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Asyl, Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung Afghanistan


Metadaten

Gericht VG Potsdam 7. Kammer Entscheidungsdatum 19.02.2018
Aktenzeichen VG 7 K 4949/16.A ECLI ECLI:DE:VGPOTSD:2018:0219.7K4949.16.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 3c Abs 1 AsylG, § 4 Abs 1 AsylG, § 4 Abs 3 AsylG, § 60 Abs 5 AufenthG

Tenor

Soweit die Kläger die Klage zurückgenommen haben, wird das Verfahren eingestellt.

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. Juni 2016 verpflichtet festzustellen, dass für die Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG im Hinblick auf Afghanistan besteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte und die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, jeweils zur Hälfte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

Die Kläger begehren die Feststellung, dass ihnen subsidiärer Schutz nach § 4 Asylgesetz zusteht sowie die Feststellung, dass für sie Abschiebungsverbote hinsichtlich ihres Herkunftslandes Afghanistan gelten.

Die Kläger sind afghanische Staatsangehörige, gehören dem Volk der Hazara an und stammen aus der Provinz Kunduz. Der Kläger zu 1. ist nach seinen Angaben am geboren, hat eine fünfjährige Schulausbildung absolviert und arbeitete bis zu seiner Ausreise als Bauer. Die Klägerin zu 2 geboren, ist seine Frau; sie hat eine elfjährige Schulausbildung genossen und war im Zeitpunkt ihrer Ausreise Hausfrau. Die Klägerin zu 3. ist ihre am in Deutschland geborene Tochter.

Die Kläger zu 1. und 2. reisten nach ihren Angaben am 7. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie wurden der EAE Eisenhüttenstadt zum 2. November 2015 zugewiesen.

Sie stellten am 1. März 2016 einen Asylantrag. Im Fragebogen gab der Kläger zu 1. an, er habe in seiner Heimat noch Verwandte 2. Grades (Geschwister) und eine Großfamilie. Die wirtschaftliche Situation in der Heimat sei durchschnittlich gewesen. Die Klägerin zu 2. gab schriftlich an, sie habe in ihrer Heimat noch Eltern, Geschwister und eine Großfamilie; die wirtschaftliche Situation sei schlecht gewesen.

Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 2. November 2016 in Eisenhüttenstadt gab der Kläger zu 1. im Wesentlichen an, er habe seine Heimat mit der Familie im November 2015 verlassen und sei am 8. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Für den Schleuser habe er 8000 US-Dollar bezahlt. Es seien seine Ersparnisse gewesen. Er sei zunächst nach Pakistan gefahren und von da aus in den Iran, dann in die Türkei und von dort aus weiter nach Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich gereist. In seiner Heimat habe er noch zwei Onkel und zwei Schwestern.

Zu den Fluchtgründen erklärte er, dass er als Hazara nicht in seiner Heimat leben könne. Er könne nicht seine Religion leben und seine Kinder könnten nicht in die Schule gehen. Als Hazara könne er von den Taliban gefangen und getötet werden. Sie seien nach Deutschland gekommen, damit ihre Kinder in Ruhe zur Schule gehen und in Sicherheit leben könnten. Die Regierung in Afghanistan kümmere sich nicht um sie. Auch in Kabul sei für sie als Hazara wegen ihrem Aussehen und ihrer Religion kein Leben möglich.

Die Klägerin zu 2. bestätigte in ihrer Anhörung am 2. November 2016 im Wesentlichen die Angaben des Klägers zu 1. zum Reiseweg und gab an, ihre Mutter lebe noch in der Region Kunduz wie auch ihre Großfamilie. Sie habe in Afghanistan das Abitur abgelegt, aber keinen Beruf erlernt. Ihre wirtschaftliche Lage sei gut gewesen.

Zu ihren Fluchtgründen gab sie an, sie hätten als Hazara ein schlechtes Leben in Kunduz geführt. Sie sei Schiitin. Schiiten hätten überall im Land Probleme. Die Taliban hätten verlangt, dass sie ihre Häuser mit grüner Farbe hätten kennzeichnen müssen, soweit dort eine unverheiratete Frau lebe. Dies habe keiner gemacht. Wenn die Taliban das aber herausgefunden hätten, hätte es bestimmt Probleme gegeben. Sie sei als schwangere Frau acht Stunden zu Fuß über die verschneiten Berge in Afghanistan geflohen. Hätten sie keine Probleme gehabt, hätten sie diese Tortur nicht auf sich genommen. Sie wolle studieren und als ein freier Mensch in einem freien Land leben. Die Taliban und die IS-Kämpfer würden sie töten. Sie hätten dort nichts mehr zum Leben. Persönlich seien sie niemals bedroht worden.

Mit Bescheid vom 2. Dezember 2016 stellte das Bundesamt fest, dass die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werde, lehnte die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte ab und stellte fest, dass der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt werde. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes lägen nicht vor. Zugleich drohte es die Abschiebung nach Afghanistan an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.

Zur Begründung seiner Entscheidung führte es aus, es könne nicht festgestellt werden, dass die Kläger zu 1. und 2. in ihrer Heimat politischer Verfolgung ausgesetzt gewesen seien oder eine solche gedroht habe. Staatliche Verfolgung hätten die Kläger nicht vorgetragen, denn die Kläger zu 1. und 2. hätten sich im Wesentlichen nur auf die Bedrohung der Taliban oder durch den IS berufen. Die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren sei nur dann relevant, wenn staatliche oder quasistaatliche Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens seien, Schutz zu gewähren. Die Hazara würden als Volksgruppe in Afghanistan zwar diskriminiert, nicht aber in asylrelevanter Weise politisch verfolgt. Der von sunnitischen Extremisten gegen die überwiegend schiitischen Hazara gerichtete Hass finde in weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft keine Unterstützung. Soweit der Kläger zu 1. vorgetragen habe, dass er seine Religion nicht habe ausleben können, habe sein Vorbringen nicht erkennen lassen, dass die behauptete Unterdrückung die Kläger in ihrer religiösen Identität verletzt hätte. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG lägen ebenfalls nicht vor. Die Kläger müssten keine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit befürchten, weil sie die grundsätzlich schutzwillige Regierung insbesondere in den großen Städten Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung biete. Der nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG erforderliche Gefährdungsgrad würde nicht erreicht. Individuell gefahrerhöhende Umstände in der Person der Kläger seien nicht erkennbar. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Weder drohe den Klägern eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung, noch seien konkrete Gefahren für Leib und Leben der Kläger erkennbar.

Die Kläger haben am 19. Dezember 2016 Klage erhoben.

Sie verweisen zur Begründung auf ihren Vortrag in der Anhörung und ergänzen, dass die Stadt Kunduz bereits zwei Mal von den Taliban überrannt worden sei. Die umliegenden Dörfer seien fast vollständig in der Hand der Aufständischen gewesen wären. Es bestehe infolge der kriminellen Gruppen, Warlords und bewaffneten lokalen Milizen eine allgemeine Verrohung des gesellschaftlichen Zustandes. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei den Klägern auch nicht mehr gegeben, da sie über keine nennenswerten familiären Bindungen mehr verfügten.

Zudem seien die Klägerin zu 3. u_____, der Kläger im Verfahren VG 7 K 6143/17.A, Kleinkinder, was unter dem Gesichtspunkt einer extremen Gefährdungslage für die Rechte aus der EMRK genüge.

Die Kläger haben zunächst beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Dezember 2016 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG zuzuerkennen,

hilfsweise,

ihnen subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren,

hilfsweise

festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen.

Die Kläger beantragen nunmehr,

die Beklagte und Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Dezember 2016 zu den Punkten 3. bis 6. zu verpflichten,

ihnen subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren,

hilfsweise

festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte hat schriftlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, das Protokoll der mündlichen Verhandlung sowie auf den Inhalt des Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte gemäß § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, nachdem in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war.

Soweit die Kläger in der mündlichen Verhandlung den Antrag, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, zurückgenommen haben, ist das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).

Die Klage ist im Übrigen zulässig, jedoch nur zum Teil begründet. Nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz des Asylgesetzes - AsylG -) haben die Kläger keinen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, festzustellen, dass ihnen subsidiärer Schutz nach § 4 AsylG zu gewähren ist (1.). Hingegen haben sie einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG (2.).

1.

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, denn sie haben keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG.

a) Ihnen droht nicht die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG.

b) Noch droht ihnen Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i. S. von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.

Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung als einzig vorliegend in Betracht kommende tatbestandliche Variante setzt im Normbereich des subsidiären Schutzes voraus, dass diese Behandlung von einem der in § 3c AsylG genannten Akteuren ausgeht. Mithin muss sie vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten, ausgehen. Nicht umfasst sind anderweitige Ursachen, die zwar zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen, aber keinem der genannten Akteure zugerechnet werden können. Dies ergibt sich aus der Systematik des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG, der nach seinem Absatz 3 die Geltung der Regelungen zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach §§ 3c bis 3e AsylG für den subsidiären Schutz anordnet. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 15b RL 2011/95/EU, dessen Umsetzung die Vorschrift des § 4 AsylG dient. So wird ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU nicht schon dadurch verwirklicht, dass eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies ergibt sich dem Gerichtshof zufolge unter anderem daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden (EuGH, Urteil vom 18. Dezember 2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, Rn. 35 und 41; VGH Mannheim, Urteil vom 3. November 2017 - A 11 S 1704/17 - Rn. 73; VG Berlin, Urt. vom 10. Juli 2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15. Mai 2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; kritisch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 mit Hinweis auf die Rsprg. des EGMR).

Daran fehlt es hier, da die humanitäre Notlage in Afghanistan keinem bestimmten Akteur zugerechnet werden kann, sondern neben den jahrzehntelangen Kriegswirren und der daraus resultierenden schlechten Sicherheitslage maßgeblich von der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung Afghanistans sowie den harten klimatischen Bedingungen abhängig ist. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.

Daher scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.

c) Den Klägern droht bei Rückkehr nach Afghanistan auch keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG in ihrer Herkunftsregion, der Provinz Kunduz.

Für eine ernsthafte und individuelle Bedrohung ist es nicht ausreichend, dass ein eventueller Konflikt zu einer permanenten Gefährdung der Bevölkerung führt (BVerwG, Urt. vom 13. Februar 2014 - 10 C 6.13 - juris, Rn. 24), sondern es bedarf der Feststellung, dass die Gefahr individuell bezogen auf den Schutzsuchenden besteht. Hierzu bedarf es einer Feststellung zur Gefahrendichte, die jedenfalls auch eine annäherungsweise quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos umfasst. Dafür ist eine wertende Gegenüberstellung der Einwohnerzahlen des betreffenden Gebietes mit der Anzahl der sicherheitsrelevanten Ereignisse und der Anzahl der Opfer in diesem Gebiet notwendig (BVerwG, Urt. vom 13. Februar 2014, a. a. O.). Dabei sind nicht nur solche Gewaltakte der Konfliktpartei zu berücksichtigen, die gegen humanitäres Völkerrecht verstoßen, sondern alle, durch die Leib und Leben von Zivilpersonen wahllos und ungeachtet ihrer persönlichen Situation verletzt werden (BVerwG, Urt. vom 27. April 2010 - 10 C 409 - juris, Rn. 23 zu der inhaltlich übereinstimmenden Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a. F.). Hierbei ist in der Regel auf die Herkunftsregion des Ausländers abzustellen, soweit sich dieser nicht bereits vor seiner Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst hat und sich in einem anderen Landesteil auf unabsehbare Zeit niedergelassen hatte (BVerwG, Urt. vom 31. Januar 2013 - 10 C 15/12 - juris, Rn. 13). Die fehlende Wertung der statistischen Betrachtung führt jedenfalls dann nicht zu einem Fehler der Beurteilung, wenn die statistischen Zahlen weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt sind (BVerwG, Urt. vom 17. November 2011 - 10 C 13/10 - juris, Rn. 23). Dabei ist jedenfalls bei einem Opferrisiko von 1 : 800 ( = 0,125 %) noch nicht von einem Überschreiten der relevanten Risikoschwelle und auch noch nicht von einer relevanten Annährung an dieselbe auszugehen (BVerwG, Urt. vom 17. November 2011, a. a. O.). Davon ausgehend, gibt schon die aktuelle statistisch erkennbare Gefahrendichte keinen Anlass zur Annahme, dass der Kläger einer individuellen Gefährdung infolge des bewaffneten Konflikts in seiner Heimat ausgesetzt wäre.

aa) Unter Zugrundelegung der Einwohnerzahlen Afghanistans (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendoku-mentation vom 2. März 2017, in der Fassung der letzten Einfügung vom 25. September 2017, Nrn. 3.1 ff, S. 29 ff) von insgesamt 27.656.245 Personen und einer Gesamtanzahl ziviler Opfer in Afghanistan von 10.453 für das Jahr 2017 laut UNAMA (Afghanistan. Protection of Civilians in Armed Conflict. Annual Report 2017, Februar 2018, S. 1) lässt sich eine landesweite Gesamtwahrscheinlichkeit von 0,037796 Prozent pro Jahr feststellen, dass ein Mensch ein ziviles Opfer willkürlicher Gewalt in Afghanistan wird. Das entspricht einem Verhältnis von 1 : 2645 und liegt damit weit über dem Schwellenwert von 1 : 800. Im Verhältnis zu den Zahlen aus den vergangenen Jahren lässt sich zwar feststellen, dass die Sicherheitslage in absoluten Zahlen nach wie vor angespannt ist, sich aber im Jahresvergleich leicht verbessert hat. Im Referenzzeitraum 2016 waren von der UNAMA landesweit noch 11.434 und 2015 11.034 Fälle ziviler Opfer gezählt worden.

bb) Auch bezogen auf die Provinz Kunduz, aus der die Kläger stammen, lässt sich keine Gefahrenlage feststellen, die eine ernsthafte und individuelle Bedrohung der Kläger nach sich zöge. Kunduz zählt zu den nördlich gelegenen Provinzen Afghanistansund grenzt an die Provinzen Takhar im Osten, Baghlan im Süden und Samangan im Westen. Als strategischer Korridor wird Kunduz als einflussreiche Provinz in Nordafghanistan erachtet – der Sher (Shir) Khan Hafen, besser bekannt als Sherkhan Bandar liegt inmitten der Provinz und erhöht dadurch die militärische und wirtschaftliche Bedeutung. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.029.473 geschätzt (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt, a. a. O., S. 83).

Die einst relativ friedliche Region - die Provinzen Baghlan, Kunduz und Takhar - war in den letzten Monaten von heftigen Zusammenstößen zwischen Taliban und Regierungskräften betroffen. Im Jahr 2016 versuchten die Taliban einige Provinzhauptstädte einzunehmen, unter anderem auch Kunduz. Im Oktober 2016 drangen die Taliban in Kunduz City ein und wurden nach einer Woche von den Sicherheitskräften wieder vertrieben. Die Stadt selber konnte gesichert werden – die Taliban kontrollieren aber die umliegenden Gegenden der Provinz (s. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt, a. a. O. S. 84).

In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Terroristen zu befreien. In dieser Provinz sind im Jahr 2017 von der UNAMA 377 Opfer willkürlicher Gewalt gezählt worden, davon 93 Todesfälle (UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2017, Anlage III). Das entspricht einem Opferrisiko von 0,03662 % oder 1 : 2730 pro Jahr. Auch dieser Wert liegt deutlich über dem Schwellenwert.

Individuell gefahrerhöhende Umstände, Opfer willkürlicher Gewalt in Kunduz zu werden, sind in der Person der Kläger darüber hinaus nicht erkennbar.

2.

Die Kläger haben aber einen Anspruch auf die Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für ihr Herkunftsland gilt.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das wäre bei den Klägern der Fall, wenn sie nach Afghanistan zurückkehren müssten. Die Kläger zu 1. und 2. als Eltern von zwei minderjährigen Kindern im Kleinkindalter müssen befürchten, aufgrund der dortigen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Damit machen die Kläger zwar nicht geltend, dass ihnen näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern sie berufen sich auf die allgemeine Lage. Die zu erwartende schlechte Versorgungs- und Sicherheitslage und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen vorliegend eine Intensität auf, bei der auch ohne ernsthaft individuelle Bedrohung des Lebens im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Dass bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern unter den in Afghanistan herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen eine solche Gefahrenlage anzunehmen ist und in der Folge ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht, ergibt sich aus Nachfolgendem.

Vorliegend müssten die Eltern – nach afghanischen Maßstäben wohl der Vater – bei einer Rückkehr für den Unterhalt der gesamten Familie sorgen. Das ältere Kind, die Klägerin zu 3., ist zwei Jahre alt und ihr jüngstes Kind Benjamin, Kläger im Verfahren VG 7 K 6143/17.A gerade 5 Monate alt. Angesichts dieser beiden kleinen Kinder in einem intensiv betreuungsbedürftigen Alter wird die Klägerin zu 2. zum Familienunterhalt nichts beitragen können. Zudem hat sie keinen Beruf erlernt und wird daher auch später keine qualifizierte Erwerbstätigkeit ausüben können. Damit müsste der Vater absehbar alleine den Unterhalt für die ganze Familie erwirtschaften. Im Hinblick auf die derzeitige (wirtschaftliche) Lage in Afghanistan würde er hierzu nicht im Stande sein, zumal auch keine Rücklagen mehr existieren. Wegen der zu erwartenden schlechten humanitären Verhältnisse, die sich bislang nicht nachhaltig verbessert haben, ist bei einer Familie mit minderjährigen Kindern nach wie vor von einer unmenschlichen Behandlung, die sich zum einen aus der allgegenwärtigen Unsicherheit, zum anderen aber auch dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum, einer miserablen medizinischen Versorgung und dem Fehlen fundamentaler Infrastruktur wie Wasser, Abwasser und Elektrizität in Afghanistan ergibt.

Wurde im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 31. März 2014 (Stand: Februar 2014, S. 19 ff. – Lagebericht 2014) noch festgestellt, dass sich Afghanistans Bewertung im Human Development Index kontinuierlich verbessere, es sich in fast allen Bereichen positiv entwickle und die Wirtschaft trotz einer zunehmenden Unsicherheit und Destabilisierung des Landes wachse, so wird in dem letzten regulären Lagebericht vom 19. Oktober 2016 (Stand: September 2016, S. 21 ff.) angegeben, die afghanische Wirtschaft ringe seit Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 nicht nur mit der schwierigen Sicherheitslage, sondern auch mit sinkenden internationalen Investitionen und einer stark schrumpfenden Nachfrage. Die wirtschaftliche Entwicklung bleibe durch eine schwache Investitionstätigkeit geprägt, die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreite weiter voran und ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum scheine kurzfristig nicht in Sicht. Das Vertrauen von Investoren und Verbrauchern in Afghanistan sei weiter gesunken; Ursachen hierfür seien neben der schwierigen Sicherheitslage vor allem in der schleppenden Regierungsbildung zu sehen. Ausländische Investitionen seien in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits um 30% zurückgegangen; die Rahmenbedingungen für Investoren hätten sich kaum verbessert.

Hieran hat sich nichts geändert, die Arbeitslosenquote ist dem Lagebericht 2016 zufolge im Oktober 2015 auf 40% gestiegen. Zwar sei sich die afghanische Regierung der Problematik bewusst und habe auch entsprechende Planungen vorgenommen, jedoch seien Erfolge, die auch großflächig in der Bevölkerung spürbar würden, kurzfristig kaum zu erwarten. Ein Problem stelle dar, dass gut ausgebildete und moderat wohlhabende Männer weiterhin bessere Zukunftschancen außerhalb Afghanistans sähen. Die hohe Arbeitslosigkeit werde durch vielfältige Naturkatastrophen verstärkt, so dass die Grundversorgung – wie schon seit Jahren – für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung sei. Für Rückkehrer gelte dies naturgemäß verstärkt. Gerade der Norden – eigentlich die „Kornkammer“ des Landes – sei extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt. Die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten hätten dazu geführt, dass dort ca. eine Millionen oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gälten. Zur Unterkunftsmöglichkeit hatte schon der Lagebericht vom Januar 2012 (S. 28 – Lagebericht 2012) angegeben, dass die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in den Städten nach wie vor schwierig sei. Das Ministerium für Flüchtlinge und Rückkehrer bemühe sich um eine Ansiedlung der Flüchtlinge in Neubausiedlungen für Rückkehrer. Dort erfolge die Ansiedlung unter schwierigen Rahmenbedingungen; für eine permanente Ansiedlung seien die vorgesehenen „Townships“ kaum geeignet. Eine Verbesserung wird auch im Lagebericht 2016 nicht gemeldet. Hinsichtlich der medizinischen Versorgung wird erneut ausgeführt, dass sie trotz der erkennbaren und erheblichen Verbesserungen landesweit weiterhin an unzureichender Verfügbarkeit von Medikamenten und Ausstattung der Kliniken leide, insbesondere aber an fehlenden Ärzten sowie gut qualifiziertem Assistenzpersonal (v. a. Hebammen).

Ähnlich verhalten sich die Auskünfte der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update, die aktuelle Sicherheitslage vom 5.10.2014, S. 19 ff. – SFH 2014 und vom 30.9.2016, S. 24 ff. – SFH 2016). Auch für das Jahr 2016 wird ausgeführt, dass 36% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten, 1,7 Millionen Menschen seien ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen.Zu den gravierendsten sozialen Problemen gehört auch nach dem Bericht von 2016 (S. 24) die Wohnraumknappheit, vor allem in Kabul. Zugang zu sauberem Trinkwasser hätten nur 46% der Bevölkerung (gegenüber 39% nach SFH 2012), zu einer adäquaten Abwasserentsorgung nur 7,5%. Die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage für eine Familie mit Kindern im Allgemeinen ist daher nicht möglich, vgl. VGH München, Urteil vom 23. März 2017 – 13a B 17.30030 –, juris Rn. 20; sowie VGH Mannheim Urteil vom 3. November 2017 – A 11 S 1704/17 –, juris Rn. 388).

Diese allgemeinen Feststellungen gelten auch für die zu erwartenden konkreten Lebensumstände der klägerischen Familie. Eine Rückkehr in ihre Heimatprovinz Kunduz ist schon deshalb ausgeschlossen, weil die Landwirtschaft des Klägers zu 1. nicht mehr als Erwerbsgrundlage zur Verfügung stehen wird. Die familiären Umstände, wie sie sich nach der Anhörung der Kläger in der mündlichen Verhandlung ergeben, lassen auch nicht den Schluss zu, dass entweder die Großfamilien väterlicherseits oder mütterlicherseits für eine existenzsichernde Unterstützung sorgen könnten. Während die Verwandten des Klägers zu 1. ganz überwiegend bereits verzogen sind, sind die verbliebenen Schwestern und Brüder der Klägerin zu 2. in dem Dorf Nikpay infolge ihrer kargen bäuerlichen Existenz lediglich in der Lage die eigene kinderreiche Nachkommenschaft zu erhalten. Ein Auskommen hätte die Familie auch nicht beim Bruder der Klägerin zu 1., der sich allein in Kabul als Tagelöhner durchschlägt.

Damit liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK liegen für die Familie insgesamt vor.

Einer Entscheidung zum nationalen Abschiebungshindernis aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bedarf es, da es sich bei den Abschiebungsverboten aus § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG um einen einheitlichen Streitgegenstand handelt (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 -, juris), nicht.

Insgesamt ist die Klage mit ihrem Begehren insoweit erfolgreich, als die Beklagte zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots verpflichtet ist. Infolgedessen sind auch die dem entgegenstehenden Ziffern 4. bis 6. des Bundesamtsbescheids vom 2. Dezember 2016 aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 159 Abs. 2, Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO; die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.

Die Entscheidung zur Vollziehbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.