Gericht | FG Berlin-Brandenburg 10. Senat | Entscheidungsdatum | 06.03.2014 | |
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Aktenzeichen | 10 K 14062/11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Der Bescheid vom 20. September 2010 sowie die Einspruchsentscheidung vom 28. Januar 2011 werden aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, über den Antrag vom 30. Juni 2010 auf Entnahme eines Altersvorsorge-Eigenheimbetrages neu zu entscheiden - und zwar unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Schmutzwasserbeitrag um nach § 92a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Einkommensteuergesetz -EStG- begünstigte Aufwendungen für die Anschaffung einer Wohnung handelt.
Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Klägerin anlässlich des Anschlusses ihres Eigenheims an die zentrale Abwasserentsorgung eine Förderung nach §§ 92a, 92b Einkommensteuergesetz -EStG- zusteht (Altersvorsorge-Eigenheimbetrag).
Die Klägerin erwarb 1998 ihr unter der im Rubrum genannten Adresse belegenes Eigenheim, das sie mit ihrer Familie bewohnt. Seit dem Jahr 2007 verfügt die Klägerin zudem über einen nach § 5 Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz -AltZertG- zertifizierten Altersvorsorgevertrag.
Im Jahr 2009 ersetzte sie die bis dahin genutzte Abwassergrube durch einen Anschluss an das zentrale Schmutzwassersystem. Die Abwassergrube hätte sie ab 2015 nicht mehr nutzen dürfen. Die Gemeinde erhob für den Anschluss des Grundstücks an die öffentliche Abwasserkanalisation mit Beitragsbescheid vom 22. März 2010 einen am 23. April 2010 fälligen Beitrag in Höhe vom 3.306,25 Euro, den sie ausgehend von der Grundstücksfläche und dessen Nutzung errechnet hatte. Auf den genannten Bescheid nimmt das Gericht wegen der näheren Einzelheiten Bezug.
Da die Klägerin den genannten Schmutzwasserbeitrag nicht aufbringen konnte, beantragte sie mit Schreiben vom 30. Juni 2010 bei der Beklagten die Entnahme eines Altersvorsorge-Eigenheimbetrags in Höhe des geschuldeten Schmutzwasserbeitrags aus ihrem Altersvorsorgevertrag. Der Stand des Altersvorsorgevermögens überstieg den der Gemeinde geschuldeten Betrag.
Mit Bescheid vom 20. September 2010 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Entnahme des Eigenheimbetrages ab. Die Entrichtung des Schmutzwasserbeitrags für eine seit langem angeschaffte / hergestellte Immobilie sei nicht begünstigt.
Hiergegen wehrte sich die Klägerin fristgerecht mit Einspruch.
Es handele sich bei dem Schmutzwasserbeitrag um eine wertsteigernde Einmalzahlung, die begünstigt sein müsse.
Mit Einspruchsentscheidung vom 28. Januar 2011 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück.
Die Aufwendungen für den Anschluss an das zentrale Abwassernetz seien nicht förderfähig, da die Voraussetzungen nach den allgemeinen steuerlichen Grundsätzen für die Anschaffung oder Herstellung einer Wohnung nicht erfüllt seien.
Hiergegen wehrt sich die Klägerin fristgerecht mit ihrer Klage.
Sie sei gezwungen gewesen, ihr Einfamilienhaus an das zentrale Abwassersystem anzuschließen. Anderenfalls hätte sie spätestens 2015 eine vollbiologische Kleinkläranlage anschaffen müssen. Die Investitionskosten hätten sich auf 6.000 Euro bis 8.000 Euro belaufen. Es handele sich um notwendige bauliche Maßnahmen für die weitere Herstellung ihres Eigenheims.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 20. September 2010 und die Einspruchsentscheidung vom 28. Januar 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag vom 30. Juni 2010 auf Entnahme eines Altersvorsorge-Eigenheimbetrages unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Schmutzwasserbeitrag um nach § 92a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG begünstigte Aufwendungen für die Anschaffung einer Wohnung handelt, zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Klägerin habe ihr Haus bereits weit vor dem Anschluss an das öffentliche Abwassersystem bewohnt. Dieses habe über eine taugliche Entsorgungsmöglichkeit in Form einer Grube verfügt. Die Herstellung dieser Wohnung sei somit bereits weit vor dem Bau des Abwasseranschlusses abgeschlossen gewesen. Das Gesetz wolle nur die erstmalige Anschaffung / Herstellung einer Wohnung fördern. Für die Förderung vom Modernisierungsmaßnahmen lasse sich dem Gesetz kein Anhaltspunkt entnehmen. Der Schmutzwasserbeitrag zähle somit nicht zu den förderfähigen Herstellungskosten der Wohnung. Ließe man die Kosten für die Modernisierung der Abwasserentsorgung als förderfähig gelten, würde dies entgegen dem Gesetzeszweck nicht die Begründung, sondern allenfalls die Verbesserung selbstgenutzten Wohneigentums fördern.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
1. Die zulässige Klage ist begründet, was der Senat gemäß § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung -FGO- aufgrund des übereinstimmenden Verzichts der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte. Die in den angefochtenen Bescheiden enthaltene Ablehnungsentscheidung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 FGO). Die Beklagte hat der Klägerin die Erteilung des nach § 92b Abs. 1 Satz 3 EStG vorgesehenen Bescheids über die Gestattung der Entnahme eines Altersvorsorge-Eigenheimbetrages zu Unrecht mit der Begründung verweigert, es fehle an der in § 92a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG vorausgesetzten unmittelbaren Verwendung des Eigenheimbetrages für die Anschaffung oder Herstellung einer Wohnung.
a) Gemäß § 92a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG kann der Zulageberechtigte das in einem Altersvorsorgevertrag gebildete geförderte Kapital bis zum Beginn der Auszahlungsphase unmittelbar für die Anschaffung oder Herstellung einer Wohnung verwenden, wobei die Wohnung in diesem Sinne gemäß § 92a Abs. 1 Satz 2 EStG eine selbstgenutzte Wohnung sein muss. Begünstigt sind nach der eindeutigen Gesetzesbegründung in diesem Zusammenhang auch die Anschaffungskosten des der selbstgenutzten Wohnung zuzurechnenden Grund- und Bodenanteils (BT-Drs. 16/9670, 8). Für die Definition des Tatbestandsmerkmals „Anschaffung oder Herstellung einer Wohnung“ gelten die allgemeinen einkommensteuerrechtlichen Grundsätze [Lindberg in Blümich, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, § 92a EStG Tz. 4 (Dokumentstand 120. EL August 2013); Schneider/Kramer in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, § 92a EStG Tz. 9 (Dokumentstand 66. Erg.-Lfg. Mai 2005)]. Die Qualifikation von Aufwendungen als Anschaffungskosten (beziehungsweise Herstellungskosten) bestimmt sich für die steuerrechtliche Beurteilung - und somit auch im Rahmen der Auslegung des § 92a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG - nach § 255 Abs. 1 und Abs. 2 des Handelsgesetzbuchs -HGB- (vgl. BFH-Urteil vom 20. Juli 2010 IX R 4/10, BFHE 230, 392, Bundessteuerblatt -BStBl- II 2011, 35).
b) Die von der Klägerin beabsichtigte Entnahme des geförderten Kapitals für die Entrichtung des Schmutzwasserbeitrags erfüllt entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten die in § 92a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannte Voraussetzung „... für die Anschaffung ... einer Wohnung...“. Bei dem streitgegenständlichen Schmutzwasserbeitrag handelt es sich einkommensteuerrechtlich um - nach § 92a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG begünstigte - nachträgliche Anschaffungskosten im Sinne des § 255 Abs. 1 Satz 1 HGB des der selbstgenutzten Wohnung der Klägerin zuzurechnenden Grund- und Bodenanteils.
aa) Anschaffungskosten sind gemäß § 255 Abs. 1 Satz 1 HGB die Aufwendungen, die geleistet werden, um einen Vermögensgegenstand (steuerlich: ein Wirtschaftsgut) zu erwerben und ihn in einen betriebsbereiten Zustand zu versetzen, soweit sie dem Vermögensgegenstand einzeln zugeordnet werden können. Der Begriff der Anschaffungskosten ist wegen der Einbeziehung von Nebenkosten und nachträglichen Anschaffungskosten also grundsätzlich umfassend. Er enthält – unter Ausschluss der Gemeinkosten – alle mit dem Anschaffungsvorgang verbundenen Kosten, somit neben der Entrichtung des Kaufpreises alle sonstigen Aufwendungen des Erwerbers, die in einem unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Anschaffung stehen, insbesondere zwangsläufig im Gefolge der Anschaffung anfallen. Nicht entscheidend ist, ob diese Kosten bereits im Zeitpunkt des Erwerbs oder erst im Anschluss hieran als Folgekosten des Erwerbsvorgangs entstehen (BFH-Urteil vom 20. April 2011 I R 2/10, BStBl. II 2011, 761, Tz. 14 m.w.N.).
Herstellungskosten sind die Aufwendungen, die durch den Verbrauch von Gütern und die Inanspruchnahme von Diensten für die Herstellung eines Vermögensgegenstands, seine Erweiterung oder für eine über seinen ursprünglichen Zustand hinausgehende wesentliche Verbesserung entstehen. Eine wesentliche Verbesserung in dem genannten Sinne ist gleichzusetzen mit dem „Versetzen“ in einen (höheren) betriebsbereiten Zustand im Sinne des § 255 Abs. 1 Satz 1 HGB (BFH-Urteil vom 20. Juli 2010 IX R 4/10, BFHE 230, 392, BStBl II 2011, 35).
bb) Bei Kanalisationskosten ist zunächst zu unterscheiden zwischen Aufwendungen für Kanalisationsanlagen außerhalb des Grundstücks (Sammelkanal, Klärwerk) und Aufwendungen für auf dem Grundstück liegende Anlagen zum Anschluss des Gebäudes an die Kanalisation. Hausanschlusskosten für die Leitung vom Haus bis zur Grundstücksgrenze sind Herstellungskosten des Gebäudes. Für Kosten in Form kommunaler Erschließungsbeiträge für den außerhalb des Grundstücks anfallenden Erschließungsaufwand gilt hingegen Folgendes: Beiträge zur Finanzierung erstmals durchgeführter Erschließungsmaßnahmen sind nach ständiger Rechtsprechung den Anschaffungskosten von Grund und Boden zuzurechnen, da sie dazu dienen, das Grundstück baureif zu machen und es damit im Sinne von § 255 Abs. 1 Satz 1 HGB in einen betriebsbereiten Zustand zu versetzen. Werden hingegen vorhandene Erschließungseinrichtungen ersetzt oder modernisiert, so handelt es sich um Erhaltungsaufwand, es sei denn, das Grundstück erfährt dadurch eine über den ursprünglichen Zustand hinausgehende wesentliche Verbesserung im Sinne von § 255 Abs. 2 Satz 1 HGB. Der Charakter eines Grundstücks wird durch grundstücksbezogene Kriterien bestimmt, insbesondere durch Größe, Lage, Zuschnitt, Erschließung und Grad der Bebaubarkeit. Solange diese unverändert bleiben, handelt es sich nicht um eine wesentliche Verbesserung. Nicht entscheidend ist, ob die Maßnahme aus anderen Gründen zu einer Werterhöhung des Grundstücks geführt hat (zum Ganzen (BFH-Urteil vom 23. Februar 1999 IX R 61/96, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofes -BFH/NV- 1999, 1079).
Im Streitfall sieht der Senat eine wesentliche Verbesserung in Gestalt eines Versetzens in einen (höheren) betriebsbereiten Zustand als gegeben an. Der streitgegenständliche Erschließungsaufwand betrifft nach der Anschaffung durchgeführte Maßnahmen, die die Benutzbarkeit des angeschafften Grund- und Bodens wesentlich erhöhen. Im Falle von Erschließungsmaßnahmen ist für die Abgrenzung von Anschaffungskosten gegenüber Erhaltungsaufwand entscheidend, ob die Erschließung die Nutzbarkeit des Grund und Bodens unabhängig von der Bebauung des Grundstücks und dem Bestand von auf dem Grundstück errichteten Gebäude erweitert und damit dem Grundstück ein besonderes, über den bisherigen Zustand hinausgehendes Gepräge gibt (BFH-Urteil vom 20. Juli 2010 IX R 4/10, BFHE 230, 392, BStBl II 2011, 35). Hier stellte der Anschluss an das zentrale Schmutzwassersystem nicht lediglich eine Maßnahme dar, durch die eine vorhandene Erschließungseinrichtung ersetzt oder modernisiert wurde. Maßgeblich ist vielmehr, dass die vorhandene Sickergrube ab dem Jahre 2015 nicht mehr hätte genutzt werden dürfen. Das Grundstück der Klägerin wurde somit durch den Anschluss an das zentrale Abwassersystem in einen neuen Zustand versetzt, weil es über das Jahr 2015 hinaus über eine gesetzeskonforme Abwasserentsorgungsmöglichkeit verfügt und mithin ein gegenüber dem ursprünglichen Zustand wesentlich höheres Nutzungspotential aufweist. Damit gaben die von der Klägerin zu tragenden Aufwendungen dem Grundstück das Gepräge in der Weise, dass es weiterhin zum Bewohnen genutzt werden konnte. Für die Qualifikation der Aufwendungen kann es keinen Unterschied machen, ob ein Grundstück überhaupt nicht erschlossen worden ist oder ob die vorhandenen Anlagen nicht genutzt werden dürfen. In beiden Fällen sind zwingend Erschließungsaufwendungen aufzubringen, während der Grundstückseigentümer bei vorhandenen und weiter nutzbaren Anlagen, die nur modernisiert oder durch ebenfalls nutzbare Anlagen ersetzt werden, die Wahl hat, die Aufwendungen aufzubringen oder nicht. Im ersten Fall handelt es sich um für die - weitere - Nutzbarkeit des Grundstücks zwingende und im zweiten Fall um freiwillige Aufwendungen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung -ZPO-.
3. Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. FGO zur Fortbildung des Rechts zuzulassen, da der Streitfall die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bislang ungeklärte Rechtsfrage aufwirft, wie das in § 92a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG enthaltene Tatbestandsmerkmal „Anschaffung oder Herstellung einer Wohnung“ auszulegen ist.