Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 12. Senat | Entscheidungsdatum | 13.12.2011 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | OVG 12 B 24.11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | Art 3 Abs 3 S 2 GG, § 2 Abs 2 AufenthG, § 5 Abs 1 Nr 2 AufenthG, § 5 Abs 3 S 2 AufenthG, § 9 Abs 2 S 1 Nr 2 AufenthG, § 9 Abs 2 S 6 AufenthG, § 9 Abs 2 S 3 AufenthG, § 26 Abs 4 AufenthG, § 101 Abs 2 AufenthG, § 104 Abs 2 AufenthG |
Auf den Ausnahmetatbestand des § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG kann sich auch der noch eingeschränkt erwerbsfähige Ausländer berufen, wenn er wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht mehr in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Die Regelung enthält weder eine Verpflichtung zur beruflichen Weiterqualifizierung noch wird der Nachweis krankheitsbedingter Unmöglichkeit einer Weiterqualifizierung gefordert.
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die 1965 geborene Klägerin aus Bosnien und Herzegowina begehrt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis.
Nachdem die Klägerin im Mai 1995 als Bürgerkriegsflüchtling mit ihren beiden Kindern nach Deutschland eingereist war, wurde ihr Aufenthalt zunächst geduldet. Im September 2002 erhielt sie eine zuletzt bis 13. September 2006 verlängerte Aufenthaltsbefugnis und im Anschluss daran eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 23 Abs. 1 AufenthG, die in der Folgezeit ebenfalls verlängert wurde. In den Jahren 2002/2003 nahm die Klägerin an dem Qualifizierungsprojekt ‚Chance’ des Deutschen Roten Kreuzes im Bereich „Hauswirtschaftsservice in sozialen Einrichtungen“ teil. Von Oktober 2003 bis Ende 2008/Anfang 2009 beschäftigte sie der eingetragene Verein „A. L. Hilfswerk“ in seinem hauswirtschaftlichen Bereich in einem Umfang von 25 Wochenstunden. Ergänzend bezog sie öffentliche Leistungen nach den Bestimmungen des SGB II.
Mit Bescheid vom 20. Januar 2006 stellte das Landesamt für Gesundheit und Soziales eine Schwerbehinderung der Klägerin mit einem Grad von 60 fest. Ursächlich dafür waren eine 1993 im ehemaligen Jugoslawien erlittene und seither - auch in Deutschland - behandelte Granatsplitterverletzung des rechten Arms, bei der der Nervus medianus durchtrennt worden war (schwere Medianuslähmung), sowie eine posttraumatische Belastungsstörung. Im Oktober 2007 bescheinigten der Neurologe Dr. B. und das Behandlungszentrum für Folteropfer der Klägerin eine erhebliche Einschränkung ihrer Leistungsfähigkeit: Sie sei nur für vier Stunden täglich belastbar. Mit Attest vom 25. November 2008 stellte Dr. B. wegen der stark chronifizierten Symptomatik eine „Aufhebung der Erwerbstätigkeit“ fest: Die Klägerin werde wahrscheinlich nur eine wirtschaftlich förderliche Tätigkeit für die Zeit von drei Stunden schaffen. Das Zentrum für Flüchtlingshilfen und Migrationsdienste führte unter dem 12. Dezember 2008 aus, die Klägerin könne nur geringfügig im Umfang von zwei bis drei Stunden täglich arbeiten. Mit Attest vom 7. Juni 2010 bestätigte ihr Dr. B. erneut eine eingeschränkte Belastbarkeit im Umfang von drei Stunden täglich: Durch den längeren Beobachtungsverlauf zeige sich eindeutig eine depressive Grundstimmung mit einer schweren Antriebsstörung und rezidivierenden Panik- und Angstattacken sowie Schmerzanfällen „in den obersten Extremitäten“. Zudem komme es immer wieder zu psychischen Dekompensationen, die vor allem schwere Schlaf- und Konzentrationsstörungen und ein allgemein vermindertes Leistungsvermögen zur Folge hätten.
Seit dem 14. Dezember 2009 ist die Klägerin bei der RWS Gebäudeservice GmbH als Reinigungskraft tätig. Die Arbeitszeit beträgt täglich vier Stunden, der Bruttostundenlohn 8,15 €. Die Klägerin bewohnt gemeinsam mit ihrem inzwischen erwachsenen Sohn Aldin (*22. August 1987) eine 2-Zimmer-Wohnung. Die Miete einschließlich umlagefähiger Nebenkosten beträgt 429,34 €. Ihr Sohn hat eine Ausbildung zum staatlich geprüften Assistenten der Fachrichtung Elektronik/Datentechnik absolviert. Derzeit ist er befristet als Aushilfskraft für eine Lebensmittelhandelskette tätig. Er verdient monatlich zwischen 165,-- und knapp 295,-- €. Nach ihren eigenen Angaben bezieht die Klägerin für den 2-Personen-Haushalt Wohngeld (Mietzuschuss) in Höhe von 210,-- €, aber keine Leistungen nach den Vorschriften des SGB II mehr.
Den bereits unter dem 24. Juli 2007 gestellten Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis lehnte das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten mit Bescheid vom 13. September 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. März 2008 im Wesentlichen mit der Begründung ab, ihr Lebensunterhalt sei durch das (damalige) Hilfswerk-Einkommen nicht gesichert, vielmehr beziehe sie ergänzend SGB II-Leistungen. Aus diesem Grund liege keine Erwerbsunfähigkeit und damit keine Ausnahme nach § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG vor, denn sie sei in der Lage, drei Stunden oder mehr täglich zu arbeiten (§ 8 Abs. 1 SGB II).
Auf ihre dagegen erhobene Klage, die die Klägerin im Wesentlichen mit ihrer nur eingeschränkten Erwerbsfähigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts infolge ihrer Erkrankungen begründete, hat das Verwaltungsgericht Berlin den Beklagten durch Urteil vom 5. Oktober 2010 verpflichtet, der Klägerin unter Aufhebung der angegriffenen Bescheide eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen: Die Klägerin sei zwar nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt im Sinne von § 26 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu sichern. Von dem Erfordernis sei jedoch gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 3 und 6 AufenthG abzusehen, weil sie die Voraussetzung wegen ihrer Krankheit nicht erfüllen könne. Auch wenn keine vollständige Erwerbsunfähigkeit vorliege, sei die Vorschrift anwendbar, denn es erfolge keine Differenzierung nach dem Umfang der Erwerbsminderung. Ein erkrankter Ausländer sei ursächlich wegen seiner Krankheit an der Sicherung des Lebensunterhalts gehindert, wenn er zwar erwerbsfähig im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB II sei, das damit erzielbare Einkommen aber nicht ausreiche. Es bedürfe stets einer einzelfallbezogenen Betrachtung dahingehend, inwieweit der Ausländer bei einer ihm theoretisch möglichen Tätigkeit seinen Lebensunterhalt verdienen könne. Danach sei hier nicht erkennbar, dass die Klägerin in der Lage sei, ein höheres Einkommen als den von ihr bislang durchschnittlich erarbeiteten Verdienst zu erzielen. Es könne angesichts ihrer Qualifikation auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie noch eine andere berufliche Position erreichen und ein höheres Einkommen erlangen könne. Das Ermessen des Beklagten gemäß § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG sei angesichts der jahrelangen Berufstätigkeit der Klägerin und ihrer auch im Übrigen feststellbaren Integration in die deutschen Lebensverhältnisse auf Null reduziert.
Hiergegen richtet sich die vom Senat zugelassene Berufung des Beklagten. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, er halte zwar nicht mehr an seiner bisher vertretenen Auffassung fest, dass nur vollständig Erwerbsunfähige von der Privilegierung des § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG erfasst seien. Der Ansicht des Verwaltungsgerichts könne jedoch nicht gefolgt werden. Die Bestimmung sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Ursächlich für die fehlende Lebensunterhaltssicherung müsse allein die maßgebliche Krankheit oder Behinderung sein. Sei ein Ausländer eingeschränkt erwerbsfähig, dann habe die fehlende Lebensunterhaltssicherung ihre Ursache regelmäßig nicht ausschließlich in der Krankheit oder Behinderung, sondern es müssten zusätzlich andere Umstände - wie vorliegend die geringe berufliche Qualifikation der Klägerin - hinzutreten, um eine mögliche Unterhaltssicherung als unwahrscheinlich erscheinen zu lassen. Erforderlich sei daher stets, dass der nur eingeschränkt Erwerbsfähige, der seinen Lebensunterhalt nicht sichern könne, aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung auch nicht in der Lage sei, sich weiter beruflich zu qualifizieren, um seine Einkommensaussichten zu verbessern. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts führe demgegenüber zu einer Schlechterstellung qualifizierter Arbeitnehmer. Denn bei gleichem Behinderungsgrad wäre einem gering qualifizierten Ausländer unabhängig von der Erwerbstätigkeit eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, während ein besser qualifizierter Ausländer einer Erwerbstätigkeit nachgehen müsse, um ein verfestigtes Aufenthaltsrecht zu erlangen. Eine solche Ungleichbehandlung kranker oder behinderter Menschen sei nicht gerechtfertigt. Auch die Gesetzessystematik spreche für die enge Auslegung: Schon im Rahmen der Regelerteilungsvoraussetzung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG könne sich ein Ausländer unstreitig nicht auf mangelnde berufliche Qualifizierung berufen. Es sei nicht ersichtlich, aus welchen Gründen dies im Rahmen des höchsten Verfestigungsgrades der Niederlassungserlaubnis anders sein sollte, zumal die Spezialregelung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG strenger gefasst sei als die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 5. Oktober 2010 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angegriffene Urteil und betont, tatsächlich nicht mehr als vier Stunden täglich arbeiten zu können. Nachts trage sie eine Armschiene und leide unter starken Nervenschmerzen, die sie schlecht schlafen ließen. Unabhängig von ihren körperlichen Einschränkungen sei daher auch ihre Konzentrationsfähigkeit herabgesetzt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Streitakte und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind.
Die Berufung des Beklagten hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Niederlassungserlaubnis (§ 113 Abs. 5 Satz 1, § 114 VwGO).
I.
Rechtsgrundlage für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis ist § 26 Abs. 4 i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 3 und 6, § 101 Abs. 2, § 104 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG – in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. November 2011 (BGBl. I S. 2258).
Nach § 26 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG kann einem Ausländer, der seit sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Dabei ist im Fall der Klägerin die Besonderheit zu beachten, dass sie vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis war und deshalb nach der Übergangsregelung in § 104 Abs. 2 Satz 1 und 2 AufenthG die Bestimmungen in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 (Leistung von Pflichtbeiträgen der freiwilligen Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung für mindestens 60 Monate) und Nr. 8 AufenthG (Grundkenntnisse der Rechts und Gesellschaftsordnung der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet) nicht anwendbar sind und auch beim Spracherfordernis nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG geringere Anforderungen zu stellen sind (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 6 AufenthG).
1. Die Klägerin erfüllt die zeitlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Davon ist das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen. Diese Voraussetzungen liegen auch im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat vor. Insoweit besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.
2. Unter Berücksichtigung der Privilegierungen nach § 104 Abs. 2 Satz 1 und 2 AufenthG fehlt es indes an der gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG geforderten Sicherung des Lebensunterhalts, auf die auch im Rahmen der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen grundsätzlich nicht verzichtet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 2010 – 1 C 34.07 – juris, Rn. 14).
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 16. August 2011 – 1 C 4.10 – juris, Rn. 14) ist bei der Beurteilung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG darauf abzustellen, ob der Ausländer nach Erteilung der Niederlassungserlaubnis seinen Lebensunterhalt voraussichtlich ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG, d.h. insbesondere ohne Inanspruchnahme von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, bestreiten kann. Dabei gelten für die Berechnung, ob er einen Anspruch auf derartige Leistungen hat, grundsätzlich die sozialrechtlichen Regelungen über die Bedarfsgemeinschaft.
Gemessen daran liegen die Voraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung derzeit nicht vor. Dem ermittelten Bedarf für die Klägerin und ihren Sohn in Höhe von 1.084,34 € (Regelleistungen und Miete) stehen ausweislich der vorgelegten Unterlagen ohne Berücksichtigung des Wohngeldbezugs (vgl. dazu Dienelt/Rösler in: Renner, Ausländerrecht, Kommentar, 9. Aufl. § 2 Rz. 22 a. E.) durchschnittlich zu berücksichtigende monatliche Einnahmen von 991,78 € gegenüber. Auch diese Unterdeckung ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Der Umstand, dass die Klägerin nach eigenen Angaben keine ergänzenden öffentlichen Leistungen mehr bezieht, ändert daran nichts; entscheidend ist insoweit der bestehende Anspruch. Unabhängig davon lassen die Einnahmen ihres Sohnes als Aushilfskraft keine verlässliche Prognose in Bezug auf die Dauerhaftigkeit seiner Einkunftserzielung zu.
b) Entgegen der Auffassung des Beklagten kann sich die Klägerin jedoch auf die in § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG geregelte Ausnahme berufen. Danach wird von der Sicherung des Lebensunterhalts abgesehen, wenn der Ausländer diese Voraussetzung wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen kann.
Dem Wortlaut der Vorschrift und der Gesetzesbegründung lassen sich – wie auch der Beklagte in der mündlichen Verhandlung einräumt hat - keine zwingenden Anhaltspunkte für eine Begrenzung auf die Fälle vollständiger Erwerbsunfähigkeit entnehmen. Der Gesetzgeber verfolgte mit Blick auf Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vielmehr das Ziel, auch behinderten Ausländern eine Aufenthaltsverfestigung zu ermöglichen und sie nicht zu benachteiligen, wenn sie wegen ihrer Behinderung nicht arbeiten können (BT-Drs. 15/420, S. 72). Er wollte damit erkennbar den aus Krankheit oder Behinderung folgenden Beschränkungen im Arbeitsleben Rechnung tragen. Da die Nichterfüllbarkeit der Lebensunterhaltssicherung aber auch dem nur eingeschränkt Erwerbsfähigen krankheits- oder behinderungsbedingt unmöglich sein kann, widerspräche dessen Nichtberücksichtigung im Rahmen der Privilegierung gemäß § 9 Abs. Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG dem erklärten Willen des Gesetzgebers (im Ergebnis ebenso VGH München, Urteil vom 16. April 2008 – 19 B 07.336 – InfAuslR 1/2009, S. 21 ff.; VG Berlin, Urteil vom 25. Januar 2011 - VG 15 K 463.09; Marx in: GK-AufenthG, § 9 Rz. 226 f.). Soweit der Senat dies in seinem Beschluss über die Gewährung von Prozesskostenhilfe vom 8. November 2007 (OVG 12 M 114.07) bei summarischer Prüfung abweichend beurteilt hat, hält er daran nicht mehr fest. Es trifft zwar zu, dass sonstige Umstände, die den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit erschweren, mangels einer den Fällen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG entsprechenden Härtefallregelung nicht geeignet sind, eine Abweichung im Einzelfall zu rechtfertigen. Ist allerdings die krankheitsbedingt eingeschränkte berufliche Einsatzfähigkeit der Grund für die fehlende Erwirtschaftung ausreichender Mittel für die Unterhaltssicherung, handelt es sich gerade nicht um einen „sonstigen Umstand“.
Soweit der Beklagte für krankheits- oder behinderungsbedingt eingeschränkt Erwerbsfähige, die ihren Lebensunterhalt infolge ihrer zeitlich begrenzten Einsatzfähigkeit nicht sichern können, kumulativ den ärztlichen Nachweis der krankheits- oder behinderungsbedingten Unmöglichkeit einer beruflichen Weiterqualifizierung fordert, fehlt für eine solche Voraussetzung die erforderliche gesetzliche Grundlage. Weder dem Wortlaut der Bestimmung noch der Gesetzesbegründung lässt sich eine entsprechende Qualifizierungspflicht zur Kompensation der krankheits- oder behinderungsbedingten Defizite entnehmen, um die Einkommenssituation zu verbessern. Ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal dieser Art folgt auch nicht aus dem Sinn und Zweck des Erfordernisses der Unterhaltssicherung. Dem Beklagten ist zwar zuzugeben, dass die Sicherung des Lebensunterhalts nach der gesetzgeberischen Wertung bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln als Voraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse anzusehen ist. Davon ist – mit Ausnahme der hier nicht in Betracht kommenden Sonderregelung in § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG – nur im Rahmen der Vorschriften des § 9 Abs. 2 AufenthG abzusehen. § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG ist deshalb als Ausnahme von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzlich eng auszulegen, so dass etwa eine analoge Anwendung der Vorschrift auf nicht selbst erkrankte oder behinderte Dritte ausgeschlossen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 2008 – 1 C 34.07 - juris, Rz. 15 f.). Die enge Auslegung darf jedoch insbesondere mit Blick auf das vom Gesetzgeber betonte Diskriminierungsverbot nicht dazu führen, dass für die gesetzliche Privilegierung, gerade kranken und behinderten Ausländern eine Aufenthaltsverfestigung ohne die Erfüllung des Erfordernisses der Lebensunterhaltssicherung zu ermöglichen, praktisch kein Anwendungsbereich mehr verbleibt. Dazu führt aber die Auffassung des Beklagten, der eine Pflicht zur Weiterqualifizierung bzw. den Nachweis krankheitsbedingter Unmöglichkeit einer Weiterqualifizierung von Ausländern fordert, die zwar aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Einsatzbereitschaft mit ihrer aktuellen Tätigkeit bei vollständiger Erwerbsfähigkeit ohne weiteres ihren Lebensunterhalt sichern könnten, daran allerdings wegen ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit gehindert sind. Denn wer gesundheitlich zur Weiterqualifizierung in der Lage ist, wird seinen Lebensunterhalt voraussichtlich sichern können und damit von dem Anwendungsbereich der Ausnahmevorschrift nicht mehr erfasst werden. Wer hingegen – wenn auch nur eingeschränkt - beruflich einsatzfähig ist, wird wiederum den Nachweis der Unmöglichkeit jeglicher Weiterqualifizierung kaum führen können.
Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung nicht in Abrede gestellt, dass die Klägerin mit ihrer derzeitigen Tätigkeit und unter Berücksichtigung ihres Ausbildungsstandes den Lebensunterhalt für die Bedarfsgemeinschaft sichern könnte, sofern sie uneingeschränkt erwerbsfähig wäre. Damit aber ist die Erkrankung der Klägerin bezogen auf ihre Berufsgruppe - und nur auf diesen Vergleich kommt es entscheidungserheblich an - allein ursächlich für die fehlende Sicherung des Lebensunterhalts. Hätte der Gesetzgeber im Rahmen seiner Ausnahmekonzeption nach § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. 3 AufenthG eine Weiterqualifizierungspflicht insbesondere für weniger qualifizierte Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor verlangen wollen, hätte es einer entsprechend klaren gesetzlichen Regelung bedurft. Daran fehlt es hier. Soweit der Beklagte meint, die fehlende Verpflichtung zur Weiterqualifizierung führe zu einer Schlechterstellung qualifizierter Arbeitnehmer, übersieht er, dass es sich insoweit schon nicht um vergleichbare Sachverhalte handelt, die am Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu messen sind. Schließlich verfängt im Ergebnis auch der Hinweis auf die Gesetzessystematik nicht. Der Umstand, dass die Berufung auf mangelnde berufliche Qualifikation bei der Erteilung eines Aufenthaltstitels kein Absehen von der Pflicht zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 AufenthG rechtfertigt, führt zu keiner abweichenden Beurteilung des Verhältnisses von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu § 9 Abs. 2 Satz 3 und 6 AufenthG. Der Gesetzgeber hat die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG als stärkste Form der Aufenthaltsverfestigung durch Verweis auf § 9 Abs. 2 AufenthG nämlich nicht nur von besonderen Integrationserfordernissen abhängig gemacht, die über die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG hinausgehen, sondern für bestimmte Personengruppen zugleich Ausnahmen geschaffen, die ihrerseits abschließend sind und systematisch keinen Rückgriff auf die allgemeine Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zulassen (vgl. (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 2008 – 1 C 34.07 - juris, Rz. 20). Entsprechend können für die Auslegung der spezialgesetzlichen Ausnahmebestimmung des § 26 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 3 und 6 AufenthG, die eine Privilegierung derjenigen Ausländer bezweckt, die bereits seit mindestens sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgestzes besitzen, keine Erwägungen herangezogen werden, die im Rahmen der allgemeinen Erteilung eines Aufenthaltstitels ihre Berechtigung haben, sich jedoch naturgemäß nicht an dem Regelungsgehalt der Spezialvorschrift orientieren. Dieser liegt – wie dargelegt – der Gedanke zu Grunde, auch langjährig in Deutschland lebenden behinderten oder erkrankten Ausländern eine Aufenthaltsverfestigung zu ermöglichen. Die gesetzlich angestrebte Begünstigung dieser Personengruppe darf daher nicht durch eine den Ausnahmetatbestand ergänzende Auslegung konterkariert werden. Die Auferlegung einer Pflicht zur Weiterqualifizierung mit dem Ziel der Einkommenssteigerung ist aber – wie dargelegt - geeignet, eine erfolgreiche Berufung auf den eigens normierten Ausnahmegrund weitgehend auszuschließen.
II.
Vor diesem rechtlichen Hintergrund hat die Klägerin einen Anspruch auf die begehrte Niederlassungserlaubnis. Substantiierte Zweifel daran, dass die vorgelegten Atteste den Umfang der durch die Granatsplitterverletzung geminderten Leistungs- und Erwerbsfähigkeit der Klägerin nur unzureichend belegen, hat der Beklagte weder schriftsätzlich noch in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht. Die Klägerin, der seit 2008 durchgehend die Leistungsfähigkeit einer wirtschaftlich förderlichen Tätigkeit von täglich maximal drei Stunden bescheinigt wird, arbeitet seit zwei Jahren täglich vier Stunden und damit offenkundig an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Auf Befragen hat sie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, aufgrund ihrer starken Nervenschmerzen tatsächlich – obwohl sie es versucht habe - nicht mehr länger arbeiten zu können. Nachts müsse sie eine Armschiene tragen und leide unter Schlafstörungen, die ihr Leistungsvermögen neben ihrer körperlichen Beeinträchtigung zusätzlich einschränkten. Die Angaben, an deren Richtigkeit zu zweifeln für den Senat kein Anlass besteht, stehen im Einklang mit der seit 2008 ärztlich bescheinigten Chronifizierung der Symptomatik: Danach zeigten sich bei der Klägerin zunehmend eine depressive Grundstimmung mit einer schweren Antriebsstörung und rezidivierenden Panik- und Angstattacken sowie Schmerzanfällen „in den obersten Extremitäten“. Zudem komme es immer wieder zu psychischen Dekompensationen, die vor allem schwere Schlaf- und Konzentrationsstörungen und ein allgemeines vermindertes Leistungsvermögen zur Folge hätten.
Die skizzierten Erkrankungen sind auch kausal dafür, dass die Klägerin mit ihrer beruflichen Qualifikation ihren Lebensunterhalt derzeit nicht sichern kann.
III.
Liegen danach die Tatbestandsvoraussetzungen gemäß § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG für ein Absehen von der Unterhaltssicherung vor, bleibt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG in das Ermessen der Behörde gestellt. Gesichtspunkte, die gegen die Erteilung sprechen könnten, sind weder erkennbar noch von dem Beklagten geltend gemacht worden. Die Klägerin, der ihre sonstigen Integrationserfolge von dem Beklagten nicht abgesprochen werden, hat sich vielmehr nach ihren Kräften bemüht, seit 2003 ohne wesentliche Unterbrechungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts beizutragen. Damit ist das Ermessen des Beklagten soweit reduziert, dass allein die Erteilung der Niederlassungserlaubnis sachgerecht erscheint.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO bestimmten Gründe vorliegt.