Gericht | VG Cottbus 9. Kammer | Entscheidungsdatum | 24.02.2021 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | 9 K 1515/20.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2021:0224.9K1515.20.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 60 Abs 5 AufenthG 2004, § 73c Abs 2 AsylVfG 1992 |
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 02. September 2020 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG).
Er ist ausweislich eines bei der Ausländerbehörde vorgelegten Reisepasses am 21. März 2000 geboren und afghanischer Staatsangehöriger. Eigenen Angaben nach ist er dem Volke der Paschtunen zugehörig. Der Kläger stellte am 02. Mai 2016 zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.
Im Rahmen der am 02. November 2016 beim Bundesamt durchgeführten persönlichen Anhörung seiner Mutter, wurde auch der Kläger nach den Gründen für das Verlassen des Heimatlandes befragt. Diesbezüglich gab er an, dass seine Mutter in Afghanistan verletzt worden und dies der Grund für die Ausreise gewesen sei. Im Übrigen führte seine Mutter aus, dass weder von ihrer Seite noch von Seiten ihres Mannes Verwandte in Afghanistan leben würden.
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 06. Dezember 2016 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers hinsichtlich der Zuerkennung von Asyl, Flüchtlingsschutz und subsidiärem Schutz ab (Ziffern 1 bis 3), stellte aber zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG fest (Ziffer 4). Zur Begründung führte die Beklagte insoweit aus, dass aufgrund der individuellen Umstände des Klägers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass sich die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung außergewöhnlich erhöhe. Die Familie mit minderjährigen Kindern ohne familiäres oder sonstiges Netzwerk gehöre zum Kreis der vulnerablen Personen. Aufgrund der konkreten Einlassungen sei davon auszugehen, dass keine wesentlichen Unterstützungsmöglichkeiten aus der Familie zu erwarten sein dürften, um bei einem Neuanfang in Afghanistan eine Einkommensgrundlage zu schaffen, die nachhaltig das zum Leben notwendige Existenzminimum sichere.
Nach entsprechender Prüfung leitete das Bundesamt am 21. Juli 2020 ein Widerrufsverfahren für den Kläger ein. Im Rahmen der Möglichkeit zur schriftlichen Stellungnahme zum beabsichtigen Widerruf gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er im Alter von 14 Jahren mit seinen Eltern und seinem Bruder nach Deutschland gekommen sei. Wenn er nach Afghanistan zurückmüsse, hätte er dort keine Unterkunft, keine familiäre Bindung und auch keine sozialen Kontakte. Auch würde er mit Sicherheit keine Arbeit finden, da die Menschen negativ darauf reagieren würden, wenn sie erfuhren, dass er aus Deutschland zurückgekommen sei. Zudem habe er sich hier gut integriert. Nachdem er die 9. Klasse und einen B1-Kurs absolviert habe, besuche er die 10. Klasse. Er wolle anschließend eine Ausbildung beginnen.
Mit Bescheid vom 02. September 2020 widerrief das Bundesamt das festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG (Ziffer 1) und stellte fest, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vorliege (Ziffer 2). Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Bedingungen, auf die Rückkehrer nach Kabul treffen würden, nicht derartig schlecht seien, dass sie in schrecklichen humanitären Zuständen existieren müssten. Der Kläger sei nunmehr ein volljähriger, erwerbsfähiger junger Mann. Es sei nicht ersichtlich, dass er aufgrund seines langen Auslandsaufenthaltes und der fehlenden beruflichen Erfahrung auf dem afghanischen Arbeitsmarkt chancenlos wäre. So könne er etwa Tätigkeiten im Niedriglohnsektor oder mit Hilfe einfacher Hilfs- und/oder Gelegenheitsarbeiten, die keine besondere Qualifikation voraussetzen, zumindest ein kleines Einkommen erzielen und somit seine Existenz auf niedrigem Niveau sichern. Es seien keine Gründe dafür ersichtlich, dass er in Anbetracht der Vielzahl an Rückkehrern, erheblich benachteiligt wäre, zumal er auch Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen könne. Ggf. komme auch eine Unterstützung durch seinen Bruder in Betracht, dessen Abschiebungsverbot ebenfalls wiederrufen worden sei. Dem Kläger drohe auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde.
Der Kläger hat am 11. September 2020 Klage beim hiesigen Verwaltungsgericht erhoben. Eine Begründung der Klage erfolgte nicht.
Der Kläger beantragt,
der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 02. September 2020 wird aufgehoben.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
Die Kammer hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 02. Oktober 2020 der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
In der mündlichen Verhandlung am 24. Februar 2021 hat das Gericht den Kläger informatorisch angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift in der Gerichtsakte verwiesen.
Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die beigezogene Ausländerakte des Klägers und die in das Verfahren eingeführte Erkenntnismittelliste Afghanistan Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung.
Das Gericht entscheidet durch die zuständige Einzelrichterin, der die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) mit Beschluss vom 02. Oktober 2020 zur Entscheidung übertragen hat.
Das Gericht kann zudem gemäß § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) trotz des Ausbleibens eines Beklagtenvertreters zur mündlichen Verhandlung in der Sache entscheiden, weil die Beklagte in der ordnungsgemäß erfolgten Ladung vom 04. Dezember 2020 darauf hingewiesen worden ist, wie sich aus Blatt 35, 38 und 38 der Gerichtsakte ergibt.
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 02. September 2020 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.
Rechtsgrundlage für den Widerruf des mit Bescheid vom 06. Dezember 2016 festgestellten Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG ist § 73c Abs. 2 AsylG. Danach ist die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Der Widerruf darf damit nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen für das ursprünglich zuerkannte Abschiebungsverbot nachträglich entfallen sind und auch nicht aus anderen Gründen Abschiebungsschutz zu gewähren ist. Dabei sind alle Rechtsgrundlagen für den nationalen Abschiebungsschutz (§ 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG), der jedenfalls seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28. August 2007 einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand bildet, in die Prüfung einzubeziehen (BVerwG, Urt. v. 29. September 2011 – 10 C 24/10 – juris, Rn. 9). Das Gericht darf sich nicht auf die Prüfung der von der Beklagten angegebenen Widerrufsgründe beschränken. Dass auch aus der im Asylverfahren geltenden Konzentrations- und Beschleunigungsmaxime folgende Gebot einer umfassenden Prüfung eines Widerrufsbescheides auf seine Rechtmäßigkeit erfasst daher nicht nur die Berücksichtigung unterschiedlicher Widerrufstatbestände, sondern innerhalb des Widerrufstatbestandes nach § 73c Abs. 2 AsylG auch die Frage, ob die Voraussetzungen für die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG nicht mehr vorliegen, weil sich die schutzbegründenden Umstände erheblich und dauerhaft verändert haben (BVerwG, Urt. v. 29. Juni 2015 – 1 C 2.15 – juris, Rn. 15).
In Anwendung dieser Grundsätze erweist sich der Widerruf des festgestellten Abschiebungsverbotes als rechtswidrig. Auf die Tragfähigkeit des von der Beklagten in den Vordergrund gestellten Widerrufsgrundes, dass der Kläger nunmehr volljährig und nicht mehr auf den Familienverband angewiesen sei, kommt es danach letztlich nicht an. Denn das Gericht geht hier davon aus, dass zugunsten des Klägers die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG, dessen Vorliegen der Rechtmäßigkeit des Widerrufsbescheides gleichermaßen entgegenstehen würde, erfüllt sind.
Ein Ausländer darf gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Urt. v. 31. Januar 2013 – 10 C 15/12 – juris, Rn. 36). Nach dieser Vorschrift darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Erforderlich ist nach Art. 3 EMRK eine konkrete Gefahr („real risk“) der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigende Strafe oder Behandlung (EGMR, Urt. v. 17. Juli 2008, NA gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 25904/07, Rn. 40).
Die oben genannten Gefahren können sich aus den individuellen Umständen in einer Person des Ausländers ergeben, zum anderen können sie aber auch in ganz besonderen Ausnahmefällen aus der allgemeinen Sicherheitslage und humanitären Lage im Abschiebezielstaat resultieren. Dies setzt jedoch voraus, dass die gegen die Abschiebung sprechenden Gründe zwingen sind. Hinsichtlich der Gefahrenprognose ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (zu dem ganzen BVerwG, Urt. v. 31. Januar 2013 – 10 C 15/12 – juris, Rn. 23 ff., m. w. N.). Dieser Ort ist im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan Kabul (VGH Baden-Württemberg, Urt. v.12 Oktober 2018 – A 11 S 316/17 – juris, Rn. 202).
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger in seinem besonderen Einzelfall unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation und der aktuellen Erkenntnislage zu Afghanistan auch weiterhin im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, weil er aufgrund der dort vorherrschenden, schlechten humanitären Verhältnisse voraussichtlich nicht zur Sicherung seines Existenzminimums in der Lage sein wird.
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Es rangiert weiterhin auf einem der untersten Plätze des Human Development Index (2019: 170 von 189) (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16. Juli 2020, Stand: Juni 2020, S. 6). In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80 % ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55 % aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Die wirtschaftliche Entwicklung bleibt geprägt von der schwierigen Sicherheitslage sowie schwacher Investitionstätigkeit. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9 %. Das rapide Bevölkerungswachstum von rund 2,7 % im Jahr macht es dem afghanischen Staat nahezu unmöglich, alle Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung angemessen zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen, etwa im Bildungsbereich, bereitzustellen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16. Juli 2020, Stand: Juni 2020, S. 22).
Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16. Juli 2020, Stand: Juni 2020, S. 22). Generell ist der Armutsanteil im ländlichen Raum höher als im städtischen Bereich. Den stärksten städtischen Armutsanstieg verzeichnen seit dem Jahre 2011 die Städte Kandahar, Kabul, Herat, Balkh und Kunduz, wobei die Hälfte der armen Städter in Kabul zu finden sind (EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report– Key socio-economic indicators – Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 37 f.).
In den Jahren 2016/2017 waren rund 45 % oder 13 Millionen Menschen in Afghanistan von anhaltender oder vorübergehender Lebensmittelunsicherheit betroffen, wobei der Anteil der Betroffenen im Osten, Norden und Nordosten am höchsten ist. Die COVID-19-Krise führte in der ersten Hälfte des Jahres 2020 zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise (EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report– Key socio-economic indicators – Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 36). Die Versorgungslage mit Lebensmitteln wird für Kabul als angespannt angesehen. Dies bedeutet, dass auch mit humanitärer Hilfe 1/5 der Haushalte zwar ausreichend Nahrungsmittel hatten, im Gegenzug allerdings nicht mehr genug Geld für die Befriedigung anderer Grundbedürfnisse (EASO Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132). Auch aktuell ist von einer generellen Nahrungsmittelknappheit zumindest in Kabul nicht auszugehen. Bei Grundnahrungsmitteln (etwa Weizen, Gemüse, Öl, Fleisch) gibt es keine Engpässe (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17. Dezember 2020 – A 11 S 2042/20 – juris, Rn. 66).
Der Zugang zu Wasser und Sanitärversorgung hat sich zwar in Afghanistan in den letzten Jahren generell verbessert. Trotzdem bleibt der Zugang zu Trinkwasser – gerade in Kabul – ein Problem. In Kabul haben nur 32 % der Einwohner Zugang zu fließendem Wasser, nur 10 % der Einwohner haben Zugang zu fließendem Trinkwasser. Viele arme Bewohner sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen. Ein Großteil der Brunnen und Zapfstellen sind durch Abwasser verschmutzt. Nur ca. 50 % der Afghanen hat Zugang zu Sanitäranlagen (EASO Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 133).
Trotz des rasanten Wachstums der städtischen Bevölkerung – die Schätzungen bewegen sich zwischen 3,4 % und 4,4 % jährlich – ist Afghanistan nach wie vor eine überwiegend ländlich geprägte Gesellschaft. Die große Mehrheit der städtischen Bevölkerung Afghanistans lebt in Slums oder unzureichenden Unterkünften (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, deutsche Fassung, S. 62). Die meisten Wohnungen in Afghanistan bestehen aus irregulär freistehenden Häusern oder Doppelhaushälften oder regulären Einfamilienhäusern. Wohnblocks oder Apartments befinden sich fast ausschließlich in Kabul-Stadt. Die Mehrheit der Afghanen lebt im Allgemeinen in sehr schlechten Wohnverhältnissen und hat nur minimalen Zugang zu Wohnraumfinanzierung. Der formelle Wohnungssektor ist nicht in der Lage, erschwinglichen Wohnraum bereitzustellen, um den Bedarf der wachsenden Zahl städtischer Haushalte mit niedrigem Einkommen und Armen zu decken (EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report– Key socio-economic indicators – Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 60). Als kostengünstige Unterbringungsalternative für Rückkehrer, Reisende, Tagelöhner, Straßenverkäufer, junge Leute und alleinstehende Männer gelten die sogenannten „Teehäuser“. Diese Kosten zwischen 30 und 100 Afghani pro Nacht (EASO Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 133)
Der Arbeitsmarkt in Afghanistan stand bereits vor Ausspruch der Covid-19-Pandemie unter enormen Druck (ausführlich dazu VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17 – juris, Rn. 225 ff.). Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt dabei eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Nach Schätzungen müssen am Arbeitsmarkt jährlich etwa 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghanen arbeitslos. Dominiert wird der afghanische Arbeitsmarkt weitgehend durch den Agrarsektor. Zudem gibt es einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13. November 2019, letzte Information eingefügt am 29. Juni 2020, S. 323 f.). Die Gesamtarbeitslosenquote (Personen ab 15 Jahren) liegt bei 11,2 %, die Jugendarbeitslosigkeit (15-24 Jahre) wird dabei auf 17,5 % geschätzt (EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report– Key socio-economic indicators – Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 28). Eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen persönliche Kontakte bzw. lokale Netzwerke. Ohne das Vorhandensein solcher ist die Arbeitssuche schwierig. Eine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit existiert im Land nicht (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13. November 2019, letzte Information eingefügt am 29. Juni 2020, S. 323).
Das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans ist Kabul (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 29. Oktober 2019 – A 11 S 1203/19 – juris, Rn. 19). In der Hauptstadt gibt es einen großen Anteil an Angestellten, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Teilen des Landes weniger verbreitet ist. Die Hauptstadt zieht Arbeitskräfte aus kleinen Dörfern in Provinzen wie Parwan, Logar und Wardak an, die täglich oder wöchentlich in die Hauptstadt pendeln, um mit landwirtschaftlichen Produkten zu handeln oder als Wachpersonal, Haushaltsangestellte oder Lohnarbeiter zuarbeiten. Die Gehälter in Kabul sind im allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, die für ausländische Organisationen arbeiten (EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report– Key socio-economic indicators – Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 30).
Bis zum Ausbruch der COVID-19-Pandemie hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan seit dem Jahr 2002 stark verbessert. Im Jahr 2018 wohnten 87 % der Bevölkerung nicht weiter als zwei Stunden von einer funktionierenden medizinischen Institution entfernt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13. November 2019, letzte Information eingefügt am 29. Juni 2020, S. 332). Trotz dieser Verbesserungen steht das afghanische System der öffentlichen Gesundheitsversorgung weiterhin vor Herausforderungen wie beschädigter Infrastruktur, Mangel an ausgebildeten Gesundheitsdienstleistern und unzureichenden Ressourcen für die Gesundheitsversorgung. Die öffentlichen Gesundheitsdienste sind insbesondere aufgrund großer Bevölkerungsbewegungen innerhalb des Landes und einer beträchtlichen Zahl von Rückkehrern in städtische Zentren überfordert. Örtliche medizinische Einrichtungen sind weitgehend nicht in der Lage, die zusätzliche Belastung aufzufangen und können den steigenden Bedarf nicht bewältigen. Trotz Lücken im Zugang, gerade mit Blick auf die ländliche Bevölkerung, zu medizinischer Grundversorgung, hat ein Großteil der Bevölkerung Zugang zu dieser (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, deutsche Fassung, S. 52). Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Versorgung, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Staatsbürger zur Verfügung zu stellen. Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet jedoch kaum bis gar nicht statt. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen deshalb, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16. Juli 2020, Stand: Juni 2020, S. 23). Die Verfügbarkeit von Arzneimitteln und medizinischen Geräten ist aufgrund der unsicheren Lage sehr begrenzt. Zudem variiert die Qualität der verfügbaren Medikamente stark. Der Medikamentenmarkt ist mit minderwertigen und sogar gefälschten Arzneimitteln überschwemmt (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, deutsche Fassung, S. 55).
Besonders von den schwierigen wirtschaftlichen und humanitären Verhältnissen sind Binnenvertriebene und nach Afghanistan zurückkehrende Personen (sowohl aus den benachbarten Ländern als auch aus dem europäischen Ausland) betroffen. Binnenvertriebene waren anhaltenden Risiken ausgesetzt, weil sie keinen Zugang zu Nahrung, Wasser, Wohnraum und Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheitsversorgung und Verdienstmöglichkeiten hatten. Nach EASO-Berichten gab es in Afghanistan zum 31. Dezember 2019 rund 4,2 Millionen Vertriebene. Davon wurden etwa 3 Million Menschen durch Konflikte und Gewalt und rund 1,2 Million durch Naturkatastrophen, insbesondere Dürren und Überschwemmungen, vertrieben (EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report– Key socio-economic indicators – Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 14 und S. 38). Zudem sind die Zahlen der Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan weiterhin auf einem hohen Stand. Allein vom 01. Januar 2020 bis zum 12. September 2020 sind 527.446 undokumentierte Afghanen aus dem Iran (523.196) und Pakistan (4.350) nach Afghanistan zurückgekehrt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, Country of Origin Information, Stand: 16. Dezember 2020, S. 321). UNOCHA berichtet für den Zeitraum vom 01. Januar bis zum 20. Dezember 2020 von 818.190 Rückkehrern aus dem Iran, 7.365 Rückkehrern aus Pakistan sowie weiteren 3.220 Rückkehrern aus anderen Ländern (OCHA, Afghanistan, Weekly Humanitarian Update, 14-20 December 2020, S. 1). Die hohe Zahl der Rückkehrenden und intern Vertriebenen setzt die begrenzten Dienstleistungen und Beschäftigungsmöglichkeiten in den wichtigsten städtischen Zentren massiv unter Druck (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update der SFH-Länderanalyse, 30. September 2020, S. 20).
Die Wohnsituation für Binnenvertriebene und Rückkehrer ist prekär. Oftmals entscheiden diese sich für eine Ansiedlung in städtischen oder stadtnahen Gebieten, in denen sie häufig in gemieteten oder gemeinsam genutzten Unterkünften oder in Gemeinschaftsunterkünften leben. 65 % der Vertriebenenhaushalte gaben an, nicht in einer dauerhaften Unterkunft zu leben. Auch die Wasser- und Sanitärversorgung ist für diese dort ein schwerwiegendes Problem (EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report– Key socio-economic indicators – Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 64 f.).
Für die Rückkehrer war in den Jahren 2016 und 2017 ungelernte Arbeit die häufigste Einkommensquelle. Eine Studie von Oxfam ergab, dass Rückkehrer in der Regel nur gelegentlich in Kabul als Tagelöhner arbeiten und die meisten von ihnen nicht jeden Tag eine Arbeit finden können, weshalb ihr Einkommen nicht stabil ist. Ein Großteil der Migranten ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, deutsche Fassung, S. 34 f.). Wesentlich ist für Rückkehrer ein soziales Netzwerk, da von diesem der Zugang zum Arbeitsmarkt wesentlich abhängt. Neben der Familie kommen dabei in Afghanistan auch der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft zum Tragen. Sofern die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen haben, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist, was die Reintegration stark erschweren kann. Auch Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13. November 2019, letzte Information eingefügt am 29. Juni 2020, S. 323 und 344).
Auf Grundlage dieser Erkenntnisse hat sich bislang nach der ständigen Rechtsprechung grundsätzlich nicht ergeben, dass im Falle alleinstehender, arbeitsfähiger, männlicher Rückkehrer in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK erfüllt sind, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden können (vgl. statt vieler: Bayerischer VGH, Urt. v. 06. Juli 2020 – 13a B 18.32817 – juris; OVG Bremen, Urt. v. 12. Februar 2020 – 1 LB 276/19, 1 LB 305/18 – juris; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 22. Januar 2020 – 13 A 11356/19.OVG – beck-online; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 29. Oktober 2019 – A 11 S 1203/19 – juris; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 – juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18. Juni 2019 – 13 A 3930/18.A – juris). Auch die Einschätzungen der EASO gehen dahin, dass die Situation im Zusammenhang mit der Ansiedlung in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif gewisse Härten mit sich bringen kann, die Ansiedlung dort jedoch für alleinstehende, arbeitsfähige Männer unter Berücksichtigung ihrer individuellen Umstände zumutbar sei (EASO Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 137).
Liegt nach alledem nahe, dass in der Regel Rückkehrer aus Europa nicht unmittelbar in eine extreme Gefahrenlage geraten, kann im Einzelfall bei Personengruppen mit erhöhtem Gefährdungspotential auch nach dem strengen Maßstab des Art. 3 EMRK eine Situation bestehen, bei der sich die humanitären Gründe gegen eine Abschiebung als zwingend erweisen. Dies kann insbesondere bei Familien und alleinstehenden Frauen der Fall sein. Aber auch bei jungen, alleinstehenden Männern können bestimmte Persönlichkeitsdefizite dazu führen, im Einzelfall eine extreme Gefahrenlage anzunehmen, sodass insbesondere bei Personen, die nie bzw. nur in Kindesjahren in Afghanistan gelebt haben, maßgeblich sein kann, in welchem Alter sie Afghanistan verlassen haben, welche Verbindungen noch zu und in Afghanistan bestehen, welche Sprachen sie sprechen, welche Bildung sie genossen haben und ob zu erwarten ist, dass sie sich schnell an die Gepflogenheiten anpassen können (VG Cottbus, Urt. v. 28. Dezember 2020 – 3 K 2310/16.A – juris, Rn. 34 m. w. N.).
Vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie in Afghanistan bedürfen die vorgenannten Grundsätze jedoch einer sorgfältigen Überprüfung, denn die ohnehin prekäre humanitäre Lage hat sich gerade auch mit Blick auf das Finden von Unterkunft und Arbeit weiterhin verschärft.
Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln bzw. allgemein zugänglichen Quellen gibt es in Afghanistan im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt 55.646 bestätigte Corona-Fälle. Davon sind 48.967 Personen genesen. Außerdem gibt es 2.435 Todesfälle. Infektionen werden aus allen 34 Provinzen gemeldet. Am meisten betroffen sind – gemessen an den bestätigten Fällen – die Provinzen Herat, Kandahar, Balkh und Kabul. Laut dem afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) befindet sich das Land seit November 2020 in einer zweiten Welle (OCHA, Afghanistan, Strategic Situation Report: Covid-19, 21. Januar 2021, S. 1). Zu Beginn der Pandemie wurde in Afghanistan ein Lockdown verhängt, mit dem die Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste erheblich eingeschränkt worden sind (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13. November 2019, letzte Information eingefügt am 29. Juni 2020, S. 7). Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17. Dezember 2020 – A 11 S 2042/20 – juris, Rn. 75; https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/afghanistan-node/afghanistansicherheit/204692).
Die auch schon vor der Covid-19-Pandemie angespannte medizinische Versorgungslage hat sich durch diese weiterhin verschärft. Es wird nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität von Kliniken und Krankenhäusern zur Behandlung von Patienten mit Covid-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichtet. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von Covid-19 (OCHA, Afghanistan, Strategic Situation Report: Covid-19, 21. Januar 2021, S. 1 f.)
Die Corona-Pandemie hat sich schwer und nachhaltig auf die afghanische Wirtschaft ausgewirkt. Das afghanische Finanzministerium rechnet aufgrund der Covid-19-Krise mit 50 % weniger Einnahmen im laufenden Finanzjahr (BAMF, Briefing Notesvom 04. Mai 2020, S. 2). Die Weltbank geht für 2020 von einer Rezession aus. Es wird erwartet, dass die Armutsquote auf 73 % steigen wird (EASO, Afghanistan Country of Origin Information Report– Key socio-economic indicators – Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020, S. 29). Die COVID-19-Krise führte in der ersten Hälfte des Jahres 2020 zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise. Die Preise scheinen seit April 2020, nach Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, Durchsetzung von Anti-Preismanipulations-Regelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Lebensmittelimporte, jedoch wieder gesunken zu sein (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, Country of Origin Information, Stand: 16. Dezember 2020, S. 304).
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben sich auch massiv auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt. Laut Arbeitsministerium sollen aufgrund der Pandemie 2 Millionen Menschen arbeitslos geworden sein (BAMF, Briefing Notes vom 27. April 2020, S. 2). Einige Quellen gehen davon aus, dass es verglichen mit der Zeit vor der Pandemie in Afghanistan weniger Gelegenheitsarbeiten für Tagelöhner, Händler und Wanderarbeiter gibt. Jedoch schätzt die Weltbank, dass sich der Arbeitsmarkt angesichts der Lockerungen der Corona-Beschränkungen ein wenig erholen wird (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17. Dezember 2020 – A 11 S 2042/20 – juris, Rn. 50 m. w. N.). Anderen Quellen ist zu entnehmen, dass aktuell wieder die Möglichkeit besteht, eine Gelegenheitsarbeit auf dem Tagelöhnermarkt in Kabul zu erlangen. Im Vergleich zu den Werten vor der Corona-Pandemie, soll sich das Arbeitsangebot nunmehr wieder auf demselben Niveau befinden (OVG Bremen, Urt. v. 24. November 2020 – 1 LB 351/20 – juris, Rn. 40 m. w. N.). Unabhängig davon lässt sich den Erkenntnismitteln insgesamt entnehmen, dass sich die aufgrund der angespannten Arbeitsmarktsituation ohnehin schon große Konkurrenz um Gelegenheitsarbeiten durch die mit der Covid-19-Pandemie zusammenhängenden Umstände weiter erheblich verschärft hat. Insbesondere die hohe Zahl der Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan sowie Binnenvertriebener schlägt sich in einem Anstieg der Lebenshaltungskosten und einem erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder (OVG Bremen, Urt. v. 24. November 2020 – 1 LB 351/20 – juris, Rn. 40 m. w. N.). Das Famine Early Warning Systems Network rechnet damit, dass ein Tagelöhner derzeit durchschnittlich 2,4 Tage pro Woche für 325 AFN pro Tag (ca. 3,57 EUR) arbeiten kann. Damit könnte er ein Neuntel eines Monatspakets mit Grundnahrungsmitteln für einen sechsköpfigen Haushalt kaufen (BAMF, Briefing Notes vom 16. November 2020, S. 2). Aufgrund der Auswirkungen des Lockdowns, insbesondere der gestiegenen Preise und eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten, befinden sich schätzungsweise 16,9 Million Menschen in aktueller Ernährungsunsicherheit, davon ca. 5,5 Million in einem Notfallstatus (OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response Operational Situation Report, 20. Dezember 2020, S. 2).
Sowohl die afghanische Regierung als auch internationale Hilfsorganisation sind weiterhin und zum Teil verstärkt in Afghanistan aktiv. Im Juli 2020 kündigte die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken. Die Weltbank genehmigte am 15. Juli 2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation, Covid-19 Afghanistan, Stand 21. Juli 2020, S. 3). Die Weltbank hat Afghanistan Beihilfen i. H. v. 400 Millionen US-Dollar unter anderem zur Bewältigung von Einnahmeausfällen sowie zur Förderung von Investitionen im privaten Sektor, in Höhe von weiteren 200 Millionen US-Dollar zur Unterstützung bei der Einleitung eines schnelleren Aufschwung und Aufrechterhaltung grundlegender Versorgungseinrichtungen wie Wasser, Elektrizität und Telekommunikation sowie in Höhe von weiteren 100 Million US-Dollar zur Unterstützung der Landwirtschaft und Verbesserung der Ernährung Sicherheit gewährt (The World Bank Group in Afghanistan, Country Update, Oktober 2020, S. 3).
Für Rückkehrer ist die ohnehin bereits angespannte Lage nochmals schwieriger zu bewältigen, da ihnen häufig mit Misstrauen begegnet wird und ihnen gegebenenfalls eine notwendige Unterstützung durch ein soziales Netzwerk fehlt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13. November 2019, letzte Information eingefügt am 29. Juni 2020, S. 343 f.). Jedoch können Rückkehrer aus dem Westen – anders als die übrige Bevölkerung – von Unterstützungsmaßnahmen profitieren (dazu ausführlich VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 26. Juni 2019 – A 11 S 2108/18 – juris, Rn. 89 ff.). Im Rahmen des REAG/GARP-Programms, welches vom Bund und den Ländern finanziert wird, erhalten freiwillig nach Afghanistan zurückkehrende eine Starthilfe i. H. v. 1.000 € pro Erwachsenen. Hinzukommen die Übernahme von Reisekosten und eine einmalige Reisebeihilfe i. H. v. 200 € (vgl. dazu Informationsblatt für die freiwillige Rückkehr mit REAG/GARP, abrufbar unter https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/reag-garp). Nach sechs bis acht Monaten kann von der IOM ein weiterer Betrag i. H. v. 1.000 € nach dem Programm Starthilfe Plus ausgezahlt werden (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan). Angesichts der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie ist die finanzielle Unterstützung für alle Starthilfe Plus-Rückkehrer erhöht worden. Nunmehr kommen ergänzend eine Zusatzzahlung von 1.000 € innerhalb von acht Wochen nach der Ausreise (sog. Corona-Zusatzzahlung I) und eine weitere Corona-Zusatzzahlung von 500 € zu der zweiten Starthilfe Zahlung nach sechs bis acht Monate nach der Ausreise hinzu (StarthilfePlus_Ergänzende Reintegration_2021_Deutsch.pdf (returningfromgermany.de)).
Neben den regulären Ausreiseleistungen der Programme REAG/GARP und Starthilfe Plus können rückkehrende Personen nach Afghanistan auch individuelle Reintegrationshilfen erhalten (ERRIN). Diese dient vorrangig dem Existenzaufbau und der Sicherung des Familieneinkommens. Die Hilfen umfassen einen Zeitraum von bis zu zwölf Monaten nach der Ankunft. Inbegriffen ist z.B. Service bei der Ankunft, Beratung und Begleitung zu behördlichen, medizinischen und karitativen Einrichtungen, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen und Arbeitsplatzsuche sowie Unterstützung bei einer Geschäftsgründung. Die Unterstützung wird über eine vor Ort tätige Partnerorganisation weitgehend als Sachleistung gewährt (ERRIN - Programme (returningfromgermany.de)).
Bei Gesamtwürdigung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln stellt sich zur Überzeugung des Gerichts die Lage derzeit für aus dem westlichen Ausland zurückkehrende Personen so dar, dass die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK nicht für jeden jungen, gesunden und erwerbsfähigen Mann ohne familiäres oder soziales Netzwerk vor Ort erfüllt sind (Bayerischer VGH, Urt. v. 01. Oktober 2020 – 13a B 20.31004 – juris, Rn. 43 ff; VG Cottbus, Urt. v. 19. November 2020 – 3 K 304/17.A – juris, Rn. 58 ff.; VG Köln, Urt. v. 08. Dezember 2020 – 14 K 4963/17.A – juris, Rn. 27; VG Freiburg (Breisgau), Urt. v. 08. September 2020 – A 8 K 10988/17 – juris, Rn. 57; VG Würzburg, Urt. v. 02. September 2020 – W 1 K 20.30872 – juris, Rn. 45).
Aufgrund der aktuellen Lage sind jedoch auch an Rückkehrer, die diese Eigenschaften aufweisen, höhere Anforderungen an die individuelle Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit zu stellen. Um diese festzustellen und damit eine Prognose der individuellen Fähigkeit, in Afghanistan (wenigstens) ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen, treffen zu können, bedarf es einer Abwägung aller Faktoren unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände des Einzelfalls (OVG Bremen, Urt. v. 24. November 2020 – 1 LB 351/20 – juris, Rn. 52 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 30. November 2020 – 13 A 11421/19 – juris, Rn. 136; VG Hamburg, Urt. v. 30. September 2020 – 1 A 2533/20 – juris, Rn. 65 ff.).
Dies zugrunde gelegt gelangt die Einzelrichterin in dem hier zu entscheidenden Einzelfall zu der Überzeugung, dass der Kläger (auch weiterhin) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes hat. Aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalls kann nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass es ihm gelingen wird, in Afghanistan wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen. Zwar handelt es sich bei dem Kläger mittlerweile um einen volljährigen jungen Mann, der unter keinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet. Auch hat der Kläger bisher keine eigene Familie, der er zum Unterhalt verpflichtet sein könnte.
Jedoch hat der Kläger Afghanistan bereits im Alter von vierzehn Jahren verlassen. Damit hat der Kläger die im Rahmen der Sozialisation prägenden Jahre seiner Jugend weder in Afghanistan noch in einem anderen muslimisch geprägten und religiös-kulturell wenigstens verwandten Land verbracht. Auch bereits vor der Ausreise aus Afghanistan stand die Familie des Klägers wegen ihrer Einstellung/Ansichten und dem Umgang mit westlichen Personen auch im gesellschaftlichen Fokus, was ein eigenständiges Zurechtfinden des Klägers in seinem Herkunftsland Afghanistan zusätzlich erschwert.
Der Kläger hat zwar auch in Deutschland die Schule besucht. Er hat hier jedoch weder eine formalisierte Ausbildung durchlaufen noch sonstige Erfahrungen in der Arbeitswelt gesammelt, die ihm auf dem Tagelöhnermarkt in Afghanistan von Nutzen sein könnten. In Afghanistan war er ebenfalls noch nicht erwerbstätig. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bisher in einer Form mit dem Arbeitsmarkt in Afghanistan in Berührung gekommen ist, die es notwendig und zugleich möglich machte, dass der Kläger sich darüber eine Existenz (wenn auch nur am Rande des Minimums) sichern kann. Darüber hinaus handelt es sich aufgrund des Verlassens des Heimatlandes im jungen Alter und der bereits länger andauernden Abwesenheit bei Afghanistan um ein für den Kläger nahezu unbekanntes Land, sodass der Kläger zu den Personen gehört, die mit den kulturellen Gepflogenheiten nicht vertraut und wegen ihrer Sprache, Kleidung und ihres Verhaltens leicht zu erkennen sind. Dies erschwert den Aufbau einer Existenz zusätzlich. Auch hat der Kläger weder vor seiner Ausreise aus Afghanistan noch während seines Aufenthaltes hier in Deutschland Verhaltensweisen oder Aktivitäten gezeigt, die den Schluss nahelegen, dass er über besondere Fertigkeiten oder besonderes organisatorisches, strategisches oder menschliches Geschick verfügt, die eine Durchsetzungsfähigkeit in einer für ihn unbekannten Umgebung zulassen.
Hinzu kommt, dass der Kläger in Afghanistan über keinerlei familiären oder sozialen Rückhalt verfügt, welcher insbesondere im Fall des Klägers, der sein Heimatland bereits im jungen Alter verlassen hat und vor seiner Ausreise nicht selber für sich sorgen musste, wichtig ist. Seine Kernfamilie (Eltern und Geschwister) lebt ebenfalls seit dem Jahr 2015 in Deutschland. Bereits die Eltern des Klägers haben bei ihren Anhörungen bei ihren Anhörungen beim Bundesamt unabhängig voneinander angegeben, dass keinerlei familiäre Beziehungen in Afghanistan bestehen. Dies wurde von der Beklagten auch nicht in Zweifel gezogen. Vielmehr ist gerade dies ein tragender Grund dafür, weshalb dem Kläger und dessen Familie von der Beklagten ein Abschiebungsverbot zuerkannt wurde. Angesichts dieser Umstände hält es die Einzelrichterin für überzeugend, dass der Kläger in Afghanistan auf keine aufnahmebereiten Verwandten oder andere Kontakte zurückgreifen kann. Auch der Verweis des Bundesamtes auf den Bruder des Klägers, dessen Abschiebungsverbot ebenfalls wiederrufen wurde und mit dem er gemeinsam zurückkehren bzw. auf dessen Unterstützung er zurückreifen könne, verfängt nicht. Es kann hier offen bleiben, ob eine solche gemeinsame Betrachtung angesichts der nicht rechtskräftigen Entscheidung des Bruders, offen steht. Denn auch wenn dies der Fall wäre, ist hier gerade nicht davon auszugehen, dass der Bruder den Kläger vor Ort unterstützen könnte. Dieser ist nur ein knappes Jahr älter als der Kläger und hat Afghanistan damit ebenfalls bereits im jungen Alter verlassen. Er würde bei einer Rückkehr vor denselben Problemen stehen, wie der Kläger. Zudem wäre bei einer solchen gemeinsamen Betrachtung zu beachten, dass – wie bereits ausgeführt – im Allgemeinen davon ausgegangen wird, junge Männer, die nicht noch für andere Personen sorgen müssen, müssten in der Lage sein, ihre Grundbedürfnisse auf einem niedrigen Niveau zu decken. Ob dies der Fall sein kann, wenn das Bundesamt auf die Unterstützung eines weiteren Familienmitglieds verweist, ist zweifelhaft.
Die Aufnahme- und Unterbringungssituation des Klägers in Afghanistan ist damit völlig ungeklärt. Wie es dem Kläger vor dem Hintergrund der ohnehin angespannten Wohnungs- und Arbeitsmarktlage gelingen soll, völlig auf sich allein gestellt, zeitnah Obdach und Arbeit zu finden und seinen nötigsten Lebensunterhalt zu bestreiten, vermag das Gericht nicht zu erkennen.
Die Familie des Klägers sowie dieser selbst leben in Deutschland von Sozialleistungen. Angesichts dessen kann nicht angenommen werden, dass der Kläger in der Vergangenheit selbst in der Lage war sich gewisse finanzielle Ressourcen für einen Neuanfang in Afghanistan zu verschaffen noch, dass er mit Transferleistungen seiner Familie, die zumindest zur Überbrückung der schweren Anfangsphase in Afghanistan zusätzlich hilfreich sein können, rechnen kann. Auch auf finanzielle Unterstützung seiner in der Türkei lebenden Schwestern kann der Kläger nicht setzen. Diese sind seinen Angaben nach Studentinnen, sodass diese ebenfalls über keinerlei größere finanzielle Ressourcen verfügen dürften.
Einer Entscheidung zum nationalen Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bedarf es hier nicht, da sich bei den Abschiebungsverboten aus § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG um einen einheitlichen Streitgegenstand handelt (BVerwG, Urt. v. 08. September 2011 – 10 C 14.10 – juris, Rn. 17).
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, § 83 b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).