Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 24.10.2013 | |
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Aktenzeichen | OVG 3 N 169.12 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 11 AufenthG, § 124 VwGO, § 155 Abs 1 VwGO |
Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 4. Juli 2012 wird auf Antrag des Klägers zugelassen, soweit es den auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung vom 9. August 2010 gestellten Hilfsantrag betrifft. Im Übrigen wird der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt (Anfechtung der Ausweisung).
Der Kläger trägt 3/5 der Kosten des Verfahrens. Im Übrigen folgt die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens der Kostenentscheidung im Berufungsverfahren.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird für das Berufungszulassungsverfahren auf 5.000,00 EUR festgesetzt, wobei auf den mit der Ablehnung des Zulassungsantrages rechtskräftig abgeschlossenen Streitgegenstand (Anfechtung der Ausweisung) 3.000,00 EUR entfallen.
Der auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 4 VwGO gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
1. Die hinsichtlich der Ausweisung vom 9. August 2010 ausschließlich geltend gemachten ernstlichen Richtigkeitszweifel i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen nicht vor.
Ernstliche Richtigkeitszweifel setzen nicht voraus, dass der Erfolg des Rechtsmittels wahrscheinlicher ist als der Misserfolg, sondern es reicht aus, dass ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 – 1 BvR 461/03 -, juris).
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes hat der Kläger mit seinem innerhalb der Frist des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO eingegangenem Vorbringen nicht dargetan, dass die Ausweisung rechtswidrig ist und ihn in seinen Rechten verletzt. Entgegen dem Zulassungsvorbringen war es dem Beklagten nicht verwehrt, die Ausweisung auf § 53 Nr. 1, 2. Alt. AufenthG zu stützen. Der Umstand, dass dem Kläger mit Bescheid vom 6. Oktober 2009 eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG „erteilt“ bzw. „verlängert“ wurde, führte zu keinem „Verbrauch“ der Verurteilung vom 31. Juli 2008. In der Rechtsprechung ist zwar anerkannt, dass Ausweisungsgründe im Hinblick auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes einem Ausländer nur dann und so lange entgegengehalten werden dürfen, als sie noch „aktuell“ und nicht „verbraucht“ sind, bzw. die Ausländerbehörde auf ihre Geltendmachung nicht ausdrücklich oder konkludent „verzichtet“ hat (BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 -, juris Rn. 21 m.w.n.). Die Aufenthaltserlaubnis vom 6. Oktober 2009 rechtfertigt jedoch offensichtlich nicht die Annahme schutzwürdigen Vertrauens des Klägers darauf, dass seine vorherige Verurteilung ausweisungsrechtlich unerheblich geworden sei. Der Beklagte hat auf ihre Geltendmachung nicht verzichtet, sondern sie sich - im Gegenteil - ausdrücklich vorbehalten. Nach dem Vermerk des Beklagten vom 15. September 2009 prüfte die Ausländerbehörde, ob die Aufenthaltserlaubnis verlängert werden könne, weil der Kläger seit seiner Haftentlassung im Mai 2009 nicht wieder straffällig geworden sei. Nach einer bereits in den Vermerk aufgenommenen Klarstellung sollte der Kläger bei einem etwaigen Bescheiderlass darauf hingewiesen werden, dass „aufgrund seines Status als Intensivtäter mit einer Verlängerung der AE die bisher von ihm gesetzten Ausweisungsgründe nicht verbraucht“ seien. Wie auch der Kläger einräumt, wurde auf dem Belegblatt zu dem Bescheid vom 6. Oktober 2009 auf den Vermerk vom 15. September 2009 ausdrücklich Bezug genommen und festgehalten, dass dem Kläger ein entsprechender Hinweis erteilt worden sei („O. darauf hingewiesen, dass die AW-Gründe damit nicht verbraucht sind.“). Der Kläger konnte auch nicht etwa wegen des seit Mai 2009 verstrichenen Zeitraumes auf einen „Verbrauch“ der Verurteilung vertrauen. Soweit es die geltend gemachte „Zäsurwirkung“ der Aufenthaltserlaubnis angeht, gilt dies jedenfalls deshalb, weil der Bescheid lediglich fünf Monate nach Verbüßung einer Jugendstrafe von 2 Jahren und 4 Monaten erlassen wurde. Zudem war ausweislich des genannten Belegblattes nicht nur die fünfmonatige Straffreiheit maßgeblich. Vielmehr sollte dem Kläger Gelegenheit gegeben werden, eine bis April 2010 verlängerte Qualifizierungsmaßnahme abzuschließen. Darüber hinaus wurde der Kläger bereits am 1. Januar 2010, also ca. sieben Monate nach Entlassung aus der ersten Strafhaft und während der von ihm angegebenen Qualifizierungsmaßnahme, erneut straffällig. Dass die streitgegenständliche Ausweisung nicht nur auf das daraufhin ergangene Urteil vom 3. Februar 2010, sondern auch die Verurteilung vom 31. Juli 2008 gestützt werden konnte, bedurfte vor diesem Hintergrund keiner weiteren Ausführungen.
Entgegen dem Zulassungsvorbringen hat das Verwaltungsgericht sich mit der Frage, ob schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG vorliegen, auseinandergesetzt. Es hat auf Seite 7 des Urteils seiner Überprüfung zutreffend die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Grunde gelegt, derzufolge § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG (ebenso wie Satz 4 dieser Norm) keine Automatik beinhalte, sondern eine Einzelfallwürdigung erfordere. Die Ansicht des Klägers, dass eine Ausweisung bei nachhaltig verwurzelten Ausländern wegen Art. 8 EMRK „in der Regel“ nicht mehr generalpräventiv begründet werden könne, geht ins Leere. Die Ausweisung war von Anfang an auch spezialpräventiv motiviert. Die Behauptung, das Verwaltungsgericht habe „offenkundig außer Acht gelassen“, dass der Kläger seit September 2010 nicht mehr straffällig gewesen sei, trifft nicht zu. Der Kläger geht selbst auf die entsprechenden Ausführungen auf Seite 9 f. des Urteils ein, indem er sich gegen die Ansicht des Verwaltungsgerichts wendet, dass eine „Zäsurwirkung“ durch die Haft nicht ersichtlich sei. Anders als der Kläger meint, hat das Verwaltungsgericht zu Recht den Umstand herangezogen, dass er am 28. August 2010, also ca. zwei Wochen vor der Entlassung aus seiner letzten Strafhaft, eine weitere Straftat beging. Mit der darüber hinausgehenden sorgfältigen Begründung des Verwaltungsgerichts setzt sich das Zulassungsvorbringen nicht auseinander. Schließlich haben sowohl der Beklagte als auch das Verwaltungsgericht die mit dem Zulassungsvorbringen vorgebrachten Umstände berücksichtigt, die für eine Verwurzelung des Klägers im Bundesgebiet sprechen. Durch das Auflisten dieser Umstände wird nicht substantiiert dargetan, dass die im Rahmen der Gewährleistungen des Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 8 EMRK gebotene Gesamtwürdigung fehlerhaft ist. Zu den von dem Beklagten zu Recht angeführten Gründen, die für die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung sprechen, verhält sich das Zulassungsvorbringen nicht.
2. Der Zulassungsantrag hat jedoch Erfolg, soweit der Kläger gestützt auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 und (sinngemäß) Nr. 4 rügt, dass die Ausweisung entgegen der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 -, juris Rn. 30 ff.) nicht bereits mit ihrem Erlass befristet wurde und das Verwaltungsgericht dies nicht beanstandet hat.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist auch nicht im Ergebnis aus anderen Gründen offensichtlich richtig (s. hierzu: BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004 - 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004 S. 542). Zwar hat der Beklagte im Zulassungsverfahren mitgeteilt, dass ein Befristungszeitraum von drei Jahren verhältnismäßig sei (vgl. zu einer von dem Beklagten im Revisionsverfahren nachträglich vorgenommenen Befristung der Wirkungen der Ausweisung: BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 -, juris Rn. 6, 39 ff.) und erhielt der Kläger insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme. Auch spricht Einiges dafür, dass vorliegend eine kürzere als die von dem Beklagten gesetzte Drei-Jahres-Frist nicht in Betracht kommen kann. Insbesondere dürfte die dem Kläger nach Aktenlage erteilte Duldung nicht zu berücksichtigen sein (vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 a.a.O., juris Rn. 42). Abgesehen davon, dass sie gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG lediglich für die Dauer der mit Antrag vom 8. Oktober 2010 geltend gemachten Passlosigkeit erteilt wurde, liegt nach Blatt 242 der Ausländerakte des Klägers dieses tatsächliche Abschiebungshindernis nicht vor. Denn hiernach verfügt der Kläger über einen bis 29. Juli 2014 gültigen libanesischen Reisepass. Jedoch ist die nach den Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 42; Urteil vom 30. Juli 2013 a.a.O., juris Rn. 42 f) vorzunehmende Bestimmung der Frist derart komplex, dass die Richtigkeit der Drei-Jahres-Frist nicht ohne Weiteres auf der Hand liegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 2013 - 1 BVR 3057/11 - juris Rn. 40).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG.