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Obdachlosenunterbringung; Selbsthilfe; zumutbare Eigenbemühungen; individuelle Umstände; gemeinnützige Einrichtungen; Unionsbürger; Ausschluss von sozialrechtlichen Ansprüchen; Rückreiseoption; Überbrückungsleistungen; Rückreisewille


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 1. Senat Entscheidungsdatum 11.12.2019
Aktenzeichen OVG 1 S 101.19 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2019:1211.1S101.19.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 17 Abs 1 SOG BE, § 23 Abs 3 SGB 12, § 7 Abs 1 S 2 SGB 2, § 23 Abs 3a SGB 12

Leitsatz

Soweit der um ordnungsrechtliche Obdachloseneinweisung Nachsuchende grundsätzlich verpflichtet ist, die Obdachlosigkeit zunächst durch eigene Bemühungen zu beseitigen, handelt es sich nicht um einen allgemeingültigen, von allen Betroffenen gleichermaßen abzuarbeitenden Maßnahmenkatalog. Art und Umfang der jeweils erforderlichen Eigenbemühungen bestimmen sich vielmehr danach, was sich nach den - ggf. näher zu ermittelnden - Umständen des konkreten Einzelfalls als Selbsthilfe aufdrängt und dem Betroffenen individuell zumutbar ist.

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 30. Oktober 2019 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für drei Monate ab Zustellung dieses Beschlusses eine Notunterkunft durch Einweisung in eine Obdachloseneinrichtung oder eine sonstige Unterkunft zu gewähren, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuch – SGB II – vom 2. September 2019.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bewilligt. Ihm wird Rechtsanwalt beigeordnet (§ 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 ff. ZPO).

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsgegner.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I. Der Antragsteller, ein rumänischer Staatsangehöriger, begehrt seine vorläufige obdachlosenpolizeiliche Unterbringung. Nach seinen Angaben hält er sich seit 2012 - ohne polizeiliche Meldung - in Berlin auf. Er habe bisher auf der Straße gelebt, caritative Angebote der Wohnungslosenhilfe zur Notübernachtung in Anspruch genommen und sich durch Flaschensammeln unterhalten.

Ausweislich des erstinstanzlich vorgelegten Arztberichtes der Charité vom 18. Oktober 2019 leidet er akut an einer therapiebedürftigen Durchblutungsstörung beider Beine (von IV Stadien: rechts Stadium III (Ruheschmerz), links: Stadium II b (beschwerdefreie Gehstrecke unter 200 m) (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Periphere_arterielle_Verschlusskrankheit). Am 28. Oktober 2019 wurde er im CharitéCentrum für Chirurgische Medizin am rechten Bein unter Einsatz eines Gefäßimplantats (sog. Patchplastik) operiert.

Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag auf vorläufige Unterbringung abgelehnt, denn der Antragsteller habe weder dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass er sich zunächst selbst intensiv um eine Unterkunft bemüht habe, insbesondere um einen (kostenlosen) über die Nachtzeit hinausgehenden Unterkunftsplatz in einer gemeinnützigen Einrichtung. Dass ihm solche Bemühungen (gesundheitsbedingt) unmöglich gewesen wären, sei nicht (substantiiert) dargetan.

II. Die Beschwerde hat Erfolg. Das für die Prüfung des Senats gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO maßgebliche Beschwerdevorbringen rechtfertigt die Änderung des angegriffenen Beschlusses, denn dem Antragsteller steht ein Anordnungsanspruch zu.

1. Anders als das Verwaltungsgericht meint, kann dem unstreitig unfreiwillig obdachlosen Antragsteller nicht entgegen gehalten werden, er habe keine hinreichenden Eigenbemühungen, namentlich um eine kostenlose Unterbringungsmöglichkeit bei einem gemeinnützigen privaten Träger, dargelegt, um seine Obdachlosigkeit im Wege der Selbsthilfe zu beseitigen.

Zwar trifft es zu, dass der von Obdachlosigkeit Betroffene nach ordnungspolizeilichen Grundsätzen regelmäßig selbst verpflichtet ist, die Obdachlosigkeit zunächst durch intensive eigene Bemühungen um eine Unterkunft zu beseitigen (Senatsbeschluss vom 11. April 2016 - OVG 1 S 1.16 - juris Rn. 10; VGH Kassel, Urteil vom 7. März 2011 - 8 B 217/11 - juris Rn. 28). Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen allgemeingültigen, von allen Betroffenen gleichermaßen abzuarbeitenden Maßnahmenkatalog. Vielmehr sind Art und Umfang der erforderlichen Eigenbemühungen jeweils danach zu bestimmen, was sich nach den - ggf. näher zu ermittelnden - Umständen des konkreten Einzelfalls als Selbsthilfe aufdrängt und dem Betroffenen individuell zumutbar ist. Insofern kann es neben der wirtschaftlichen und familiären Situation des Betroffenen sowie einer etwaigen prozessualen Vorgeschichte z.B. auch ankommen auf Alter und Anzahl etwaiger mitbetroffener minderjähriger Kinder oder eine sonstige besondere Schutzbedürftigkeit, auf den Gesundheitszustand, die Sprachkenntnisse, das Alter, die Meldesituation, die Witterungsverhältnisse sowie auf den Umstand, ob überhaupt Zeit und ggf. welcher Zeitraum bis zum Eintritt der Obdachlosigkeit für Eigenbemühungen zur Verfügung stand (zur Bandbreite der individuellen Umstände, vgl. Senatsbeschluss vom 25. Juli 2019 - OVG 1 S 50.19 -, Folgebeschluss des VG Berlin, Beschluss vom 8. August 2019 - VG 23 L 387.19 - sowie Senatsbeschluss vom 13. Juli 2016 - OVG 1 M 21.16 - n. v.).

Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Entscheidung, ob die Forderung des Verwaltungsgerichts, es seien auch kostenlose Unterkunftsplätze - nicht näher von ihm benannter - gemeinnütziger Einrichtungen in Anspruch zu nehmen bzw. entsprechende Negativatteste vorzulegen, zutrifft, was mit Blick auf den Senatsbeschluss vom 7. Dezember 2018(- OVG 1 M 42.18 -, BA Seite 3 n. v.) fraglich sein könnte. Jedenfalls hat der Antragsteller bei Anwendung des oben dargelegten Maßstabs die ihm nach seinen individuellen Umständen obliegenden Selbsthilfebemühungen hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht. So hat er dargelegt und durch die eidesstattliche Versicherung vom 18. November 2019 glaubhaft gemacht, dass er ohne Einkommen ist und in seinem Herkunftsland weder Angehörige noch Freunde hat, die ihm Unterkunft gewähren würden. Offensichtlich ist zudem, dass er als Ausländer angesichts seiner Erwerbs- und Mittellosigkeit, eingeschränkter Sprachkenntnisse und ohne Meldeadresse zumindest keine realistische Chance hat, auf dem freien Wohnungsmarkt eine Unterkunft zu finden (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Juli 2016 - OVG 1 M 21.16 - BA Seite 3 n. v.), so dass dies keiner weiteren Glaubhaftmachung bedarf.

Weitere Eigenbemühungen, insbesondere erfolglose Gesuche, eine kostenlose, nicht nur nächtliche Unterkunft bei gemeinnützigen Trägern zu erlangen, musste der Antragsteller aufgrund seines - glaubhaft gemachten - gesundheitlichen Zustandes nicht vorlegen. Bereits dem Arztbericht der Charité vom 13. August 2019 ist der Befund einer (zu dem Zeitpunkt (nur) rechtsseitigen) peripheren arteriellen Verschlusskrankheit „paVK IIb/III rechts Schmerzbedingte Gehstreckenminderung von < 20 Meter“ enthalten mit „belastungsabhängigen Schmerzen“, die in den letzten 3 Monaten „drastisch“ zugenommen hätten. Dieser Zustand, der den Antragsteller offenbar dazu bewogen hat, sein langjähriges Leben „unter freiem Himmel“ zu ändern und um obdachlosenpolizeiliche Unterbringung nachzusuchen, hat sich nach dem Arztbericht der Charité vom 18. Oktober 2019 verschlimmert. Danach waren nunmehr beide Beine von einer „paVK im Stadium III und II b“ betroffen und eine erste OP rechtsseitig für den 28. Oktober 2019 angesetzt. Zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung am 30. Oktober 2019 war der Antragsteller frisch operiert. Zuvor war er gehalten, für die angesetzte Operation notwendige Vorbereitungshandlungen vorzunehmen (vgl. Schreiben vom 24. Oktober 2019, Gerichtsakte Blatt 66). Nach dem im Beschwerdeverfahren ergänzend fristgemäß vorgelegten vorläufigen Arztbrief der Charité vom 3. Dezember 2019, weist sein linkes Bein eine „pAVK Stadium II b“, mit einer hochgradigen Stenose zweier Arterien auf, weshalb auch die Operation des linken Beines vom CharitéCentrum zeitnah vorgesehen ist. Vor diesem Hintergrund und auch wegen der durch die Bewegungsschmerzen bzw. die Operationswunde verursachten Bewegungseinschränkungen und des Umstands, dass der Antragsteller beim Sozialamt vorsprach, zudem die Geltendmachung etwaiger sozialrechtlicher Ansprüche betrieb und sich um die Unterstützung der ihn sonst „betreuenden“ Wohnungslosenhilfeprojekte bemühte (Blatt 23, 24, 64, 82 der Gerichtsakte), war es ihm nicht zuzumuten, zusätzlich noch in anderen (gemeinnützigen) Einrichtungen vorzusprechen.

2. Der Unterbringungsanspruch ist, anders als der Antragsgegner meint, auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass die ordnungsrechtliche Unterbringung de facto und von vornherein erkennbar einer wohnungsmäßigen Dauerunterbringung gleichkäme, weil der Antragsteller als Unionsbürger von den - für das dauerhafte Wohnen vorrangigen - Ansprüchen nach dem SGB II und/oder SGB XII ausgeschlossen wäre und damit einem - unionsrechtlich zulässigen - umfassenden Ausschluss von sozialrechtlichen (Unterkunfts-) Ansprüchen unterfiele.

Zwar hat das Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 27. September 2019 - S 50 SO 1355/19 ER - festgestellt, dass der Antragsteller dem Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII unterliegt. Über den anhängigen Antrag des Antragstellers auf Leistungen nach dem SGB II vom 2. September 2019 ist jedoch noch nicht rechtskräftig entschieden, so dass nicht abschließend geklärt ist, ob der Antragsteller tatsächlich einem umfassenden sozialrechtlichen Ausschluss unterliegt. Wenn der Antragsteller alle ihm zumutbaren Verfahrensschritte zur Geltendmachung etwaiger sozialrechtlicher Ansprüche eingeleitet hat und sich – wie hier - in einer nicht anders abwendbaren akuten Notlage befindet (vgl. Senatsbeschluss vom Senatsbeschluss vom 13. Juli 2016 - OVG 1 M 21.16 -, BA Seite 3 n. v.), kann der Antragsgegner den Antragsteller jedenfalls bis zur abschließenden Klärung nicht auf die sog. Rückreiseoption bzw. die Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3, 5, 6 und Abs. 3a SGB XII verweisen. Die Inanspruchnahme bzw. der Verweis auf Überbrückungsleistungen könnte nur dann erfolgen, wenn rechts- oder bestandskräftig feststünde, dass der Antragsteller dem Ausschluss unterfällt und er die Rückreise nicht grundsätzlich ablehnt. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Antragsgegner den Antragsteller vorübergehend in einer Notunterkunft unterzubringen, ohne dass es auf den aktuell fehlenden Rückreisewillen des Antragstellers im gegenwärtigen Verfahrensstadium ankommt.

3. Da die Beschwerde erfolgreich ist und der Antragsteller nach seinen persönlichen sowie wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen, ist ihm die begehrte Prozesskostenhilfe zu gewähren und der im Ausspruch genannte Rechtsanwalt seiner Wahl beizuordnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).