Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 30.08.2012 | |
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Aktenzeichen | L 3 U 15/10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 2 SGB 7, § 7 SGB 7, § 8 SGB 7, § 56 SGB 7, § 48 Abs 3 SGB 10, § 96 SGG |
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Klägerin begehrt von der Beklagten eine höhere Verletztenrente.
Die Klägerin erlitt einen von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfall, als sie als Beifahrerin in einem Pkw am 04. Februar 1990 bei einem Autounfall eingeklemmt wurde und hierbei eine schwere Lungenkontusion beidseits, rechts mehr als links, Lungenparenchymrupturen rechts, intrapulmonale Hämatome beidseits basal, ein ARDS <Acute Respiatory Distress Syndrome> mit ausgeprägter Hyperkapnie, einen Pneumothorax rechts, eine bipariatale Kalottenfraktur, ein Brillenhämatom bei Verdacht auf frontobasale Schädelfraktur, ein Schädelhirntrauma ersten Grades, eine transconduläre Y-Fraktur des rechten Oberarms, Risswunden am rechten Ohr und rechten Handgelenk erlitt; sie wurde am Unfalltag notoperiert und zunächst bis zum 23. April 1990 auf der Intensivstation, wo ihr am 20. Februar 1990 ein Luftröhrenschnitt gesetzt wurde, und bis zum 02. Mai 1990 auf der chirurgischen Abteilung weiterbehandelt, vgl. etwa Bericht des Klinikums M – Institut für Anästhesiologie – vom 02. Mai 1990. Sie wurde am 03. Mai 1990 ins Krankenhaus Z verlegt und dort bis zum 15. Juni 1990 stationär weiterbehandelt, vgl. Bericht vom 25. Juni 1990. Vom 22. Juni bis zum 30. Juli 1990 schloss sich eine stationäre Behandlung am Universitätsklinikum S – Hals-Nasen-Ohren(HNO)-Klinik mit Polikliniken – an, in deren Rahmen der Luftröhrenschnitt geschlossen wurde, vgl. Bericht vom 13. August 1990. In der Folgezeit fand u.a. vom 12. September bis zum 10. Oktober 1990 eine Anschlussheilbehandlung (AHB) in der Klinik B – Rehabilitationsklinik für Neurologie und Orthopädie – statt, vgl. Bericht vom 15. November 1990.
Die Beklagte holte u.a. ein Gutachten des Arztes für Chirurgie und Unfallchirurgie am Krankenhaus Zehlendorf – Bereich Behring – Dr. S vom 02. Februar 1993 und ein HNO-ärztliches Zusatzgutachten des Chefarztes am S-Krankenhaus Dr. A vom 03. September 1993 ein. Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 26. November 1993 wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 04. Februar 1990 ab 30. März 1991 eine Verletztenrente unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vom Hundert (v.H.) und erkannte als Folgen des Arbeitunfalls eine Bewegungseinschränkung im Schulter- und Ellenbogengelenk nach operativ versorgten Brüchen des Oberarmknochens in Ellenbogengelenknähe sowie der Speiche im handgelenksnahen Bereich rechts mit verletzungsbedingten, degenerativen Veränderungen, durch medikamentöse Behandlung verursachte beidseitige Innenohrschwerhörigkeit, eingeschränkte Lungenfunktion nach Verletzung des Brustraums mit Beteiligung der Lunge und Anlage eines Luftröhrenschnitts an.
Die Klägerin stellte am 08. Juni 2005 einen Antrag auf Erhöhung der Verletztenrente, in dessen Folge die Beklagte beim Unfallkrankenhaus Berlin (UKB) durch den Oberarzt C, die Fachärztin für Chirurgie Dr. R und Prof. Dr. E das Rentengutachten vom 15. September 2005 erstellen ließ, wonach als wesentliche Folgen des Unfalls eine beginnende posttraumatische Arthose des rechten Handgelenks, das endgradige funktionelle Defizit am rechten Ellenbogengelenk, die postoperativen Narben am rechten Arm, Hals und Thorax, die dort näher bezeichneten radiologischen Veränderungen am rechten Ellenbogen- und Handgelenk, die medikamenteninduzierte Hörminderung beidseits und die angegebene Dyspnoe nach Lungenkontusion beidseits bestünden. Die degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule, die Coxarthrose links und die Gonarthrose rechts seien unfallunabhängig. Auf unfallchirurgischem Fachgebiet sei die MdE auf 10 v.H. einzuschätzen. Die HNO-Fachärztin C stellte in ihrem Gutachten vom 29. September 2005 eine hochgradige Schwerhörigkeit beidseits, einen chronisch dekompensierten Tinnitus aurium beidseitig, phobischen Schwindel, geringgradige Hypogeusie und Hyposmie beidseits, kosmetisch störende, flächenhafte, leicht kelloidal-dehiszente Narbe über dem Jugulum sowie eine chronische Nasenatmungsbehinderung rechts mehr als links bei Luxation septi nach rechts sowie eine MdE auf HNO-ärztlichem Fachgebiet von 70 v.H. fest. Im beim UKB im Auftrag gegebenen internistischen Gutachten von Prof. Dr. K und Dr. S vom 01. April 2006 wurden als Unfallfolgen auf internistischem Fachgebiet Pleuraschwielen rechts apikal mit verzogener Horizontalspalte rechts festgestellt. Inwieweit hieraus eine restriktive Ventilationsstörung resultieren könne, habe vor dem Hintergrund der fehlenden Beurteilbarkeit der Lungenfunktionsprüfung bzw. der nicht möglichen Durchführung einer Spiroergometrie – die Durchführung der Spirometrie und der Bodyplethysmografie seien aufgrund einer begleitenden Angstreaktion der Klägerin nur unvollständig möglich und von daher nicht verwertbar gewesen - nicht abschließend geklärt werden können. Eine Aortenklappensklerose, minimale Aortenklappeninsuffizienz, Prolaps des anterioren Mitralklappensegels, rudimentäre Eustach’sche Klappe, Steatosis hepatis und degenerative Veränderungen der Brustwirbelsäule mit flacher Skoliose seien unfallfremde Erkrankungen. Der Allgemeinzustand der Klägerin sei vor allem durch ihr angstbetontes Erleben mit depressiver Stimmungslage beeinträchtigt, weshalb eine nervenärztliche Begutachtung anzuregen sei. Prof. Dr. E etc. schätzten die Gesamt-MdE unter Einbeziehung der vorstehenden Begutachtungen mit Schreiben vom 12. Juni 2006 auf 70 v.H. ein.
Die Beklagte setzte die Rente mit Bescheid vom 14. August 2006 ab 01. Oktober 2005 unter Zugrundelegung einer MdE von 70 v.H. fest. Mit ihrem hiergegen gerichteten Widerspruch vom 05. September 2006 machte die Klägerin eine MdE von 100 v.H. geltend. Neben der von der Beklagten richtig erkannten Zunahme der beidseitigen Innenohrschwerhörigkeit seien die neurologischen Ausfälle und Funktionsminderungen des linken Armes unbewertet geblieben. Die aufgetretene Osteoporose als Folge des langen Komas und die damit verbundene Beeinträchtigung des gesamten Bewegungsapparates seien unzutreffend als reine Verschleißerscheinungen bewertet worden. Die psychischen Störungen durch die fortschreitende Verschlechterung ihres Gesundheitszustands seien ebenfalls fast gänzlich unberücksichtigt geblieben. Die Beklagte wies den Widerspruch nach Beiziehung eines Befundberichts des die Klägerin seit 2003 behandelnden Arztes für Neurologie M vom 11. Dezember 2006 und einer hierzu bei Prof. Dr. E etc. eingeholten Stellungnahme vom 26. Januar 2007 („…festzustellen, dass es im Rahmen der Nachbehandlung des 1990 stattgehabten Unfalls zu keiner Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung kam, somit also kein psychiatrisches Krankheitsbild als Folge des Unfalls… geltend gemacht wurde.“) mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 2007 zurück.
Die Klägerin hat ihr Begehren mit der am 22. August 2007 zum Sozialgericht Berlin (SG) erhobenen Klage weiterverfolgt und ihr bisheriges Vorbringen vertieft. Sie hat behauptet, dass die unfallbedingte Gesamt-MdE insbesondere auch unter Berücksichtigung der Unfallfolgen auf psychiatrischem Fachgebiet, zutreffender Gewichtung ihres auf den Unfall zurückzuführenden Leidens auf HNO-ärztlichem Fachgebiet und ihrer Halswirbelsäulenerkrankung 100 v.H. betrage.
Das SG hat nach Beiziehung von Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte und der ärztlichen Gutachten für die Gesetzliche Rentenversicherung des Facharztes für Chirurgie und Sozialmedizin P vom 27. September 2005 und des Arztes für Orthopädie Dr. M vom 31. Juli 2007 das schriftliche Sachverständigengutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie - Psychotherapie – Dr. A vom 17. Juni 2008 eingeholt, welcher bei der Klägerin eine Somatisierungsstörung vor dem Hintergrund einer malignen Regression (chronifizierte Anpassungsstörung) – „von erheblicher Aggravation und Simulation kontaminiert“ - festgestellt hat, ohne sie auf den Unfall zurückzuführen. Die Klägerin ist dem Begutachtungsergebnis u.a. zunächst unter Bezugnahme auf Berichte des Krankenhauses Z vom 15. Mai und 21. Juni 1990 mit der dort enthaltenen Teildiagnose „Reaktive Depression“ entgegen getreten. Sie hat das im gegen sie vor dem Amtsgericht T geführten Strafverfahren eingeholte Sachverständigengutachten des L vom 03. März 2008 vorgelegt, wonach sie bei zwei ihr zur Last gelegten Ladendiebstählen in ihrer Steuerungsfähigkeit in erheblicher Weise herabgesetzt gewesen sei; ferner hat sie das freisprechende Urteil des Amtsgerichts T vom 07. Juli 2008 vorgelegt. Die Klägerin hat ferner das „Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ des M vom 18. August 2008 vorgelegt.
Das SG hat sodann das schriftliche Sachverständigengutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. W vom 20. Dezember 2008 eingeholt. Dieser hat die beginnende, posttraumatische Arthrose des rechten Handgelenks mit geringen Belastungsdefiziten, die geringgradige, posttraumatische Funktionsstörung des rechten Ellenbogengelenks und die postoperativen/ posttraumatischen Narben am rechten Arm, Hals und Brustkorb ohne Funktionsstörungen auf den Unfall zurückgeführt, die unfallbedingten Verletzungsfolgen auf orthopädischem Fachgebiet mit einer MdE von 10 v.H. bewertet und eine posttraumatische Inaktivitätsosteoporose ausgeschlossen („Die im Jahre 2003 erhobenen Befunde können somit nicht auf eine mehrwöchige Intensivpflichtigkeit 13 Jahre zuvor zurückgeführt werden.“).
Die Klägerin hat das unter dem 26. März 2009 erstellte Attest der Ärzte für Pneumologie, Allergologie und Umweltmedizin S und R beigebracht, wonach bei der Klägerin nach dem CT-Befund des Thorax vom 23. März 2009 eine atypische posttraumatische Fibrose in beiden Lungenoberlappen bestehe und entsprechend die Lungenfunktion eine restriktive Ventilationsstörung ergebe. Bei der Klägerin bestehe eine Belastungsdyspnoe bereits bei geringgradiger körperlicher Belastung.
Im Anschluss hat das SG das schriftliche Sachverständigengutachten des Facharztes für HNO-Heilkunde Prof. Dr. W vom 25. September 2009 eingeholt, welcher ausgeführt hat, dass in den Untersuchungen durchgängig Simulation stattgefunden habe. In der Befragungssituation sei nach mehrfacher Aufforderung zur Mitarbeit sinnvoll in Umgangssprache ohne Hörgeräte geantwortet worden. In der Tonaudiometrie sei Taubheit vorgetäuscht worden. In der Gleichgewichtsuntersuchung sei keine Pathologie erkennbar geworden. Die Geruchsprüfung sei unglaubwürdig ausgefallen. Die Gehörprüfungen seien nicht zuverlässig durchführbar gewesen. Es liege sicher ein Sprachgehör in Umgangslautstärke vor. Es bestehe vermutlich eine leichtgradige beidseitige Schwerhörigkeit, welche im Sinne der erstmaligen Entstehung wahrscheinlich auf den Unfall vom 04. Februar 1990 zurückzuführen sei. Das Krankheitsbild werde durch massive Simulation und Aggravation mitbedingt. Die MdE auf HNO-ärztlichem Gebiet liege bei 20 v.H. Es seien bei der Klägerin keine Geruchs-/ Geschmacksstörungen und kein Tinnitus festzustellen.
Das SG hat mit Zustimmung der Beteiligten im Wege schriftlicher Entscheidung die Klage mit Urteil vom 14. Dezember 2009 abgewiesen. Es hat sich auf die Beurteilungen von Dr. A, Dr. W und Prof. Dr. W gestützt, welche mitsamt keinen Rückschluss jedenfalls auf eine 70 v.H. übersteigende MdE zuließen.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 23. Dezember 2009 zugestellte Urteil am 18. Januar 2010 Berufung eingelegt und ihr bisheriges Vorbringen u.a. unter Vorlage eines Attests des Facharztes für Orthopädie K vom 20. September 2011 vertieft, welcher die Funktionsstörungen der Wirbelsäule mit Schmerzsyndromen, Kontraktur des rechten Ellenbogens mit Arthrose, die ausgeprägte Handgelenksarthrose rechts und die schwere Coxarthrose links mehr als rechts als Folgen des Autounfalls von 1990 ansieht. Sie hat ferner eine ärztliche Bescheinigung des V Klinikums vom 02. September 2011, einen Bericht des Diagnostikums B vom 06. September 2011 und einen Bericht des sie betreuenden Pflegedienstes vom 06. Juni 2012 vorgelegt.
Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 05. Februar 2010 die Rechtswidrigkeit ihres Bescheides vom 14. August 2006 „über den Ausspruch auf eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 70“ v.H. fest und setzte die Rente auf den zuletzt gezahlten Betrag von 627,42 € fest, wobei auch künftige Veränderungen in den rechtlichen und sachlichen Verhältnissen nicht mehr berücksichtigt werden. Sie stützte ihre Entscheidung auf § 48 Abs. 3 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) und verwies auf das Ergebnis der medizinischen Ermittlungen des bisherigen gerichtlichen Verfahrens. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 29. April 2010 zurück.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Dezember 2009 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 14. August 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 2007 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 04. Februar 1990 ab Januar 2005 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 vom Hundert der Vollrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat auf Antrag der Klägerin das schriftliche Sachverständigengutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. H vom 05. Oktober 2011 eingeholt, worin der Sachverständige zur Einschätzung gelangt ist, dass bei der Klägerin eine depressive Episode, mittelgradig, ohne somatisches Syndrom und eine histrionische Persönlichkeitsstörung bestünden, ohne dass sich diese Erkrankungen im Sinne einer erstmaligen Entstehung oder Verschlimmerung im Wesentlichen wahrscheinlich auf den Unfall vom 04. Februar 1990 zurückführen ließen.
Der Senat hat den auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren gerichteten Antrag der Klägerin mit Beschluss vom 13. April 2011 abgelehnt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten sowie des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Gerichtsakten und Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen und inhaltlich Bezug genommen.
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Verfahrensgegenstand des vorliegenden Klage- und Berufungsverfahrens ist zunächst der Bescheid der Beklagten vom 14. August 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 2007. Der Bescheid vom 05. Februar 2010 in der Fassung Widerspruchsbescheids vom 29. April 2010, mit welchem die Beklagte die Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 14. August 2006 feststellte und den Zahlbetrag endgültig auf 627,42 € festsetzte, ist nicht gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) weiterer Gegenstand des vorliegenden Verfahrens geworden.
Gemäß § 96 SGG wird nach Klageerhebung ein neuer Verwaltungsakt Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergeht und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Eine Abänderung oder ein Ersetzen i.S.v. § 96 SGG setzt allgemein voraus, dass der Regelungsgegenstand des neu einzubeziehenden Verwaltungsakts mit demjenigen des früheren identisch ist, was durch einen Vergleich der Verfügungssätze festgestellt werden muss (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG – Kommentar, 10. Auflage 2012, § 96 Rn. 4a).
Die Beklagte nahm eine fällige Rentenanpassung zum Anlass, den Bescheid vom 05. Februar 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 29. April 2010 aufgrund § 48 Abs. 3 SGB X zu erlassen. Nach dieser Vorschrift darf, wenn ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann und eine Änderung nach § 48 Abs. 1 oder 2 SGB X zugunsten des Betroffenen eingetreten ist, die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Zwar mag für die Einordnung als Änderungsbescheid i.S.v. § 96 SGG sprechen, dass der unter Bezugnahme auf § 48 Abs. 3 SGB X ergangene Bescheid eine gegenüber der Rücknahme nach § 45 SGB X zwar weniger weitgehende, aber immerhin doch einschneidende Beseitigung der Bestandskraft mit sich bringt, so dass in diesem Umfang die Feststellung der Rechtswidrigkeit nach § 48 Abs. 3 SGB X ebenso rechtsgestaltend wie die Rücknahme nach § 45 SGB X ist (Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 22. Juni 1988 - 9/9a RV 46/86 -, zitiert nach juris Rn. 22). Dagegen spricht allerdings und sieht der Senat als entscheidend an, dass § 48 Abs. 3 SGB X in der Tat nur eine Rechtsfolge vermittelt, welche die ursprüngliche Leistungsgewährung mit Bescheid vom 14. August 2006 gerade nicht berührt, sondern lediglich festschreibt. Der Rechtsfolge nach begrenzt die Aussparungsregelung nur den Anspruch des rechtswidrig Begünstigten solange auf den ihm durch den rechtswidrigen Verwaltungsakt zuerkannten Bestand, bis er diesen nach zu seinen Gunsten eingetretenen Änderungen rechtmäßig beanspruchen kann. Erst bei Änderungen zugunsten des Betroffenen ist danach nicht von der durch Bestandsschutz garantierten Leistung auszugehen, vielmehr von dem, was sich bei richtiger Anwendung des Rechts ergeben würde. Geschützt ist der Berechtigte dadurch in der Rechtsstellung, die durch § 45 SGB X vermittelt wird und danach nicht zurückgenommen werden kann. Der Schutz erstreckt sich auf den Zahlbetrag. Mit dieser Rechtsfolge greift § 48 Abs. 3 SGB X indes gerade nicht in den geschützten Bestand einer Leistung ein und nimmt nichts, sondern beschränkt vielmehr nur als Regelung des materiellen Leistungsrechts die an sich dem Betroffenen auf Grund der wesentlichen Änderung zustehende Leistungserhöhung (Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 7. Auflage 2010, § 48 Rn. 32). So gesehen erscheint die Abschmelzungsregelung als eine solche, die erst bei einer künftigen Änderung der Verhältnisse i.S.v. § 48 Abs. 1 (oder Abs. 2 SGB X), welche Bedingung für die Anwendung des § 48 Abs. 3 SGB X zugunsten des Berechtigten ist (vgl. zu dieser Anforderung, BSG, Urteil vom 29. August 1996 – 4 RA 54/95 -, zitiert nach juris Rn. 24), zum Zuge kommt und so den Bestand des Rechts bzw. das Stammrecht weder ändert noch ersetzt.
Dies zugrunde gelegt hat das SG die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid 14. August 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 2007 ist nicht in einer die Klägerin beschwerenden Weise rechtswidrig.
Nach § 56 Abs. 1 S. 1 des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente.
Versicherungsfälle sind gemäß § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle der Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit. Nach § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Der Gesetzgeber bringt mit der Formulierung „infolge“ in § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII das Erfordernis eines Zusammenhangs zum Ausdruck. Es muss eine kausale Verknüpfung des Unfalls mit der betrieblichen Sphäre bestehen, mithin eine rechtliche Zurechnung für besonders bezeichnete Risiken der Arbeitswelt beziehungsweise gleichgestellter Tätigkeiten, für deren Entschädigung die gesetzliche Unfallversicherung als spezieller Zweig der Sozialversicherung einzustehen hat, und zwar nicht nur im Sinne einer Kausalität im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, sondern auch im Sinne der Zurechnung des eingetretenen Erfolges zum Schutzbereich der unfallversicherungsrechtlichen Norm als eines rechtlich wesentlichen Kausalzusammenhangs (Zurechnungslehre der wesentlichen Bedingung, ständige Rechtsprechung, etwa BSG, Urteil vom 09. Mai 2006 – B 2 U 1/05 R -, zitiert nach juris Rn. 13 ff.). Die Frage nach diesem Zurechnungszusammenhang stellt sich auf drei Ebenen, nämlich als Unfallkausalität zwischen ausgeübter Tätigkeit und Unfallereignis, als haftungsbegründende Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheitserstschaden und als haftungsausfüllende Kausalität zwischen Gesundheitserstschaden und längerandauernden Unfallfolgen (BSG, a.a.O., Rn. 10; Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010, S. 21 f.). Die vorgenannten Merkmale der versicherten Tätigkeit, Verrichtung, Einwirkungen und Krankheit müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (etwa BSG, Urteil vom 27. Juni 2006 - B 2 U 20/04 R –, zitiert nach juris Rn. 15). Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden (vgl. BSG a.a.O., auch Rn. 18 und 20).
Vorliegend fehlt es jedenfalls insoweit an einer haftungsausfüllenden Kausalität zwischen dem beim Unfall erlittenen Gesundheitserstschaden und den längerandauernden Unfallfolgen, als die Klägerin eine MdE von mehr als 70 v.H. geltend macht.
Nach § 56 Abs. 1 S. 2 SGB VII besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert ist und die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen. Nach § 56 Abs. 1 S. 3 SGB VII sind die Folgen eines Versicherungsfalls nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern. Die Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) hängt also von zwei Faktoren ab: Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 – B 2 U 14/03 R -, zitiert nach juris Rn. 12). Hierbei kann zu beachten sein, dass zu Rezidiven neigende Erkrankungen zu Beeinträchtigungen führen, die über die reine Funktionseinschränkung des betroffenen Organs hinausgehen und sich auf das Erwerbsleben auswirken. Bei derartigen Erkrankungen sind bei der Schätzung der MdE entsprechend den Verhältnissen des Einzelfalls gegebenenfalls bestehende besondere Aspekte der Genesungszeit wie das Vorliegen einer Dauertherapie, eines Schmerzsyndroms mit Schmerzmittelabhängigkeit, Anpassung und Gewöhnung an den gegebenenfalls reduzierten Allgemeinzustand, die notwendige Schonung zur Stabilisierung des Gesundheitszustandes, psychische Beeinträchtigungen (Antriebsarmut, Hoffnungslosigkeit), soziale Anpassungsprobleme etc., die Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit haben, wie auch sonst bei der MdE-Bewertung zu berücksichtigen (BSG a.a.O., Rn. 17). Für eine Art „Risikozuschlag" oder „Gefährdungs-MdE" wegen der Prognoseunsicherheiten hinsichtlich der Entwicklung der Krankheit ist in der auf die verminderten Arbeitsmöglichkeiten bezogenen MdE-Schätzung in der gesetzlichen Unfallversicherung kein Raum, weil auf die Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens im Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen ist und erst in Zukunft möglicherweise eintretende Schäden grundsätzlich nicht zu berücksichtigen sind. Allerdings ist eine schon bestehende Rückfallgefahr, die bereits vor dem Eintritt des eigentlichen Rückfalls die Erwerbsfähigkeit mindert, bei der Bemessung der gegenwärtigen MdE zu berücksichtigen. Dies gilt auch für die anderen genannten Aspekte und ist bei der MdE-Bewertung zu beachten. Ebenso wenig wie jedoch das allgemeine Rezidivrisiko eine pauschale MdE-Erhöhung zu begründen vermag, sondern nur besondere Aspekte der Genesungszeit, führt der bloße Ablauf einer bestimmten rezidivfreien Zeit in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht automatisch zu einer MdE-Herabsetzung. Es bedarf vielmehr einer Besserung der zuvor der MdE-Bemessung zugrunde gelegten Funktionsbeeinträchtigungen beziehungsweise besonderen Aspekte, die die Erwerbsfähigkeit beeinflussen (BSG a.a.O., Rn. 18).
Hiervon ausgehend bestehen keine Anhaltspunkte, dass bei der Klägerin eine über 70 v.H. hinausgehende MdE vorliegt, welche sich mit auf den Unfall beziehungsweise den dadurch erlittenen Gesundheitserstschaden zurückführbaren Funktionsbeeinträchtigungen begründen ließe. Hierfür vermittelt keines der vorliegenden gerichtlichen Sachverständigengutachten auf dem jeweiligen Fachgebiet hinreichende Anknüpfungspunkte. Zunächst hat Dr. A in seinem auf psychiatrischem Fachgebiet erstellten Sachverständigengutachten im Einklang mit der arbeitsmedizinischen Fachliteratur ausgeführt, dass sich die bei der Klägerin diagnostizierte Somatisierungsstörung vor dem Hintergrund einer malignen Regression im Rahmen einer chronischen Anpassungsstörung – entgegen der Krankheitstypik - erst deutlich mehr als zehn Jahre nach dem Unfall manifestierte und die Klägerin erst ab 2003 eine regelmäßige psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nahm, ohne dass Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Symptome bloß etwa wegen im Vordergrund stehender organischer Unfallfolgen nicht frühzeitig festgestellt wurden und nur infolgedessen sich keine therapeutischen Konsequenzen ergaben (vgl. Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010, Kap. 5.1, S. 142, und Kap. 5.1.13, S. 149 ff.). Prof. Dr. W hat in seinem auf HNO-ärztlichem Fachgebiet erstellten Sachverständigengutachten nachvollziehbar und - hinsichtlich der bei der Klägerin festgestellten Aggravation und Simulation – im Einklang mit Dr. A ausgeführt, dass sich bei der Klägerin allenfalls eine leichte Schwerhörigkeit feststellen lässt, ohne dass sich hieraus eine MdE von mehr als 20 v.H. ableiten ließe. Dr. W-R hat schließlich auf orthopädischem Fachgebiet überzeugend dargelegt, dass bis auf die geringfügigen Funktionsstörungen am rechten Ellenbogen- und Handgelenk sowie die Narbenbildungen keine posttraumatischen Veränderungen beziehungsweise traumatologischen Unfallfolgen mehr vorliegen, so dass sich allenfalls eine MdE von 10 v.H. ergibt. Ebensowenig lässt der im Klageverfahren vorgelegte CT-Befund vom 23. Mai 2009, in welchem eine Lungenfibrose (statt Pleuraschwielen?) beschrieben wird, auf eine höhere MdE für die Unfallfolgen auf internistischem Gebiet schließen. So ergaben sich im Rahmen der umfassenden internistischen Begutachtung nach mehrfachen Untersuchungen der Klägerin (Gutachten von Prof. Dr. K/ Dr. S vom 01. April 2006) als bleibende Unfallfolgen der Lungenverletzung Pleuraschwielen rechts apikal mit verzogener Horizontalspalte rechts. Im Hinblick auf die auch hier bestehenden Schwierigkeiten, eine Lungenfunktionsstörung und deren Umfang zu verifizieren, schätzten die Gutachter unter Annahme einer restriktiven Ventilationsstörung die daraus folgende MdE mit 10 v.H. ein. Abgesehen davon, dass eine Verursachung der nunmehr beschriebenen Lungenfibrose durch den Unfall selbst beziehungsweise durch den Erstschaden fraglich ist (vgl. Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, a.a.O., Kap., 17.1.4.3, S. 996 f.), fehlt es an einem objektivierbaren Nachweis für das Vorliegen einer restriktiven Ventilationsstörung in höhergradiger Ausprägung. Dementsprechende (objektive und durch die uneingeschränkte Mitwirkung der Klägerin geprägte) Lungenfunktionsprüfungen sind von der Klägerin nicht vorgelegt worden. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird zunächst abgesehen, weil die Berufung aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils als unbegründet zurückzuweisen ist, § 153 Abs. 2 SGG.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass auch die von Dr. H im Berufungsverfahren durchgeführte Begutachtung keine Anhaltspunkte für eine im Wesentlichen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückführbare Entstehung oder Verschlimmerung eines psychischen Leidens erbracht hat. Vielmehr hat der Sachverständige im Kern im Einklang mit dem Ergebnis der von Dr. A im erstinstanzlichen Verfahren durchgeführten Begutachtung keine unfallabhängigen neurologisch-psychiatrischen Störungen festgestellt. Auch die von der Klägerin im Berufungsverfahren vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und die Äußerung ihres Pflegediensts lassen mangels Bezugnahme auf objektive Befunde keinen Rückschluss auf unfallbedingte, eine MdE von 70 v.H. übersteigende Funktionsbeeinträchtigungen zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.
Die Revision ist mangels Zulassungsgrunds i.S.v. § 160 Abs. 2 SGG nicht zuzulassen.