Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung der Beklagten, dass die bei ihm anerkannten Unfallfolgen des Arbeitsunfalls vom 28. Mai 2006 eine MdE von weniger als 10 v.H. bedingen; er begehrt einen Bescheid, in dem hinsichtlich der MdE keine Aussage getroffen wird. Hilfsweise begehrt er die Feststellung einer MdE von wenigstens 10 v.H.
Der 1963 geborene Kläger war seit Oktober 2005 als Fahrer bei dem Bus-/Reiseunternehmen „M“ beschäftigt. Am 28. Mai 2006 rutschte der Kläger beim Schließen der Motorhaube auf nassem Untergrund aus, geriet mit der rechten Hand in den Motorraum und kam mit dem Kraftriemen in Berührung. Dieser zog die Hand durch die Keilriemenscheibe, wodurch es zu einer Quetschung des zweiten und dritten Fingers sowie einer Abtrennung des vierten Fingers der rechten Hand kam.
Laut Durchgangsarztbericht des Dipl.-Med. Th vom 29. Mai 2006lagen eine traumatische Teilamputation des Endgliedes des vierten Fingers rechts und eine traumatische Nagelsubluxation des dritten Fingers rechts vor.
In der Zeit vom 10. Oktober 2006 bis zum 15. Oktober 2006 befand sich der Kläger stationär im U. Krankenhaus B. Hier wurde eine Nachamputation, eine Exartikulation im Endgelenk und eine Nachresektion der ulnaren und radialen Nerven durchgeführt. Arbeitsunfähigkeit bestand bis 17. November 2006.
Auf Veranlassung der Beklagten erstellte Privatdozent Dr. E, Chefarzt der Abteilung für Hand-, Replantations- und Mikrochirurgie des Unfallkrankenhauses B, am 23. Oktober 2007 ein erstes Rentengutachten und führte in diesem unter anderem aus, der Kläger leide unter einer Amputation des rechten Ringsfingers auf Höhe des Endgelenkes mit schlechter Weichteildeckung und neuropathischen streckseitigen Beschwerden bei freier Beweglichkeit des Grund- und Mittelgelenkes. Die MdE betrage weniger als 10 v.H.
Mit Bescheid vom 20. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. März 2008 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente ab. Zur Begründung führte sie unter anderem aus, die Voraussetzungen für einen Rentenanspruch lägen nicht vor. Die Erwerbsfähigkeit sei über die 26. Woche nach Eintritt des Arbeitsunfalls bzw. nach dem Ende des Verletztengeldanspruchs nicht um wenigstens 20 v.H. gemindert. Nach Amputation des rechten Ringfingerendgliedes und Schnittverletzung mit Wunde im Nagelbereich des rechten Mittelfingers bestehe eine schlechte Weichteildeckung mit neuropathischen streckseitigen Beschwerden im Stumpfbereich des rechten Ringsfingers. Diese Unfallfolgen würden auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens keine Minderung der Erwerbsfähigkeit in messbarem Grade (unter 10 v.H.) bedingen.
Die anschließende Klage hat das Sozialgericht Berlin mit Gerichtsbescheid vom 20. Juni 2008 abgewiesen. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt, unter maßgeblicher Berücksichtigung der im Unfallversicherungsrecht geltenden Grundsätze halte es die Kammer für nicht erwiesen, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers wegen der Folgen des Unfallereignisses vom 28. Mai 2006 in rentenberechtigender Höhe gemindert sei. Sie stütze sich dabei auf das auf einer umfassenden Befunderhebung beruhende, wissenschaftlich fundierte, in sich schlüssige und letztlich überzeugende Gutachten des Privatdozenten Dr. E vom 23. Oktober 2007. Danach bestehe am Ringfinger der rechten Hand des Klägers eine Amputation mit Exartikulation im Endgelenk mit einer verbliebenen Stumpflänge von 5 cm, wobei der entsprechende Finger der linken Hand eine Länge von 7,5 cm aufweise, gemessen von der palmaren Interdigitalfalte. Den Stumpf beschrieb der Gutachter als im Mittelgliedbereich geringfügig kühler als die Resthand. Sonstige trophische Störungen hätten sich bei der Untersuchung des Klägers nicht feststellen lassen, ebenso wenig eine Allodynie oder Neuromschmerzen. Die Stumpfkappe werde als schlecht weichteilgedeckt und schlecht verschieblich beschrieben, bei uneingeschränkter Beweglichkeit im Grund- und Mittelgelenk. An den weiteren Fingern hätten sich Unfallfolgen nicht mehr dokumentieren lassen. Auf der Grundlage dieser erhobenen Befunde habe Privatdozent Dr. E die unfallbedingte MdE mit weniger als 10 v.H. bewertet. Diese Bewertung der MdE stehe in Einklang mit Erfahrungswerten, wie sie in der medizinischen Fachliteratur wiedergegeben würden, und sei daher für die Kammer überzeugend. In diesem Zusammenhang werde Bezug genommen auf die Ausführungen bei Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, Kapitel 8.7.8. Danach rechtfertige etwa die vollständige Amputation des Daumens eine MdE von 20 v.H. Es sei jedoch nicht erkennbar, dass eine Amputation des Ringfingers im Endgelenk einer vollständigen Amputation des Daumens, der für die Greiffunktion der Hand von herausragender Bedeutung sei - funktionell entsprechen würde. Das Greifen als die wichtigste Funktion der Hand (hierzu: Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., Kapitel 8.7.1.) werde durch eine Amputation des Endgliedes des Ringsfingers nicht beeinträchtigt bzw. lasse sich kompensieren, da die vorhandenen Gelenke des teilamputierten Ringfingers nach den Feststellungen des Privatdozenten Dr. E frei in ihrer Beweglichkeit seien. Vor diesem Hintergrund erachte die Kammer die Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen für entbehrlich. Die Richtigkeit der Feststellung des Privatdozenten Dr. E im Hinblick auf die Bewertung der MdE könne bereits unter Zuhilfenahme der medizinischen Fachliteratur mit ihren Bewertungstabellen auch durch einen medizinischen Laien nachvollzogen werden. Es werde nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Begutachtung zur Feststellung der MdE zuvörderst Funktionsbegutachtung sei und Schmerzzustände für sich genommen und isoliert betrachtet keine höhere MdE rechtfertigen könnten. Ebenso wenig könne eine MdE von weniger als 20 v.H. - auch nicht, wenn sie wenigstens 10 v.H. betragen würde - isoliert festgestellt werden. Ob vorliegend eine MdE von weniger als 10 v.H. oder von 10 v.H. vorliege, sei nur dann relevant, wenn aus einem weiteren Versicherungsfall ein Stützrententatbestand mit einer MdE von wenigstens 10 v.H. gegeben sei. Dies sei jedoch nicht der Fall. Sollte der Kläger künftig von einem weiteren Versicherungsfall betroffen werden, so könne er bezüglich der Höhe der MdE des hier streitgegenständlichen Arbeitsunfalls bei der Beklagten einen Überprüfungsantrag stellen. Es sei jedoch nicht zulässig, quasi vorsorglich im Hinblick auf mögliche künftige Versicherungsfälle schon jetzt die Feststellung einer MdE von wenigstens 10 v.H. zu beantragen, denn der Kläger könne hieraus zum jetzigen Zeitpunkt keine Berechtigung ableiten. Eine abweichende Sichtweise zur Höhe der unfallbedingten MdE rechtfertige sich auch nicht vor dem Hintergrund einer etwaigen besonderen beruflichen Betroffenheit des Klägers. § 56 Abs. 2 S. 3 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) bestimme, dass bei der Bemessung der MdE solche Nachteile berücksichtigt würden, die die Versicherten dadurch erleiden, dass sie bestimmte von ihnen erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Versicherungsfalles nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen könnten, soweit solche Nachteile nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzungen ihnen zugemutet werden könnten, ausgeglichen würden. An die Annahme einer besonderen beruflichen Betroffenheit als Ausnahme von dem Grundsatz der abstrakten Schadensberechnung seien ganz besonders strenge Anforderungen zu stellen. Eine Höherbewertung nach § 56 Abs. 2 S. 3 SGB VII komme deshalb nur ganz ausnahmsweise dann in Betracht, wenn unter Wahrung des Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der MdE im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde. Als wesentliche Merkmale für die Beurteilung der Frage, ob eine höhere Bewertung der MdE zur Vermeidung unbilliger Härten gerechtfertigt sei, habe die Rechtsprechung insbesondere das Alter des Verletzten, die Dauer der Ausbildung sowie die Dauer der Ausübung der speziellen beruflichen Tätigkeit und auch den Umstand bezeichnet, dass die bisher verrichtete Tätigkeit eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistet habe. Unter Berücksichtigung des Einzelfalles sei eine Höherbewertung der MdE nur gerechtfertigt, wenn der Verletzte die ihm verbliebenen Kenntnisse und Fähigkeiten nur noch unter Inkaufnahme eines unzumutbaren sozialen Abstiegs auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens verwerten könne (BSG, in: SozR 2200, § 581 Nr. 1 ff., LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 4. November 2004, Az. L 5 U 166/03, bayerisches LSG, Urteil vom 5. April 2006, Az. L 2 U 418/05, LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juni 2006, Az. L 10 U 3308/03). Diese Voraussetzungen seien bei dem als Kraftfahrer im Tourismusbereich tätigen und zudem auch noch relativ jungen Kläger nicht gegeben. Der von dem Kläger ausgeübte Beruf setze weder eine außergewöhnlich qualifizierte Ausbildung voraus, noch komme es bei ihm ganz besonders auf Handfertigkeiten an, wie etwa in Feinmechanikberufen, bei der Arbeit eines Chirurgen oder beim Spielen eines Musikinstruments. Eine besondere berufliche Betroffenheit erachte die Kammer in dem vorliegenden Fall für fern liegend. Selbst wenn die Hand zum Lenken eines Kraftfahrzeugs nicht mehr mit der gleichen Geschicklichkeit eingesetzt werden könne - was bereits nicht ersichtlich sei - wäre es dem Kläger unter Berücksichtigung seines Lebensalter und der Qualifikation, die sein derzeit ausgeübter Beruf voraussetze, zuzumuten, sich beruflich umzuorientieren. Eine unbillige Härte würde dies nicht bedeuten. Spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten im Tourismusbereich würden sich auch außerhalb des Berufs eines Kraftfahrers ohne weiteres einsetzen lassen.
Gegen den ihm am 27. Juni 2008 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 22. Juli 2006 eingelegte Berufung des Klägers. Zur Begründung führt er unter anderem aus, er habe ein rechtlich schützenswertes Interesse daran, entweder eine MdE von wenigstens 10 v.H. anerkannt zu bekommen oder jedenfalls einen Bescheid zu erlangen, in welchem, falls die MdE mit unter 10 v.H. festgestellt wird, zur MdE keinerlei Ausführungen enthalten seien. Dies begründe sich daraus, dass er ansonsten Nachteile befürchten müsse, falls dieser Arbeitsunfall einmal Stützrententatbestand werden solle.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juni 2008 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 20. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. März 2008 insoweit aufzuheben, als eine MdE in einem Grad von weniger als 10 v.H. nach dem Arbeitsunfall vom 28. Mai 2006 festgestellt worden sei,
hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, festzustellen, dass der Arbeitsunfall vom 28. Mai 2006 eine MdE von wenigstens 10 v.H. bedingt.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen erstinstanzlichen Urteils.
Der gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Sachverständiger bestellte Dr. G hat in seinem Gutachten vom 5. November 2009 ausgeführt, der Kläger habe sich während eines Arbeitsunfalls am dritten und vierten Finger rechts verletzt. Dabei sei es zu einer Fingerkuppenabtrennung des vierten Finger rechts gekommen. Die weitere Behandlung sei aus den anderen Akten genügend bekannt. Der aus seiner Untersuchung sich ergebende dauernde Körperschaden betrage nach seiner Einschätzung 10 v.H. Der Körperschaden betreffe nicht nur den einzelnen Finger, sondern die Reduzierung der Gebrauchsfähigkeit der gesamten rechten Hand.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen ist.