Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 1. Senat | Entscheidungsdatum | 20.11.2019 | |
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Aktenzeichen | OVG 1 B 16.17 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2019:1120.OVG1B16.17.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 39 Abs 1 StVO, § 44 Abs 1 S 2aF StVO, Anl 1-4 StVO, § 162 Abs 2 S 2 VwGO, § 39 Abs 2 StVO, § 39 Abs 3 StVO, § 39 Abs 9 StVO, § 40 StVO, § 41 StVO, § 42 StVO, § 45 Abs 1 S 1 StVO, § 45 Abs 1d StVO, § 45 Abs 4 StVO, § 45 Abs 9 S 1 StVO |
1. Die Regelungen der Straßenverkehrsordnung über die zulässigen Verkehrszeichen einschließlich der im amtlichen Verkehrszeichenkatalog dargestellten Varianten sind grundsätzlich abschließend, § 45 Abs. 4 Halbsatz 1 i.V.m. § 39 Abs. 9 Satz 1 StVO, Anlage 1 - 4 zur StVO, VzKat (sog. straßenverkehrsrechtlicher Ausschließlichkeitsgrundsatz).
Lediglich Zusatzzeichen (§ 39 Abs. 3 Satz 1 und 3 StVO) können mit Zustimmung der zuständigen obersten Landesbehörde oder der von ihr bestimmten Stelle eingeführt werden.
2. Das im amtlichen Verkehrszeichenkatalog nicht vorgesehene Verkehrsschild "Tempo 10-Zone" ist kein zulässiges Verkehrszeichen.
3. Für die Anordnung eines verkehrsberuhigten Geschäftsbereiches mit einer Zonengeschwindigkeitsbeschränkung von weniger als 30 km/h (§ 45 Abs. 1d StVO) sieht der amtliche Verkehrszeichenkatalog i.d.F.v. 22. Mai 2017 nur eine "Tempo 20-Zone" vor.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 7. Mai 2015 wird geändert.
Die Anordnung eines verkehrsberuhigten Geschäftsbereiches mit einer Zonenhöchstgeschwindigkeit von 10 km/h in der Dircksenstraße in Berlin-Mitte zwischen der Einmündung in die Straße An der Spandauer Brücke und der Kreuzung Rochstraße sowie zwischen der Kreuzung Rochstraße und der Kreuzung Rosa-Luxemburg-Straße wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Die Zuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des aus dem Urteil zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Kläger wendet sich gegen die verkehrsrechtliche Anordnung eines verkehrsberuhigten Geschäftsbereiches in der Dircksenstraße in Berlin Mitte mit einer Zonenhöchstgeschwindigkeit von 10 km/h (im Folgenden: Tempo 10-Zone).
Die am 8. März 2012 von der Verkehrslenkung Berlin erlassene Anordnung erfasst zwei Bereiche der Dircksenstraße, den ca. 300 - 350 m langen Abschnitt von der Einmündung in die Straße An der Spandauer Brücke bis zur Kreuzung Rochstraße und den anschließenden, etwa 175 m langen Abschnitt von der Kreuzung Rochstraße bis zur Kreuzung Rosa-Luxemburg-Straße. Die Fahrbahn der Dircksenstraße ist ca. 11,50 m breit. Entlang ihrer südlichen Seite verläuft das Viadukt der Stadtbahn. In den Viaduktbögen befinden sich nach den unstreitig gebliebenen aktuellen Angaben des Beklagten ein Lampengeschäft, ein Restaurant und ein Supermarkt. Tische und Stühle sind dort sowie im weiteren Verlauf der südlichen Straßenseite entlang der im Übrigen weitgehend ungenutzten Viaduktbögen nicht aufgestellt. Die nördliche Seite ist geschlossen mit Wohn- und Geschäftshäusern bebaut, in denen zum Teil gastronomische Betriebe und Ladengeschäfte untergebracht sind. Vor fünf Betrieben sind Tische und Stühle zum Zwecke der Außenbewirtung aufgestellt.
Die Dircksenstraße gehört überwiegend zum förmlichen Sanierungsgebiet „Spandauer Vorstadt“. Die verkehrsrechtliche Anordnung geht zurück auf das im Zuge der – von 1993 bis 2008 durchgeführten – Sanierung erarbeitete „Verkehrs- und Straßengestaltungskonzept Spandauer Vorstadt“ (Februar 2003), das zur verkehrlichen Verbesserung und gestalterischen Aufwertung des Sanierungsgebietes ein abgestuftes Geschwindigkeitskonzept vorsah. Hierzu wurden die bestehenden Geschwindigkeitsbeschränkungen insgesamt abgesenkt und vermehrt Tempo 30-Zonen sowie Tempo 10-Zonen ausgewiesen. Zur Umsetzung des Verkehrskonzepts wurde die Dircksenstraße mit Wirkung vom 1. März 2012 aus dem übergeordneten Straßennetz entlassen.
Das Verwaltungsgericht hat die auf den bislang nicht beschiedenen Widerspruch des Klägers erhobene Untätigkeitsklage durch Urteil vom 7. Mai 2015 mit der Begründung abgewiesen, die im Ergebnis wegen eines ausnahmsweise gegebenen Selbsteintrittsrechts der Verkehrslenkung Berlin formell rechtmäßige verkehrsrechtliche Anordnung sei auch materiell rechtmäßig. Dem stehe insbesondere nicht entgegen, dass das Verkehrsschild, mit dem die Anordnung der Tempo 10-Zone vollzogen worden sei, nicht im amtlichen Verkehrszeichenkatalog aufgenommen worden sei. Es handle sich schon deshalb um kein ungültiges „Phantasiezeichen“, weil nach dem im Plural gefassten § 45 Abs. 1d StVO und den entsprechenden Erläuterungen zum Zeichen 274.1 der Anlage 2 StVO in verkehrsberuhigten Geschäftsbereichen auch die Anordnung von Zonengeschwindigkeitsbegrenzungen von weniger als 30 km/h zulässig sei. Diese Geschwindigkeit werde nicht weiter beschränkt. Es widerspreche daher dem Gesetzeswortlaut, neben der Anordnung einer Tempo 30-Zone lediglich die Anordnung einer Tempo 20-Zone als zulässig anzusehen. Weder die StVO noch der amtliche Verkehrszeichenkatalog enthielten eine abschließende Aufzählung der möglichen Verkehrszeichen und ihrer Varianten. Auch aus den Verwaltungsvorschriften zur Straßenverkehrsordnung folge, dass andere als die in den Regelungen vorgesehenen Zusatzzeichen, die ebenfalls Verkehrszeichen seien, mit Zustimmung der zuständigen obersten Landesbehörde eingeführt werden könnten. Für das streitige Verkehrsschild sei die Zustimmung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung erteilt worden. Im Übrigen seien die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 45 Abs. 1c Satz 1, Abs. 1d und Abs. 1 Satz 1 StVO erfüllt.
Zur Begründung der vom Senat gegen das Urteil zugelassenen Berufung hat der Kläger im Wesentlichen ausgeführt:
Die Anordnung sei bereits formell rechtswidrig. Für die Anordnung eines verkehrsberuhigten Geschäftsbereiches in Straßen des untergeordneten Straßennetzes sei allein das Bezirksamt Berlin-Mitte zuständig gewesen. Das nach § 44 Abs. 1 Satz 2 StVO a.F. vorgesehene Selbsteintrittsrecht der obersten Landesbehörde sei restriktiv auszuüben. Diese dürfe nur tätig werden, wenn es aus Gründen der Einheitlichkeit oder Eile geboten sei. Dafür sei nichts ersichtlich. Außerdem sei die Verkehrslenkung Berlin keine oberste Landesbehörde. Im Übrigen sei die Anordnung auch materiell rechtswidrig. Sie verstoße gegen den sogenannten Ausschließlichkeitsgrundsatz des § 45 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 39 Abs. 9 StVO. Bei dem Tempo 10-Zone-Schild handele es sich nicht um ein amtlich zugelassenes Verkehrszeichen. Die mögliche Einführung neuer Verkehrszeichen mit Zustimmung der obersten Landesbehörde gelte allenfalls für Zusatzzeichen, nicht für Hauptverkehrszeichen. Unabhängig davon lägen die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anordnung eines verkehrsberuhigten Geschäftsbereiches nach § 45 Abs. 1d StVO nicht vor. Die Dircksenstraße sei mangels herausgehobener Zentrumsfunktion kein zentraler städtischer Bereich. Ebenso wenig sei ein hohes Fußgängeraufkommen belegt. Insbesondere könne aber die notwendige überwiegende Aufenthaltsfunktion nicht festgestellt werden. Eine solche ergebe sich nicht aus dem bloßen Vorhandensein von Geschäften und Gastronomiebetrieben. Vielmehr müsse sich die Aufenthaltsfunktion auf den Straßenraum beziehen und in der besonderen Gestaltung der Straße angelegt sein, z.B. durch eine platzähnliche Anlage oder eine gärtnerische Begrünung/Möblierung eines breiten Gehwegs. Die Aufenthaltsfunktion müsse gewichtiger sein als die Fortbewegungsfunktion. Das sei hier nicht der Fall. Bei der Dircksenstraße handle es sich überwiegend um einen Verbindungsweg zwischen den touristischen Anziehungspunkten Alexanderplatz und Hackescher Markt. Schließlich seien die Anforderungen aus § 39 Abs. 1 und § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO nicht erfüllt, denn der Beklagte habe keine besonderen Umstände dargetan, die die Anordnung zwingend erforderlich gemacht hätten. Vielmehr habe die Verkehrsstudie die Geschwindigkeitsbeschränkung von vornherein um ihrer selbst willen vorgegeben. Deshalb leide die - ohnehin unverhältnismäßige - Anordnung zusätzlich an einem Ermessensausfall.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 7. Mai 2015 zu ändern
und
die Anordnung eines verkehrsberuhigten Geschäftsbereiches (Zeichen 274.1 StVO) mit einer Zonenhöchstgeschwindigkeit von 10 km/h in der Dircksenstraße in Berlin-Mitte zwischen der Einmündung in die Straße An der Spandauer Brücke und der Kreuzung Rochstraße sowie zwischen der Kreuzung Rochstraße und der Kreuzung Rosa-Luxemburg-Straße aufzuheben,
sowie
zu erklären, dass die Zuziehung eines Rechtsanwaltes für das Vorverfahren notwendig war.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt im Ergebnis das erstinstanzliche Urteil und führt zur Begründung ergänzend aus: Der Ausschließlichkeitsgrundsatz dürfe nicht in einem engen Sinn verstanden werden. Insbesondere schließe er eine sinn- und zweckgerichtete Auslegung der Straßenverkehrsordnung nicht aus. Mit dem Tempo 10-Zone-Schild werde kein neues Verkehrszeichen eingeführt, sondern lediglich eines mit einem anderen Zahlenwert. Die Aufenthaltsfunktion der Dircksenstraße ergebe sich aus dem Gesamtgepräge der Straße durch – schriftsätzlich im Einzelnen aufgeführte – Geschäfte, Restaurants und Dienstleistungsbetriebe. § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO, wonach die Anordnung des Verkehrszeichens auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich sein müsse, sei nicht anwendbar. Das Bundesverwaltungsgericht habe in seiner anders lautenden Entscheidung aus dem Jahr 2017 nicht ausreichend zwischen einer strecken- und einer zonenbezogenen Geschwindigkeitsreduzierung differenziert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten (2 Bände) und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (3 Hefte) verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Die Berufung des Klägers hat Erfolg, denn die zulässigerweise als Untätigkeitsklage im Sinne von § 75 VwGO erhobene Anfechtungsklage ist begründet. Der mit dem Verkehrsschild Tempo 10-Zone angeordnete verkehrsberuhigte Geschäftsbereich in den Abschnitten der Dircksenstraße zwischen der Einmündung in die Straße An der Spandauer Brücke und der Kreuzung Rochstraße sowie zwischen der Kreuzung Rochstraße und der Kreuzung Rosa-Luxemburg-Straße ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 S. 1 VwGO). Dabei kann im Ergebnis offen bleiben, ob die Anordnung im März 2012 formell rechtmäßig erfolgte (1), denn sie ist jedenfalls in der Sache rechtsfehlerhaft (2).
Rechtsgrundlage für die Anordnung eines verkehrsberuhigten Geschäftsbereichs ist § 45 Abs. 1d i.V.m. Abs. 1 Satz 1 und Abs. 9 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) in der aktuell gültigen Fassung vom 6. März 2013 (BGBl. I S. 367), zuletzt geändert durch Gesetz vom 6. Juni 2019 (BGBl. I S. 756). Maßgeblich für die materiell-rechtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Dauerverwaltungsakten – wie der vorliegenden Allgemeinverfügung – der Zeitpunkt der letzten tatsachengerichtlichen Verhandlung (BVerwG, Urteil vom 23. September 2010 - 3 C 37.09 - juris Rn. 21). Lediglich für die Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit der Maßnahme ist auf die Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses der straßenverkehrsrechtlichen Anordnung abzustellen.
1. Sachlich zuständig für die Anordnung eines verkehrsberuhigten Geschäftsbereichs waren nach § 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1d i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 1 StVO in der bis zum 31. März 2013 geltenden Fassung vom 16. November 1970 (BGBl. I S. 1565; 1971 I S. 38, im Folgenden: a.F.) die Straßenverkehrsbehörden, deren Aufgaben im Land Berlin für Maßnahmen im untergeordneten Straßennetz gemäß § 2 Abs. 2 und 4 Satz 1 des Allgemeinen Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin (ASOG Bln, in der Fassung vom 11. Oktober 2006, GVBl 2006, Seite 930, zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. Februar 2012, GVBl. 2012, Seite 42) i.V.m. Nr. 22b Abs. 3 des Zuständigkeitskatalogs Ordnungsaufgaben (ZustKatOrd) grundsätzlich den Bezirksämtern übertragen war. Zuständig für die Anordnung der Verkehrsbeschränkung war somit nach der Entlassung der Dircksenstraße aus dem übergeordneten Straßennetz mit Wirkung zum 1. März 2012 das Bezirksamt Mitte von Berlin. Das ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass mangels Vorliegens der in Nr. 35 Abs. 3 ZustKatOrd geregelten Ausnahmetatbestände die Zuständigkeit der Verkehrslenkung Berlin nach dieser Bestimmung ebenfalls nicht gegeben war.
Fraglich ist daher allein, ob die sachliche Zuständigkeit der Verkehrslenkung Berlin gemäß § 44 Abs. 1 Satz 2 StVO a.F. begründet worden ist. Danach durften die zuständigen obersten Landesbehörden die erforderlichen Maßnahmen (auch) „selbst treffen“. Es spricht Überwiegendes dafür, dass die (weiten) Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. Die Bestimmung stellt ihrem Wortlaut nach keine besonderen Anforderungen daran, in welchen Fällen der Selbsteintritt erfolgen darf. Dem Kläger ist zwar zuzugeben, dass die Vorschrift schon zur Vermeidung willkürlicher Selbsteintritte mit Blick auf ihren Ausnahmecharakter eng auszulegen ist und ihr Gebrauch nur in besonders gelagerten Fällen in Betracht kommen sollte, etwa wenn Einheitlichkeit oder Eile geboten ist (vgl. VG München, Beschluss vom 12. Juli 1999 - M 6 S 99.2524 - juris; ebenso - ohne nähere Begründung - König in: Hentschel/König/Dauer, bis zur 41. Aufl. 2011, § 44 Rn. 3). Auch lassen sich den Verwaltungsvorgängen nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit Gründe für eine besondere Eilbedürftigkeit entnehmen, die der Beklagte auf Bürgerbeschwerden stützt. Entgegen der Auffassung des Klägers dürfte die Verkehrslenkung Berlin die Maßnahme Anfang März 2012 jedoch aus Gründen der Einheitlichkeit selbst getroffen haben. Die verkehrsrechtliche Anordnung vom 8. März 2012 (Verwaltungsvorgang I, Bl. 112) erging als Teil des für die Spandauer Vorstadt vorgesehenen Gesamtkonzeptes, das für Hauptverkehrs- und Nebenverkehrsstraßen ein abgesenktes Geschwindigkeitsniveau vorsah. Die ausdrücklich mit „Verkehrs- und Geschwindigkeitskonzept“ überschriebenen und gemeinsam angeordneten Maßnahmen betrafen ausnahmslos Hauptverkehrsstraßen in der Spandauer Vorstadt. Lediglich die erst wenige Tage zuvor am 1. März 2012 aus dem überörtlichen Straßennetz entlassene Dircksenstraße wurde „nach den Vorgaben der sachlich und örtlich zuständigen Straßenverkehrsbehörde beim Bezirksamt Mitte von Berlin mit angeordnet“. Der Grund dafür lag offenkundig in dem engen Sachzusammenhang der nach Aktenlage nur noch ausstehenden (letzten) Umsetzung des Gesamtkonzeptes. Dem entspricht es, dass die Dircksenstraße zum Zeitpunkt der unter dem 20. Februar 2012 durch die Verkehrslenkung Berlin erfolgten Anhörung (Verwaltungsvorgang I, Bl. 108) noch Teil des übergeordneten Straßennetzes war und damit noch der Zuständigkeit der Verkehrslenkung unterfiel. Der Wechsel erfolgte erst während der bis zum 5. März 2012 laufenden Anhörungsfrist und wurde mit dem Hinweis „Dircksenstr. (ab 1.3.2012 Nebennetz)“ offengelegt (Verwaltungsvorgang I, Bl. 108). Vor diesem Hintergrund war es nicht willkürlich, sondern erscheint es zweckmäßig und sachgerecht, dass die als zentrale Straßenverkehrsbehörde im Geschäftsbereich der im Zeitpunkt der Anordnung zuständigen Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt angesiedelte Verkehrslenkung Berlin das vorgesehene Geschwindigkeitskonzept zeitgleich und einheitlich umgesetzt hat.
2. Materiell ist die Anordnung des verkehrsberuhigten Geschäftsbereiches indes rechtswidrig, denn sie verstößt gegen den straßenverkehrsrechtlichen Ausschließlichkeitsgrundsatz. Weder den Anlagen 1 bis 4 zur Straßenverkehrsordnung noch dem amtlichen Katalog der Verkehrszeichen (VzKat) in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Mai 2017 (BAnz AT 29. Mai 2017 B8: VkBl. 2017 S. 565) ist ein Vorschriftzeichen Tempo 10-Zone zu entnehmen (a). Es kann auch weder im Wege der Auslegung noch mit Zustimmung der zuständigen obersten Landesbehörde eingeführt werden (b).
a) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts in dem angegriffenen Urteil sind die Regelungen der Straßenverkehrsordnung über die zulässigen Verkehrszeichen einschließlich der im amtlichen Verkehrszeichenkatalog dargestellten Varianten grundsätzlich abschließend (sog. Ausschließlichkeitsgrundsatz).
Nach dem Wortlaut des § 45 Abs. 4 Halbsatz 1 StVO dürfen die Straßenverkehrsbehörden „den Verkehr nur durch Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen regeln und lenken“. Was unter dem Oberbegriff „Verkehrszeichen“ zu verstehen ist, wird in der Straßenverkehrsordnung abschließend definiert. Verkehrszeichen sind allein die in § 39 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 StVO genannten Gefahrzeichen (§ 40 StVO), Vorschriftzeichen (§ 41 StVO) und Richtzeichen (§ 42 StVO) sowie Zusatzzeichen. Letztere treffen für sich allein keine eigenständige Regelung, sondern sind regelmäßig unmittelbar unterhalb derjenigen Verkehrszeichen angebracht, auf die sie sich beziehen (§ 39 Abs. 3 Satz 1 und 3 StVO). Welche Gefahr-, Vorschrift- und Richtzeichen zulässig sind, ist in den Anlagen 1 bis 3 der StVO geregelt (vgl. § 40 Abs. 6, § 41 Abs. 1, § 42 Abs. 2); die Verkehrseinrichtungen (§ 43 Abs. 1 StVO) ergeben sich aus der Anlage 4 (§ 43 Abs. 3 Satz 1 StVO).
Den Umfang der zulässigen Abweichungen von den Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen bestimmt § 39 Abs. 9 Satz 1 StVO. Danach können “die in den Anlagen 1 bis 4 abgebildeten Verkehrszeichen … auch mit den im Verkehrszeichenkatalog dargestellten Varianten angeordnet sein“, der vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur im Verkehrsblatt veröffentlicht wird (§ 39 Abs. 1 Satz 2 StVO). Daraus folgt im Umkehrschluss zunächst, dass bei den abgebildeten Verkehrszeichen grundsätzlich keine Abweichungen zulässig sind, denn schon die Formulierung „auch“ lässt auf eine vom Verordnungsgeber angenommene Notwendigkeit zur ausdrücklichen Erweiterung der Normengrundlage schließen, die nicht erforderlich wäre, wenn § 45 Abs. 4 Halbsatz 1 StVO („nur“) nicht abschließend gemeint wäre. Sollen gleichwohl Varianten angeordnet werden, beschränkt § 39 Abs. 9 Satz 1 StVO diese auf die im amtlichen Verkehrszeichenkatalog dargestellten.
Das entspricht dem ausdrücklich erklärten Willen des Verordnungsgebers. So heißt es in der Begründung vom 24. Juli 2012 zur Verordnung der Neufassung der Straßenverkehrs-Ordnung zu § 39 Abs. 9 (BR-Drs. 428/12, S. 140) wörtlich: „Zur Wahrung des Ausschließlichkeitsgrundsatzes, d. h. der Verkehrsteilnehmer hat lediglich die Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen zu beachten, die Gegenstand der StVO oder einer Verkehrsblattverlautbarung des für den Verkehr zuständigen Ministeriums sind (…), ist es erforderlich, einen entsprechenden Verweis auf den Verkehrszeichenkatalog und die dort dargestellten Varianten aufzunehmen und auf den Veröffentlichungsort hinzuweisen, damit jeder Verkehrsteilnehmer von den entsprechenden Verkehrszeichen oder Verkehrseinrichtungen Kenntnis erlangen kann“. Dem folgt der aktuelle Verkehrszeichenkatalog des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (Teil 1. Ziffer 1. (1)): „Der VzKat enthält alle Verkehrszeichen (inkl. Zusatzzeichen) und Verkehrseinrichtungen gemäß §§ 39 bis 43 der Straßenverkehrs-Ordnung sowie zulässige Varianten von diesen. … Der VzKat umfasst alle bundesweit eingeführten und damit amtlich zugelassenen Verkehrszeichen“.
Schließlich spricht auch die Systematik des amtlichen Verkehrszeichenkatalogs selbst für seinen abschließenden Charakter. Der Verkehrszeichenkatalog enthält nämlich für Verkehrszeichen, die einen variablen Inhalt vorsehen, ausdrückliche Regelungen zu der Art der möglichen Variablen. Teil 1. Ziffer 2. (5) 4. Spiegelstrich bestimmt: „Verkehrszeichen mit einem veränderlichen numerischen Inhalt werden nicht mehr in allen möglichen Varianten dargestellt. Es wird lediglich ein Zeichen abgebildet. Die Varianten werden über die Unternummer festgelegt. Die Unternummer steht dabei für den Zahlenwert im Zeichen“ (vgl. zum Ausschließlichkeitsgrundsatz bereits: BGH, Beschluss vom 25. Mai 1976 – 4 StR 461/75 –, BGHSt 26, 348-351, Rn. 6; ebenso Wern in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 39 StVO, Rn. 1; Hühnermann in: Burman/Heß, Straßenverkehrsrecht, 25. Aufl. 2018; § 39 Rn. 3 m.w.N.; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl., 2019, Einl. Rz. 6 und § 39 Rn. 31).
Danach ist das hier angeordnete Verkehrsschild „Tempo 10-Zone“ kein zulässiges Verkehrszeichen. Zwar bestimmt § 45 Abs. 1d StVO in Verbindung mit Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO und den Erläuterungen zu dem Vorschriftzeichen 274.1, dass in „verkehrsberuhigten Geschäftsbereichen auch Zonengeschwindigkeitsbeschränkungen von weniger als 30 km/hh angeordnet sein“ können. Eine Tempo 10-Zone ist jedoch im Verkehrszeichenkatalog nicht als Variante vorgesehen. Vielmehr beschränkt sich die Vergabe der Unternummern zu Zeichen 274.1 auf „40: Beginn einer Tempo 30-Zone – doppelseitig (Rückseite Z 274.2)“ sowie „41: Beginn einer Tempo 20-Zone in verkehrsberuhigten Geschäftsbereichen – doppelseitig (Rückseite Z 274.2-20)“ und „20: Beginn einer Tempo 20-Zone in verkehrsberuhigten Geschäftsbereichen – (einseitig).“ Zu Zeichen 274.2 ist lediglich die Unternummer „20: Ende einer Tempo 20 Zone in verkehrsberuhigten Geschäftsbereichen (einseitig)“ vergeben.
Das angegriffene Schild, das im Übrigen auch im Verkehrszeichenkatalog in der Fassung der Neubekanntmachung vom 19. März 1992, BAnz., Beilage 44, Nr. 66a) nicht enthalten war, ist damit in der gewählten Variante nicht dargestellt. Dem abschließenden Charakter der Regelungen ist der Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht mehr entgegengetreten. Ausweislich des Online-Verkehrszeichenkatalogs war zwar ein Zeichen Tempo 10-Zone im „VzKat-Entwurf 2013“ vorgesehen, „wurde (aber) nicht eingeführt“ (www.vzkat.de, Zeichen 274.1, S. 8). Dies wird bestätigt durch die Antwort des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur vom 2. November 2016 auf die Anfrage des Abgeordneten K_____, wann mit der Aufnahme eines Tempo 10-Zonen-Schildes zu rechnen sei: „Das Ansinnen … wird derzeit geprüft“ (vgl. BT-Drs. 18/10202, S. 48 f.).
b) Entgegen der Ansicht des Beklagten lässt sich die Zulässigkeit des verwendeten Zeichens auch nicht im Wege der Auslegung feststellen. Der Hinweis, der Bundesgerichtshof habe in seiner Entscheidung vom 25. Mai 1976 ausdrücklich erklärt, der Ausschließlichkeitsgrundsatz dürfe nicht in dem engen Sinne verstanden werden, trifft zwar zu (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Mai 1976 – 4 StR 461/75 –, BGHSt 26, 348-351, Rn. 6 a.E.). Die Straßenverkehrsordnung ist wie jede Rechtsverordnung grundsätzlich einer sinn- und zweckgerichteten Auslegung seiner Bestimmungen zugänglich. Anders als in dem dort entschiedenen Fall geht es hier jedoch nicht um die sinnhafte Auslegung eines bereits zugelassenen Verkehrszeichens, sondern um die Einführung eines neuen, bisher nach dem erkennbaren Willen des Verordnungsgebers nicht vorgesehenen Vorschriftzeichens. Das übersteigt auch nach Auffassung des Bundesgerichtshofs den zulässigen Auslegungsrahmen (BGH, a.a.O., Rn. 7 a.E.). Die Konkretisierung der zuzulassenden Zonen-Geschwindigkeitsbeschränkungen von „weniger als 30 km/h“ (§ 45 Abs. 1d StVO) obliegt nach der Konzeption der Straßenverkehrsordnung in Verbindung mit dem amtlichen Verkehrszeichenkatalog allein dem Verordnungsgeber. Es ist weder Aufgabe des Beklagten noch der Rechtsprechung, durch „Schöpfung“ eines neuen Vorschriftzeichens eine andere beliebige Zonengeschwindigkeitsbegrenzung unter 30 km/h, z.B. 15 km/h, 18 km/h, 23 km/h oder 25 km/h, festzulegen, wenn der Verordnungsgeber sich mit seinen Unternummern ausdrücklich auf die Variante 20 km/h beschränkt hat. Dies widerspräche der bereits skizzierten Systematik des Verkehrszeichenkatalogs, der eine gänzlich freie Bestimmbarkeit der möglich anzuordnenden Geschwindigkeiten nicht einmal bei den – variationsreichen – Streckengeschwindigkeiten vorsieht. Alle in Betracht kommenden Streckengeschwindigkeiten sind vielmehr detailliert benannt. Ausweislich der amtlichen Erläuterungen sind für das Zeichen 274 (zulässige Höchstgeschwindigkeit) Unternummern vorgesehen, die die möglichen Abstufungen ausdrücklich regeln, nämlich von: „5 – 130: Ab 10 in vollen Zehnern …“. An einem vergleichbaren Orientierungsrahmen fehlt es bei den Zonen-Geschwindigkeitsbeschränkungen. Auch wenn in der Rechtsprechung anerkannt ist, dass die Gültigkeit von Verkehrszeichen nicht durch unwesentliche Abweichungen beeinträchtigt wird, die das charakteristische Erscheinungsbild des betreffenden Zeichens der Straßenverkehrsordnung nicht berühren (vgl. dazu KG Berlin, Beschluss vom 12. Mai 1999 – 2 Ss 23/99 - 3 Ws (B) 136/99 – juris Rn. 12, m.w. N.; BayOLG, Beschluss vom 31. Juli 1995 – 2 ObOWi 425/95 – juris Rn. 12), führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Die hier verwendete Zonengeschwindigkeit 10 km/h stellt keine bloße – unwesentliche – Abweichung von den amtlich zugelassen Zonengeschwindigkeiten dar, sondern ein aliud.
Schließlich konnte das Vorschriftzeichen auch nicht mit Zustimmung der zuständigen obersten Landesbehörde eingeführt werden. Soweit Ausnahmen vom Ausschließlichkeitsgrundsatz zugelassen werden, gelten diese lediglich für Zusatzzeichen (vgl. jüngst im Zusammenhang mit Dieselfahrverboten: BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2018 - 7 C 26.16 - juris Rn. 54 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 31. Mai 2019 - 1 Bs 90/19 - juris Rn. 14). Auch die vom Verwaltungsgericht herangezogene Referenzentscheidung des VG Bremen betraf nur ein Zusatzzeichen (Beschluss vom 11. April 2011 – 5 V 2085/10 – juris Rn 11). Das folgt aus der bundeseinheitlich geltenden Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) III. 16. VwV-StVO zu § 39, Rn. 46 (abgedruckt in Hentschel/König/Dauer, 45. Aufl. 2019, § 39). Der Grundsatz der Einheitlichkeit der Verkehrszeichen wird dadurch nicht beeinträchtigt, denn Zusatzzeichen enthalten keine eigenständige Regelung. Die erteilte Zustimmung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vom 7. Juni 2007 zur Einführung eines Vorschriftzeichens „Tempo 10-Zone“ im Sinne des § 41 StVO (Verwaltungsvorgang I, Bl. 66, 68) ging damit in Leere.
c) Unabhängig davon spricht nach Aktenlage und dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung alles dafür, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs. 1d StVO nicht erfüllt sein dürften. Die unstreitigen Angaben der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung über die Anzahl der in der Dircksenstraße auf der nördlichen Seite tatsächlich vorhandenen Ladengeschäfte und Gaststätten mit Außenbewirtung, die weitgehend ungenutzten Viaduktbögen entlang der südlichen Straßenseite sowie das Fehlen jeglicher darüber hinausgehender gestalterischer Aufenthaltselemente im Straßenraum, sprechen vielmehr gegen die gesetzlich geforderte „überwiegende() Aufenthaltsfunktion“ des streitigen Abschnitts der Dircksenstraße. Dass dort im Vergleich zu anderen Plätzen und Straßen in Berlin „durch verkehrsberuhigende Maßnahmen urbanes Leben … ermöglicht“ worden sein soll „(z.B. durch Gaststätten und Cafés mit Außenflächen, durch Flanier- und Aufenthaltsbereiche zur Kommunikation, durch gestalterische Elemente wie Brunnen und Bänke usw.)“, ist für den Senat nicht erkennbar (vgl. zu den Vorstellungen des Verordnungsgebers zu den Verkehrsregelungen in verkehrsberuhigten Geschäftsbereichen VkBl. 1990, Heft 5, Seite 146, Nr. 47, I.).
d) Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob im Rahmen der Anordnung eines verkehrsberuhigten Geschäftsbereiches (ergänzend) die Anforderungen der §§ 39 Abs. 1 und 45 Abs. 9 Satz 1 StVO erfüllt sein müssen, wofür ebenfalls alles spricht (deutlich: BVerwG, Beschluss vom 1. September 2017 – 3 B 50.16 - juris Rn. 7).
3. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war im Hinblick auf die Komplexität der sich stellenden Rechtsfragen, die schon aus dem Umstand einer gegenteiligen erstinstanzlichen Entscheidung hervorgeht, gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO für notwendig zu erklären. Dabei kommt es nicht darauf an, dass der Kläger selbst Rechtsanwalt ist. Vielmehr muss losgelöst von seinem Beruf als Rechtsanwalt nach dem sonst geltenden Maßstab entschieden werden, ob ein vernünftig urteilender Beteiligter die Zuziehung eines Rechtsanwalts für notwendig gehalten hätte (Sodan/ Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 162 Rn. 107; OVG Münster, Beschluss vom 1. April 2011 – 12 E 292/10 – juris Rn. 4-12).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 161 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.