Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 27. Senat | Entscheidungsdatum | 31.07.2012 | |
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Aktenzeichen | L 27 P 29/12 B ER | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 74 SGB 11, § 86b SGG |
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin hat auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Die Festsetzung des Streitwertes bleibt einer gesonderten Entscheidung des Senats vorbehalten.
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die seitens der Antragsgegner ausgesprochene fristlose Kündigung eines zwischen den Beteiligten abgeschlossenen Versorgungsvertrages nach § 72 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) über die Erbringung vollstationärer Pflegeleistungen.
Seit dem 1. Dezember 2007 erbringt die Antragstellerin als Trägerin der Pflegeeinrichtung aufgrund des mit den Antragsgegnern im Einvernehmen mit dem Bezirk Oberbayern als überörtlichem Träger der Sozialhilfe abgeschlossenen Versorgungsvertrages vom 30. November 2007 und der dazu vereinbarten Ergänzungen Leistungen der vollstationären Pflege. Die Einrichtung hat 136 Pflegeheimplätze für verschiedene Personengruppen.
Mit Bescheid vom 20. Juli 2011 untersagte der Freistaat Bayern der Antragstellerin den Betrieb der Einrichtung ab Zustellung des Bescheides. Die Betriebsuntersagung beinhaltete das bereits am 24. Februar 2011 verfügte Verbot, neue Bewohner aufzunehmen. Das daraufhin von der Antragstellerin angestrengte einstweilige Rechtsschutzverfahren hatte keinen Erfolg. Nachdem das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 17. August 2011 den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Untersagungsverfügung abgelehnt und die Abwicklungsfrist zur Beendigung des Einrichtungsbetriebes auf den 30. September 2011 festgesetzt hatte, wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 29. September 2011 (12 CS 11.2022) die dagegen gerichtete Beschwerde der Antragstellerin zurück. Dabei stützt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof – ausgehend von einer fehlenden Tendenz für den Erfolg des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Untersagungsverfügung – seine Entscheidung auf eine Folgenabwägung, in deren Rahmen er das Interesse des Freistaates Bayern an der Aufrechterhaltung der sofortigen Vollziehbarkeit der Untersagungsverfügung höher bewertete als die überwiegend wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin. Am 28. Juni 2011 seien in Gestalt des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MdK) von einem sachkundigen Dritten in einem gesetzlich vorgesehenen Prüfungsverfahren eine Vielfalt erheblicher Mängel festgestellt worden und lägen nach diesen Feststellungen ebenso Gefahren für die Gesundheit und die elementaren Lebensbedürfnisse der Heimbewohner vor. Im Rahmen der Streitwertfestsetzung ging der Bayerische Verwaltungsgerichtshof von einem Jahresgewinn der Antragstellerin von 400.000 Euro aus. In der Folge der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs wurde die Einrichtung, in der zuletzt noch 25 Bewohner lebten, am 30. September 2011 vollständig geräumt.
Nachdem die Antragsgegner die Antragstellerin zunächst mit Schreiben vom 26. Juli 2011 zum beabsichtigten Erlass eines Maßnahmebescheides nach § 115 SGB XI angehört hatten, teilten die Antragsgegner der Antragstellerin mit Schreiben vom 23. August 2011 mit, dass nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts München angesichts der auf pflegerische Mängel zurückzuführenden Pflegebetriebsuntersagung beabsichtigt sei, den Versorgungsvertrag für den Bereich der vollstationären Pflege nach § 74 Absatz 2 SGB XI außerordentlich mit Wirkung zum 30. September 2011 zu kündigen. Mit Schreiben vom 13. September 2011 baten die Antragsgegner zudem den Bezirk Oberbayern um Mitteilung, ob das Einvernehmen zur außerordentlichen Kündigung des Versorgungsvertrages erteilt werde, da mit der Betriebsuntersagung die Voraussetzungen für ein Weiterbestehen des Versorgungsvertrages nicht mehr vorlägen. Mit einer Emailnachricht vom 14. September 2011 erteilte der Bezirk Oberbayern sein Einvernehmen. Am 15. September 2011 wurde auf Antrag der Antragstellerin nach Anordnung durch das Sozialgericht Berlin in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Wiederholungsprüfung durch den MdK durchgeführt.
Mit Bescheid vom 21. September 2011 kündigten die Antragsgegner den bestehenden vollstationären Versorgungsvertrag für die Pflegeinrichtung ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist mit Wirkung zum 30. September 2011. Zur Begründung führten die Antragsgegner aus, aufgrund der sofortigen Vollziehbarkeit der Untersagungsverfügung des Freistaates Bayern vom 20. Juli 2011 liege der Kündigungsgrund des § 74 Absatz 2 Satz 3 SGB XI „Untersagung des Heimbetriebes“ vor. Nach den Feststellungen des MdK anlässlich der Prüfung vom 28. Juni 2011 lägen zudem in den Bereichen der Behandlungspflege, der Medikamentenversorgung, dem Umgang mit chronischen Schmerzen sowie chronischen Wunden, der Dekubitusprophylaxen, der Ernährung, der Flüssigkeitsversorgung und der Hygiene konkrete Gefährdungen und Schädigungen der Versicherten aufgrund systematischer Missachtung pflegerischer Standards vor, so dass auch der Kündigungsgrund des § 74 Absatz 2 Satz 2 erster Halbsatz SGB XI gegeben sei. Die Antragstellerin habe ihre vertraglichen und gesetzlichen Pflichten hinsichtlich der Qualitätssicherung fortlaufend gröblich verletzt und erlassene Maßnahmebescheide nicht umgesetzt. Aufgrund der Heimbetriebsuntersagung sei ein Abwarten der ordentlichen Kündigungsfrist ebenso wenig zumutbar wie mit Blick auf die gravierenden Pflegemängel. Auch wenn die Wiederholungsprüfung keine Beanstandungen mehr ergeben habe, sei diese angesichts einer aktuellen Personalübersetzung für die verbliebene Anzahl an Bewohnern, den punktuellen Einsatz qualifizierter Mitarbeiter aus anderen Einrichtungen und die fehlende Unangemeldetheit für die zukünftige Entwicklung der Qualität der Einrichtung nicht aussagekräftig. Mildere Mittel als die fristlose Kündigung seien nicht vorhanden. Der zuvor von der Heimaufsicht verfügte Aufnahmestopp habe keine Qualitätsverbesserung erbracht.
Die Antragstellerin hat am 29. September 2011 Klage gegen die Kündigung durch die Antragsgegner erhoben, mit der sie deren Aufhebung, hilfsweise die Feststellung von deren Unwirksamkeit geltend macht. Zugleich hat die Antragstellerin einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz in Form der Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage gegen die Kündigung der Antragsgegner gestellt. Zur Begründung trägt die Antragstellerin vor, sie sei vor Erlass des Kündigungsbescheides nicht ordnungsgemäß angehört worden, weil die Antragsgegner die Kündigung neben der – nicht bestandskräftigen Untersagungsverfügung – auch auf eine Reihe von weiteren Gründen stützten, die nicht Gegenstand des Anhörungsschreibens gewesen seien. Weiterhin sei das Einvernehmen des überörtlichen Sozialhilfeträgers nicht ordnungsgemäß eingeholt worden, weil diesem weder sämtliche Kündigungsgründe noch das Ergebnis der Wiederholungsprüfung mitgeteilt worden seien. Die von den Antragsgegnern angeführten Kündigungsgründe lägen nicht vor. Insbesondere fehle es der heimrechtlichen Untersagungsverfügung an der Bestandskraft. Die Schädigung von Pflegebedürftigen infolge von Pflichtverletzungen werde bestritten. Zudem hätten die Antragsgegner in Kenntnis des Prüfberichts des MdK anlässlich der Prüfung vom 28. Juni 2011 sowie der Untersagungsverfügung der Heimaufsicht zunächst den Erlass eines Maßnahmebescheides nach § 115 SGB XI als ausreichend erachtet. Es gäbe auch keine vollziehbaren Maßnahmebescheide der Antragsgegner, gegen die die Antragstellerin hätte verstoßen können. Schließlich sei die vorzunehmende Ermessensausübung fehlerhaft. Die fristlose Kündigung erweise sich insgesamt als unverhältnismäßig und sei nicht ausreichend begründet, weil es an der gebotenen Konkretisierung fehle. Da die Kündigung die wirtschaftliche Existenz der Antragstellerin bedrohe, sei ihrem Interesse angesichts des guten Ergebnisses der Wiederholungsprüfung auch der Vorrang vor einem öffentlichen Vollziehungsinteresse einzuräumen.
Das Sozialgericht Berlin hat den Antrag der Antragstellerin mit Beschluss vom 14. Februar 2012 mit der Begründung abgelehnt, das öffentliche Interesse an einer zeitnahen Vollziehung der behördlichen Entscheidung überwiege vorliegend das private Interesse der Antragstellerin, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens verschont zu werden. Die Voraussetzungen für eine fristlose Kündigung nach § 74 Absatz 2 SGB XI seien erfüllt, da der Untersagungsbescheid des Freistaates Bayern vom 20. Juli 2011 aufgrund der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 29. September 2011 sofort vollziehbar sei. Das Ermessen der Landesverbände der Pflegekassen sei zudem aufgrund der heimaufsichtsrechtlichen Untersagungsverfügung hinsichtlich der Kündigung des Versorgungsvertrages auf Null reduziert gewesen, da es ohne ein betriebsfähiges Pflegeheim keines Versorgungsvertrages mehr bedürfe.
Gegen den ihr am 29. Februar 2012 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Berlin hat die Antragstellerin unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens am 29. März 2012 Beschwerde eingelegt und beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. Februar 2012 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage vom 29. September 2011 gegen den Bescheid der Antragsgegner vom 21. September 2011 (Kündigung des Versorgungsvertrages über die vollstationäre Pflegeeinrichtung der Antragstellerin ) anzuordnen.
Die Antragsgegner beantragen,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Dabei nehmen sie Bezug auf die Begründung der angegriffenen Entscheidung und sind zudem der Ansicht, dass die Antragstellerin kein Rechtschutzbedürfnis für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Kündigung des Heimvertrages habe, solange die sofortige Vollziehbarkeit der Heimuntersagung bestehe.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners zu 1) vorgelegen, auf die wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ebenso Bezug genommen wird wie auf die Schriftsätze der Beteiligten.
II.
Die Beschwerde ist gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG - zulässig, aber unbegründet.
Der auf die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 86 b Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 SGG gerichtete Antrag ist unzulässig. Nach § 86 b Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.
Zwar kommt der Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen die Kündigung des Versorgungsvertrages vom 21. September 2011 nach § 74 Absatz 3 Satz 2 in Verbindung mit § 73 Absatz 2 Satz 2 SGB XI keine aufschiebende Wirkung zu. Dem Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage fehlt jedoch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
Solange die heimaufsichtsrechtliche Untersagungsverfügung sofort vollziehbar ist und in der Pflegeinrichtung keine Bewohner leben, fehlt es an einem Anknüpfungspunkt für die begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen die Kündigung des Versorgungsvertrages gerichteten Klage. Die Antragstellerin erbringt derzeit keine Leistungen der vollstationären Pflege und hat dazu bis zum Vorliegen einer anderslautenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidung im Verfahren über die Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung auch keine Möglichkeit, so dass die rechtliche und/oder wirtschaftliche Stellung der Antragstellerin mit dem vorliegend verfolgten Antragsbegehren nicht verbessert werden kann. Letztlich räumt auch die Antragstellerin selbst ein, dass erst dann die Möglichkeit zur Aufnahme von Bewohnern und damit zur Erbringung von gegenüber den Antragsgegnern abrechnungsfähigen Leistungen wieder eröffnet wird, wenn die Aufhebung der heimrechtlichen Untersagungsverfügung erreicht wurde.
Der Senat weist für das ebenfalls anhängige Klageverfahren jedoch darauf hin, dass im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit der fristlosen Kündigung nach § 74 Absatz 2 SGB XI in formeller Hinsicht insbesondere der Frage einer ordnungsgemäß durchgeführten Anhörung der Antragstellerin sowie eines ordnungsgemäß erzielten Einvernehmens des überörtlichen Sozialhilfeträgers nachzugehen sein dürfte. In materieller Hinsicht dürfte gerade im Hinblick auf den Umstand, dass im Zeitpunkt der fristlosen Kündigung lediglich eine sofort vollziehbare, jedoch nicht bestandskräftige heimaufsichtsrechtliche Untersagungsverfügung vorlag, die Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 74 Absatz 2 Satz 3 SGB XI zu prüfen sein, sowie bei deren Annahme die Frage der Eröffnung eines Ermessensspielraums auf der Rechtsfolgenseite zu prüfen sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 197 a SGG in Verbindung mit § 154 Absatz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -.
Hinsichtlich der nach § 197 a SGG in Verbindung mit den §§ 63, 53 Absatz 2 Nr. 4, 52 Absatz 1 Gerichtskostengesetz - GKG – zu treffenden Streitwertfestsetzung erwägt der Senat, einen Streitwert für beide Instanzen in Höhe von jeweils 2.500.000,00 Euro festzusetzen. Ist das Fortbestehen eines Versorgungsvertrages auf unbestimmte Zeit streitig, ist der Streitwert auf das dreifache des Jahresumsatzes zu bemessen (vgl. BSG, Urteil vom 12. Juni 2008 – B 3 P 2/07 R). In Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kommt zwar eine Reduzierung des Streitwertes mit Blick auf eine zunächst einstweilen angestrebte Fortgeltungsdauer in Betracht (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Mai 2010 – L 27 P 36/09 B). Indes dürfte es vorliegend an einer derartigen Begrenzung des geltend gemachten Begehrens fehlen. Vielmehr scheint der Antrag der Antragstellerin auf Außervollzugsetzung der Kündigung des Versorgungsvertrages für die Zeit bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Klage gegen diese und damit auf einen aller Voraussicht nach mehr als drei Jahre umfassenden Zeitraum und während dieser Zeit auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet zu sein. Angesichts eines nach den Feststellungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs erzielten Jahresgewinns in Höhe von 400.000,00 Euro dürfte der Dreijahresumsatz oberhalb der Grenze des § 52 Absatz 4 GKG liegen und daher auf den Betrag von 2.500.000,00 Euro zu begrenzen sein. Die Beteiligten erhalten insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.
Dieser Beschluss kann nicht angefochten werden (§ 177 SGG).