der Antragsgegner durch Bescheid vom selben Tage unter Androhung der Abschiebung mit der Begründung ab, sein Aufenthaltsrecht sei aufgrund des nicht nur vorübergehenden Aufenthalts in der Türkei nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erloschen gewesen, so dass er - im Jahre 2009 - unerlaubt wieder eingereist sei. Eine Aufenthaltserlaubnis könne deshalb nach § 5 Abs. 2 AufenthG nur unter den Voraussetzungen von §§ 32 Abs. 1 bis 3 und 37 Abs. 1 AufenthG erteilt werden, was wiederum einen beabsichtigten Daueraufenthalt, z.B. zum hiesigen Schulbesuch, voraussetze. Andernfalls würde auch diese Aufenthaltserlaubnis mit der Ausreise wieder erlöschen. Trotz der mit der unerlaubten Einreise gesetzten Ausweisungsgründe würde in Anbetracht seines früheren langjährigen Aufenthalts vorläufig von einer Ausweisung abgesehen.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der am 1. März 2010 erhobenen Klage VG 15 K 82.10 und dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf „Wiederherstellung“ der aufschiebenden Wirkung, der vor dem Verwaltungsgericht Berlin erfolglos geblieben ist.

II.

Die am 25. Mai 2010 erhobene Beschwerde des Antragstellers gegen den ihm am 19. Mai 2010 zugestellten verwaltungsgerichtlichen Beschluss vom 17. Mai 2010, die mit am 21. Juni 2010 - einem Montag - eingegangenen Schriftsatz rechtzeitig begründet worden ist, hat keinen Erfolg. Die mit der Beschwerde vorgetragenen Gründe, die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO hier allein zu prüfen sind, rechtfertigen keine Änderung der angefochtenen Entscheidung.

Das Vorbringen des Antragstellers, das Verwaltungsgericht habe die Frage, ob er das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2004 für einen - im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zum Erlöschen eines Aufenthaltsrechts aus Art. 7 des Assoziationsratsbeschlusses EWG-Türkei Nr. 1/80 (ARB 1/80) - nicht unerheblichen Zeitraum „ohne berechtigte Gründe“ verlassen, dem EuGH nach Art. 234 EGV - bzw. nunmehr nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (EU-Arbeitsweisevertrag) - vorlegen müssen, ist verfehlt. Soweit diesbezüglich auf die Vorlagepflicht für „letztinstanzlich entscheidende Gerichte“ verwiesen wird, ergibt sich das schon daraus, dass das Verwaltungsgericht, wie die vorliegende Beschwerde belegt, auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren schon nicht „letztinstanzlich“ tätig wird. Im Übrigen besteht in diesen (Eil)Verfahren grundsätzlich keine Vorlagepflicht, wenn in absehbarer Zeit ein Hauptsacheverfahren zu erwarten ist, in dessen Rahmen die Frage dann im Wege einer Vorlage geklärt werden kann (vgl. nur Classen in: Schulze/Zuleeg, Europarecht, 1. Auflage 2006, S. 205 Rz. 78 m.w.N. zur Rechtsprechung des EuGH). Davon wäre hier ggf. auszugehen. Schon deshalb besteht auch für das OVG Berlin-Brandenburg keine Vorlagepflicht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren.

Auch die weitere Annahme des Antragstellers, die konkreten Maßstäbe, unter denen von einem Verlassen des Aufnahmestaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum „ohne berechtigte Gründe“ auszugehen sei, ließen sich der Rechtsprechung des EuGH nicht entnehmen, vermag eine stattgebende Entscheidung im vorliegenden Verfahren nicht zu begründen. Denn der Antragsteller setzt sich mit der Begründung des Verwaltungsgerichts, er habe das Bundesgebiet ohne berechtigten Grund verlassen, weil es ihm möglich und zumutbar gewesen wäre, sich hier beschulen zu lassen, in der den Prüfungsumfang des Senats gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO bestimmenden Beschwerdebegründung nicht substanziiert auseinander. Hiervon abgesehen teilt der Senat die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass jedenfalls nach der im vorliegenden Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung die langjährige Abwesenheit des Antragstellers vom Bundesgebiet infolge fünfjährigen Schulbesuchs in der Türkei bis zur Wiedereinreise Mitte 2009 nicht „von berechtigten Gründen“ im o.g. Sinne getragen war. Wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 30. April 2009 zu 1 C 6.08 (juris) unter Darlegung der Rechtsprechung des EuGH ausgeführt hat, ist für das Verständnis dieses Erlöschensgrundes auf Ziel und Zweck des Art. 7 ARB 1/80 abzustellen, der der allmählichen Integration der Familienangehörigen im Mitgliedsstaat dienen soll. Dabei dürfe nicht außer Betracht bleiben, dass für Unionsbürger und deren Familienangehörige eine zwei Jahre überschreitende Abwesenheit ohne Differenzierung nach den Gründen zum Verlust des erworbenen Rechts auf Daueraufenthalt führe (Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38/EG) und sich der Wegfall der Rechtsstellung aus Art. 7 ARB 1/80 am Besserstellungsverbot in Art. 59 ZP messen lassen müsse. Insoweit sei selbst ein - in jenem Falle - sechsjähriger Auslandsaufenthalt aufgrund einer - letztlich nicht mehr vom eigenen Willen abhängigen - langjährigen Inhaftierung, die Folge einer zur Verbrechensbegehung erfolgten Ausreise war, geeignet, die Integration eines Familienangehörigen grundlegend in Frage zu stellen und führe auch zum Verlust des bisherigen Aufenthaltsrechts. Die diesem Urteil zugrunde liegende Entscheidung des Niedersächsischen OVG vom 27. März 2008 zu 11 LB 203.06 (InfAuslR 2009, 54, 57) führt zutreffend ferner aus, neben den in der Entscheidung des EuGH in der Sache „Kadiman“, auf die alle späteren Urteile verweisen, zitierten Beispielen (auf eine angemessene Zeitspanne angelegte Urlaubsaufenthalte oder Besuche der Familie im Heimatland) seien auch in der Literatur als Fälle „berechtigter Gründe“ nur solche aufgeführt, wo der weitere Aufenthalt im Ausland „nicht vom eigenen Willen abhängig war (z.B. Erkrankung, Unfall, Naturereignisse)“. Jedenfalls nicht im Widerspruch hierzu steht auch der vom Antragsteller als angeblicher Vergleichsfall zitierte Beschluss des OVG Hamburg vom 14. Juli 2009 zu 4 Bs 109.09 (juris), wonach berechtigter Grund auch die „soziokulturell bedingte psychische Zwangslage“ einer in ihrer freien Willensbetätigung wesentlich beeinträchtigten (bei Ausreise hochschwangeren) Türkin sei, die nach arrangierter Zwangsheirat über längere Zeit nicht zur Rückkehr nach Deutschland in der Lage gewesen sei.

Damit ist der vorliegende Fall nicht vergleichbar. Soweit der Antragsteller in seiner Klagebegründung geltend macht, ein berechtigter Grund für den fünfjährigen Schulaufenthalt in der Türkei sei die elterliche Überzeugung gewesen, ihr Kind werde in Berlin aufgrund hiesiger struktureller Mängel des Schulsystems keine hinreichende Schulbildung erhalten und deshalb später auf dem deutschen Arbeitsmarkt keine Chance haben, liegt darin schon kein „nicht ein vom eigenen Willen abhängiger“ Zwangsaufenthalt oder -verbleib im Ausland im oben genannten Sinne etwa aufgrund von Erkrankung, Unfall, Naturereignissen oder dergleichen. Im Übrigen hat der Antragsteller bisher auch nicht einmal glaubhaft gemacht, dass diese Motivation seine Eltern damals, d.h. im Jahre 2004, tatsächlich veranlasst hat, ihn nach vierjährigem - ausweislich vorgelegter Zeugnisse durchaus nicht erfolglosem - Grundschulbesuch auf eine Schule in die Türkei zu schicken (vgl. zu langjährigem Schul- und Internatsbesuch im Ausland auch OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 29. Juni 2009 - 7 B 10454/09 - und Niedersächs. OVG, Beschluss vom 11. Januar 2008 - 11 ME 418/07 -, jeweils in juris). Dass die Entscheidung der Eltern des Antragstellers für seinen langjährigen Schulbesuch in der Türkei, die er sich zurechnen lassen muss, durch das elterliche Erziehungs- und Aufenthaltsbestimmungsrecht aus Art. 6 GG gedeckt ist bzw. diesen und dem Antragsteller das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK zusteht, stellt den Verlust des Aufenthaltsrechts aus Art. 7 ARB 1/80 vor diesem Hintergrund nicht in Frage.

Die weiteren Ausführungen des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses hat der Antragsteller mit seinem Beschwerdevorbringen zumindest nicht - wie geboten - substantiiert, d.h. unter Auseinandersetzung mit den erstinstanzlichen Erwägungen, angegriffen. Soweit sachfremde und zu missbilligende Äußerungen des Gerichts gerügt werden (Relevanz der väterlichen Abfindung für den Lebensunterhalt), ist nicht erkennbar, wieso das dessen weitere entscheidungstragende Erwägungen (unerlaubte Wiedereinreise, fehlender Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) in Frage stellen soll.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2 und 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).