Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 18.09.2014 | |
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Aktenzeichen | OVG 3 S 47.14 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 56 Abs 6 SchulG BE, § 17 Abs 4 SchulG BE, Art 20 Abs 3 GG |
1. Die am 5. April 2014 verkündete und rückwirkend zum 1. Februar 2014 in Kraft getretene Regelung des § 56 Abs. 6 SchulG, wonach Geschwisterkinder bei der Aufnahme in die 7. Klasse einer Oberschule vorrangig berücksichtigt werden, verstößt gegen das verfassungsrechtliche Verbot einer Rückwirkung (Art. 20 Abs. 3 GG), wenn eine Schülerin oder ein Schüler im Zeitpunkt der Aufnahmeentscheidung einen Anspruch auf Teilnahme am Losverfahren nach der noch geltenden alten Rechtslage hatte und dieser Anspruch im Vorgriff auf die noch nicht in Kraft getretene Geschwisterkindregelung übergangen wird.
Ob die Geschwisterkindregelgung im Übrigen mit Verfassungsrecht, insbesondere mit dem gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Bildungseinrichtungen (Art. 20 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 Verfassung von Berlin) vereinbar ist, kann hier offen bleiben.
2. Wird die Zahl der einzurichtenden Klassen fehlerhaft als zu hoch angegeben und vor Beginn der Anmeldefrist nicht korrigiert, verstößt es jedenfalls dann gegen den Grundsatz eines fairen Auswahlverfahrens im Sinne von § 56 Abs. 6 SchulG, wenn die Zahl der Anmeldungen die Einrichtung der ursprünglich (fehlerhaft) angekündigten Klassen rechtfertigt.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. August 2014 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, den Antragsteller zu 1. vorläufig in die Jahrgangsstufe 7 der D...Oberschule (Gymnasium) aufzunehmen.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsgegner.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
Die Beschwerde hat Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, das nach § 146 Abs. 4 VwGO den Umfang der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt, rechtfertigt eine Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses. Danach haben die Antragsteller gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch auf vorläufige Aufnahme des Antragstellers zu 1. in die Jahrgangsstufe 7 der D...-Oberschule (Gymnasium) glaubhaft gemacht.
Die Beschwerde macht zu Recht geltend, dass der Bescheid des Antragsgegners vom 16. Mai 2014, mit dem dieser die Aufnahme des Antragstellers zu 1. an der von ihm gewünschten D.-Oberschule versagt hat, gegen das im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerte Verbot einer Rückwirkung verstößt. Der Bescheid stellt rechtsfehlerhaft auf § 56 Abs. 6 SchulG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes und weiterer Gesetze vom 26. März 2014 (GVBl. S. 78) ab, wonach bei der Aufnahme in die 7. Klasse vorrangig Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen sind, deren Geschwister diese Schule bereits besuchen und im folgenden Schuljahr weiterhin besuchen werden. Diese am 5. April 2014 verkündete Geschwisterkindregelung ist gemäß Art. 4 Abs. 3 des Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes und weiterer Gesetze vom 26. März 2014 mit Wirkung vom 1. Februar 2014 und somit rückwirkend in Kraft getreten.
Der Senat legt die Vorschrift verfassungskonform dahingehend aus, dass sie jedenfalls dann nicht greift, wenn das Auswahlverfahren vor der endgültigen Beschlussfassung durch das Abgeordnetenhaus abgeschlossen war.
Diese Voraussetzungen sind hier, wie die Beschwerde zutreffend darlegt, gegeben. Allerdings kommt es insoweit nicht auf die Sach- und Rechtslage bei Ablauf der Anmeldefrist im Februar 2014 an, denn es ließ sich in diesem Zeitpunkt noch nicht feststellen, ob die Anspruchsvoraussetzungen für die Aufnahme in die 7. Klasse der D.-Oberschule bereits erfüllt waren. Ob ein Bewerber an der von ihm gewünschten Schule aufgenommen wird, beurteilt sich der Rechtsprechung des Senats zufolge nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Aufnahmeentscheidung, die als Abschluss des bei einer Übernachfrage durchzuführenden Auswahlverfahrens ergeht. So können in tatsächlicher Hinsicht grundsätzlich nur solche Umstände - beispielsweise in Bezug auf Härtefälle - berücksichtigt werden, die die Bewerberinnen und Bewerber bis zu diesem Zeitpunkt dargelegt und glaubhaft gemacht haben (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. September 2011 - OVG 3 S 76.11 -, juris Rn. 4 m.w.N.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. September 2011 - OVG 3 S 108.11 -). Ändert sich die Sach- und Rechtslage nach Abschluss des Aufnahmeverfahrens, so darf die bereits getroffene Aufnahmeentscheidung grundsätzlich nicht mehr zu Lasten einer Bewerberin oder eines Bewerbers korrigiert werden.
Gemessen daran musste der Antragsgegner, der am 17. März 2014 das Losverfahren durchgeführt und die Auswahlentscheidung abgeschlossen hat, die zu diesem Zeitpunkt geltende Rechtslage zugrunde legen. Dies war § 56 Abs. 6 SchulG in der bis zur Verkündung des Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes und weiterer Gesetze vom 26. März 2014 geltenden Fassung, die noch keine Privilegierung von Geschwistern bei der Aufnahme in eine weiterführende Schule kannte. Die in § 56 Abs. 6 SchulG aufgenommene Geschwisterkindregelung war zu diesem Zeitpunkt mangels Verkündung noch nicht in Kraft. Das Abgeordnetenhaus hat den entsprechenden Gesetzentwurf erst am 20. März 2014 in seiner 45. Sitzung endgültig beschlossen (Plenarprotokoll 17/45 S. 4603).
Der Antragsgegner, der keinen der 64 zur Verfügung gestellten Schulplätze als besonderen Härtefall vergeben hat, durfte bei seiner Auswahlentscheidung sechs der sieben angemeldeten Geschwisterkinder nicht unter Anrechnung auf das Härtefallkontingent vorrangig berücksichtigen, sondern musste gemäß § 56 Abs. 6 Nr. 1 Satz 2, Abs. 6 Nr. 2 SchulG in der damals noch geltenden Fassung 70 Prozent der Schulplätze allein nach Aufnahmekriterien vergeben. Dies war hier in erster Linie die Durchschnittsnote der Förderprognose, und zwar auch dann, falls Aufnahmekriterien nicht oder nicht rechtzeitig festgelegt worden waren (§ 6 Abs. 5 Sekundarstufe I-Verordnung). Da allein unter den endgültig abgelehnten Bewerbern 12 Schülerinnen und Schüler eine bessere Durchschnittsnote als der Antragsteller zu 1. erreicht hatten (1,7 bis 1,9), wäre er auch nach dem im Zeitpunkt der Aufnahmeentscheidung anzuwendenden Recht nicht nach Aufnahmekriterien gemäß § 56 Abs. 6 Nr. 2 SchulG in die Jahrgangsstufe 7 der D.-Oberschule aufgenommen worden.
Der Antragsteller zu 1. hätte jedoch eine bessere Loschance gehabt, wenn der Antragsgegner nicht im Vorgriff auf § 56 Abs. 6 Nr. 3 Satz 2 SchulG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes und weiterer Gesetze dasjenige Geschwisterkind, das mangels Kapazität nicht mehr auf das Härtefallkontingent angerechnet werden konnte, vor der Durchführung des Losverfahrens vorrangig aufgenommen hätte. Durch das Vorgehen des Antragsgegners standen im Losverfahren nur 18 Plätze für 41 Bewerberinnen und Bewerber zur Verfügung, obwohl nach der im Zeitpunkt der Aufnahmeentscheidung geltenden Rechtslage unter 42 Bewerbern um 19 Schulplätze hätte gelost werden müssen (§ 56 Abs. 6 Nr. 3 SchulG a.F.). Das vor Durchführung des Losverfahrens aufgenommene Geschwisterkind (Durchschnittsnote 2,5) hätte lediglich einen Anspruch auf Teilnahme am Losverfahren gehabt. Durch das rückwirkende Inkrafttreten der Geschwisterkindregelung im Sinne von § 56 Abs. 6 SchulG n.F. ist dem Antragsteller zu 1. die ihm zustehende (bessere) Loschance, die eine begünstigende Rechtsposition darstellt, genommen worden. Es handelt sich um einen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten rückwirkenden Eingriff in einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt. Eine Durchbrechung des Rückwirkungsverbotes, die im Fall einer - hier vorliegenden - echten Rückwirkung nur ausnahmsweise in Betracht kommt, ist nicht gegeben. Von einem Gesetz Betroffene müssen bis zu der Verkündung der Norm, zumindest aber bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss - d.h. hier bis zum 20. März 2014 - grundsätzlich darauf vertrauen können, dass ihre auf geltendes Recht gegründete Rechtsposition nicht durch eine zeitlich rückwirkende Änderung der gesetzlichen Rechtsfolgenanordnung nachteilig verändert wird (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2012 - 1 BvL 6/07 - juris, Rn. 42 m.w.N.).
Der Senat sieht im vorliegenden Verfahren - auch wegen der Verpflichtung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG - davon ab, den Antragsgegner lediglich zur (ordnungsgemäßen) Durchführung eines fiktiven Losverfahrens nach § 56 Abs. 6 Nr. 3 SchulG a.F. zu verpflichten. Die im Vorfeld der Anmeldung gegebene (unzutreffende) Information zur Zahl der einzurichtenden Klassen führt hier bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung dazu, dass sich der Anspruch des Antragstellers auf erneute Durchführung eines Losverfahrens zu einem Anspruch auf vorläufige Aufnahme in die Jahrgangsstufe 7 der D.-Schule verdichtet. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport hat - wie der Antragsgegner im erstinstanzlichen Verfahren selbst eingeräumt hat - in ihrem Internetportal darauf hingewiesen, dass an der D.-Oberschule - wie in den Vorjahren - drei siebente Klassen eingerichtet würden, obwohl der Antragsgegner letztlich nur zwei siebente Klassen eingerichtet hat. Diese unzutreffende Information muss sich der Antragsgegner entgegenhalten lassen. Die Entscheidung der Erziehungsberechtigten für eine bestimmte weiterführende Schule und die Chance, dort einen Platz zu erhalten, hängt neben den festgelegten Aufnahmekriterien maßgeblich von der Zahl der einzurichtenden Klassen ab.
Wird die Zahl der einzurichtenden Klassen fehlerhaft angegeben und vor Beginn der Anmeldefrist - wofür hier kein Anhaltspunkt besteht - nicht rechtzeitig und eindeutig erkennbar (nach unten) korrigiert, ergeht die elterliche Schulwahl auf einer unzutreffenden Tatsachengrundlage. Dies wirkt sich ggf. auch auf den Zweit- und Drittwunsch aus (§ 56 Abs. 7 Satz 1 SchulG). Unter diesen Umständen kann von einem fairen Aufnahmeverfahren im Sinne von § 56 Abs. 6 SchulG jedenfalls dann nicht mehr die Rede sein, wenn die Zahl der Anmeldungen - wie hier - die Einrichtung der ursprünglich (fehlerhaft) angekündigten Klassen rechtfertigt.
Nach alledem kann offen bleiben, ob hier zugleich ein Verstoß gegen § 17 Abs. 4 SchulG vorliegt, und ob dadurch subjektive Rechte eines Bewerbers, der die Aufnahme in die Jahrgangsstufe 7 begehrt, verletzt werden können. Gleiches gilt im Hinblick auf die weiteren beachtlichen Einwendungen der Beschwerde, vor allem hinsichtlich der Frage, ob die Geschwisterkindregelung mit dem verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Bildungseinrichtungen (Art. 20 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 Verfassung von Berlin) vereinbar ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).