Gericht | VG Potsdam 14. Kammer | Entscheidungsdatum | 10.11.2020 | |
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Aktenzeichen | 14 K 5030/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGPOTSD:2020:1110.14K5030.17.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. August 2017 zu Nr. 1, 3 bis 6 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der im Jahre 1987 in Oshnavieh geborene Kläger ist iranischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste eigenen Angaben zufolge am 14. Februar 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und stellte am 24. Mai 2016 einen Asylantrag.
Am 6. Juni 2017 wurde er durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) angehört. Dabei führte er zur Begründung im Wesentlichen aus, dass er sich aktiv für die Rechte des kurdischen Volkes einsetze. In der Zeit von 2005 bis 2012 sei er Mitglied der Demokratischen Partei Kurdistan – Iran (PDKI) gewesen. Im Jahre 2008 habe man ihn zusammen mit zwei weiteren Personen wegen der verdeckten Organisation von Maifeierlichkeiten festgenommen. Während der Haft sei er misshandelt und gefoltert worden. Nach seiner Freilassung sei er zunächst in das Dorf seines Onkels mütterlicherseits und später in den Irak geflohen. Dort habe er bis 2012 gelebt und für die Partei im Propagandaressort gearbeitet. Anschließend sei er aus der Partei ausgetreten und habe sich selbstständig für etwa ein Jahr in der Türkei und anschließend für zwei Jahre in Syrien engagiert. 2016 sei er dann über die Türkei nach Deutschland geflohen.
Mit Bescheid vom 17. August 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzes und Abschiebeverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen. Zugleich forderte sie den Kläger auf, die Bundesrepublik innerhalb von 30 Tagen zu verlassen und drohte ihm widrigenfalls die Abschiebung in den Iran an. Zudem befristete es das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
Mit seiner am 1. September 2017 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er sei wegen seiner Aktivitäten für die Demokratische Partei Kurdistan – Iran verfolgt worden. Seit 2005 sei er als verdecktes Mitglied der Partei für eine Organisationszelle im Raum Mokrian zuständig gewesen. Im Mai 2008 sei er wegen seines Engagements für die Rechte der Arbeiter verhaftet und nach etwa einer Woche gegen Zahlung einer Kaution in Höhe von 10 Millionen Rial bis zur Gerichtsverhandlung freigelassen worden. In der Zeit nach der Freilassung organisierte er einen Generalstreik in Gedenken an den in Wien am 13. Juli 1989 getöteten Vorsitzenden der Demokratischen Partei Dr. Ghassemlou. Aus Angst vor erneuter Haft, und um der Verhandlung vor einem Revolutionsgericht zu entgegen, sei er am 18. September 2008 zunächst in das Dorf seines Onkels mütterlicherseits und später – auf Befehl der Partei – in den Nordirak gegangen. Im Rahmen seiner Tätigkeit für die Partei habe er für die offiziellen Parteimedien gearbeitet, etwa für die Zeitung „Kurdistan“. Inhaltlich habe er sich im Wesentlichen mit der Unterdrückung der Kurden durch das iranische Regime befasst. Nach Verlassen der Partei im Jahr 2012 habe er sich als Journalist unabhängig und eigenständig für die Kurden in der Türkei und in Syrien engagiert. Auch in Deutschland setze er sein Engagement für die Kurden und für Kurdistan im Rahmen seiner Möglichkeiten fort. So nehme er regelmäßig an Veranstaltungen teil, auf denen er auch als Redner auftrete.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 17. August 2017, zum Geschäftszeichen, zu verpflichten,
ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise ihm subsidiären Schutz zuzuerkennen,
weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
und bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes.
Die Kammer hat das Verfahren mit Beschluss vom 24. April 2020 dem Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen.
Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung am 10. November 2020 informatorisch befragt und mehrere vom Kläger eingereichte Videos in Augenschein genommen; insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Der Einzelrichter ist zur Entscheidung berufen, weil die Kammer ihm das Verfahren mit Beschluss vom 24. April 2020 zur Entscheidung übertragen hat (§ 76 Abs. 1 des Asylgesetzes - AsylG -). Er konnte trotz des Ausbleibens der Beklagten verhandeln und entscheiden, weil auf diese Möglichkeit mit der Ladung hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).
Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Der angegriffene Bescheid des Bundesamtes vom 17. August 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat nach der Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 1 AsylG.
Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Wenn sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor einer Verfolgung wegen eines der genannten Merkmale außerhalb seines Herkunftslandes befindet und er dessen Schutz nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, ist er gemäß § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (vgl. Nr. 1 der Vorschrift), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (vgl. Nr. 2 der Vorschrift). Die nach Nr. 2 zu berücksichtigenden Maßnahmen können Menschenrechtsverletzungen sein, aber auch sonstige Diskriminierungen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Nr. 1 entspricht (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris Rn. 36). Nach § 3a Abs. 2 AsylG können als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (Nr. 1 der Vorschrift), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (Nr. 2 der Vorschrift) sowie unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3 der Vorschrift), gelten.
Den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung konkretisiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG, der Art. 10 Abs. 1 lit. e) der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Folgenden: Qualifikationsrichtlinie) in nationales Recht umsetzt, dahingehend, dass hierunter insbesondere zu verstehen ist, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
Eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG kann dabei nicht nur vom Staat aus-gehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG).
Nach § 3b Abs. 2 AsylG ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
Eine Verfolgungshandlung setzt grundsätzlich einen gezielten, aktiven Eingriff in ein geschütztes Rechtsgut voraus (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19. Januar 2009 — 10 C 52.07 —, juris Rn. 22, m. w. N.). Das heißt, zwischen den in den § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG, der Art. 9 Abs. 3 Qualifikationsrichtlinie entspricht, eine Verknüpfung bestehen, die Verfolgung muss „wegen" bestimmter Verfolgungsgründe drohen. Auf die subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht an, sondern vielmehr auf die objektiven Auswirkungen für den Betroffenen. Dabei genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG ein wesentlicher Faktor für die Verfolgungshandlung ist und insoweit eine erkennbare Gerichtetheit der Maßnahme besteht (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, § 3a AsylG Rn. 7, m. w. N.).
Diese Zielgerichtetheit muss sich nicht nur auf die asylerheblichen Merkmale bzw. auf die Verfolgungsgründe i. S. von Art. 10 Qualifikationsrichtlinie, an die die Handlung anknüpfen muss, beziehen, sondern auch auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst (vgl. Bundesverwaltungsgericht, a.a.O.).
Ob Bedrohungen der vorgenannten Art und damit eine Verfolgung drohen, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 14.89 –, juris Rn. 13,m. w. N.).
Ausgangspunkt der zu treffenden Prognoseentscheidung ist das bisherige Schicksal des Schutzsuchenden. Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorverfolgung), ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor Verfolgung. Dies gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Antragsteller im Falle der hypothetischen Rückkehr erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die hierdurch bewirkte Beweiserleichterung (vgl. so zur früheren Fassung der Qualifikationsrichtlinie Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24. November 2009 – 10 C 24.08 –, juris Rn. 21, Urteil vom 5. Mai 2009 – 10 C 21/08 –, juris Rn. 25; Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. Dezember 2010 – 19 A 2999/06.A –, juris Rn. 50, Urteil vom 17. August 2010 – 8 A 4063/06.A –, juris Rn. 35 und 41 m. w. N.) setzt jedoch einen inneren Zusammenhang zwischen dem vor Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden einerseits und dem befürchteten künftigen Schaden voraus. Der aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d Qualifikationsrichtlinie abzuleitende Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris Rn. 32). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23. Februar 1988 – 9 C 32.87 –, juris Rn. 16; Urteil vom 15. März 1988 – 9 C 278.86 –, juris Rn. 23). Entscheidend ist daher, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30. Oktober 1990 – 9 C 60.89 –, juris Rn. 31; Urteil vom 5. November 1991 – 9 C 118.90 –, juris Rn. 17; Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33.07 -, juris Rn. 37). Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ („real risk“) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 5. November 1991 – 9 C 118.90 –, juris Rn. 17; Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33.07 –, juris Rn. 37).
Anders als unter näher bestimmten Voraussetzungen im Fall der Asylanerkennung schließt ein sogenannter subjektiver – also selbst geschaffener – Nachfluchtgrund die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht regelmäßig aus (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Vielmehr stellt § 28 Abs. 1a AsylG klar, dass die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auf Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.
Von dem der Prognose zugrunde liegenden Lebenssachverhalt muss das Gericht nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO die volle richterliche Überzeugung gewonnen haben (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16. April 1985 ‒ 9 C 109/84 ‒, juris Rn. 16; Oberverwaltungsgericht Koblenz, Urteil vom 16. Dezember 2016 ‒ 1 A 10922/16 ‒, juris Rn. 32). Hierbei ist das Gericht nach § 86 Abs. 1 VwGO gehalten, alle für die Entscheidung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs auf Erlass des begehrten Verwaltungsaktes in eigener Verantwortung durch ausreichende Erforschung des Sachverhaltes festzustellen und die Streitsache in vollem Umfang spruchreif zu machen. Dabei sind dem Gericht Grenzen dadurch gesetzt, dass vielfach Lebenssachverhalte aufzuklären und zu bewerten sind, die sich im Ausland zugetragen haben (sollen). Insoweit unterliegt die Möglichkeit richterlicher Sachverhaltsermittlung Einschränkungen. Es ist in diesem Zusammenhang deshalb auch zu beachten, dass sich ein schutzsuchender Ausländer typischerweise in einem Beweisnotstand befindet, was die Vorgänge in seinem Herkunftsstaat und die Verfügbarkeit von Beweismitteln betrifft. Dies ist bei der richterlichen Entscheidungsfindung im Hinblick auf die Würdigung seines Vortrages zu berücksichtigen. Daher ist es ausreichend, wenn der Vortrag eines Schutzsuchenden substantiiert ist, eine nachvollziehbare Erklärung für etwaige Lücken gegeben werden kann, sein Vorbringen schlüssig und plausibel ist und nicht im Widerspruch zu den für seinen Fall relevanten besonderen und allgemeinen Informationen steht. Für die Glaubhaftigkeit des Verfolgungsvorbringens gilt nach den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen, dass es einem Schutzsuchenden obliegt, von sich aus umfassend die Gründe für das verfolgungsbedingte Verlassen des Heimatstaates unter Angabe genauer Einzelheiten in sich stimmig darzulegen. Der Vortrag, insbesondere zu den in die eigene Sphäre fallenden Ereignissen, muss geeignet sein, den Schutzanspruch zu tragen. Wesentliche Widersprüche und Steigerungen im Vorbringen führen regelmäßig dazu, dass dieses nicht als glaubhaft angesehen werden kann (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16. April 1985, a.a.O.).
Bei Anwendung der dargelegten Grundsätze ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1, 4. Var. AsylG aufgrund seiner politischen Überzeugung zuzuerkennen. Ihm droht nach Gesamtwürdigung seines Vortrages im Asylverfahren und der durch den Einzelrichter erfolgten informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung im Falle der hypothetischen Rückkehr in sein Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, so dass ihm nicht zuzumuten ist, dorthin zurückzukehren.
Unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnislage droht dem Kläger wegen der von ihm vorgetragenen (exil-)politischen Aktivitäten für die PDKI und das kurdische Volk bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verfolgung durch den iranischen Staat. Einer abschließenden Entscheidung hinsichtlich der Frage, wie sich der Umstand, dass der Kläger den Iran lediglich auf Anordnung der Partei verlassen hat auf eine mögliche Vorverfolgung auswirkt, bedarf es daher nicht.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe vermerkt in ihrer Länderanalyse vom 16. November 2010 (Iran: Illegale Ausreise/Situation von Mitgliedern der PDKI/Politische Aktivitäten im Exil, S. 3 ff.), dass die PDKI die älteste kurdische Oppositionsgruppe ist. Sie hat 1991 den bewaffneten Kampf aufgegeben, verurteilte den Einsatz von Gewalt und strebt die staatliche Anerkennung kurdischer Rechte in einer föderalen iranischen Republik an. Im Iran haben sich die Repressionen gegen politische Aktivisten und Gegnern des Regimes verstärkt. Kurdische oppositionelle Gruppen, die wie die PDKI in Verdacht stehen, separatistische Ziele zu verfolgen, werden brutal unterdrückt. Aktivisten werden in unfairen Verfahren zu harten Gefängnisstrafen verurteilt. Die Verfolgung kurdischer Oppositioneller beschränkt sich nicht ausschließlich auf Parteimitglieder in hohen Positionen. Der Besitz einer Broschüre oder einer CD mit Informationen zur Partei kann als ein die nationale Sicherheit bedrohender Akt aufgefasst werden. Angesichts des zunehmenden Drucks auf die kurdische Minderheit werden kurdische Iraner, die mehrere Jahre im Ausland gelebt haben, bei einer Rückkehr mit großer Wahrscheinlichkeit von den Geheimdiensten intensiv verhört. Iranische Sicherheitsdienste beobachten und erfassen seit Jahren die politischen Aktivitäten von Exiliranern. Allerdings ist es äußerst schwierig, den Grad der Überwachung von unregelmäßig aktiven Demonstrierenden oder von Personen, die ohne Schlüsselposition an Sitzungen der regierungskritischen Organisationen teilnehmen, einzuschätzen. Die Überwachung von exilierten Regierungskritikern scheint seit den Unruhen im Jahr 2009 zugenommen zu haben. Die, die sich öffentlich kritisch zu den Vorgängen im Iran äußern, müssen bei einer Rückkehr mit Problemen rechnen. Bis heute ist die PDKI eine der großen Oppositionsparteien des iranischen Regimes. Asylbewerber, die an Demonstrationen einer großen Oppositionsgruppe wie der PDKI teilgenommen haben, riskieren bei einer Rückkehr verfolgt zu werden. Die iranischen Behörden hätten außerdem Mitarbeitende an verschiedene Demonstrationen entsandt, um Teilnehmende zu fotografieren. Diese Fotografien sollen anschließend am Internationalen Flughafen Imam Khomeini verwendet worden sein, um im Ausland lebende Iraner bei der Ausreise nach einem Besuch in Iran zu kontrollieren.
Nach einer Stellungnahme von ACCORD (Anfragebeantwortung zum Iran: Lage von Mitgliedern der Democratic Party of Kurdistan Iran, Verfolgung von Mitgliedern durch iranische Behörden im Nordirak [a-8553] vom 18. November 2013) ist es unmöglich zu sagen, wo die Reizschwelle der Regierung gegenüber kurdischen Aktivitäten liegt. Es gibt keine klare Logik und keine klare rote Linie. Grundsätzlich gibt es keine Toleranz des iranischen Regimes für irgendwelche Aktivitäten in Verbindung mit kurdischen politischen Parteien. Allerdings ist das System im Iran so kompliziert, dass man nicht vorhersagen kann, welche Gruppe am meisten gefährdet ist; dies ändert sich auch ständig. Des Weiteren hat der iranische Geheimdienst eine starke Präsenz in der kurdischen Region im Nordirak.
Nach einer weiteren Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Iran: Gefährdung eines Mitglieds der KDP bei der Rückkehr in den Iran, S. 2 ff) werden kurdische Oppositionsgruppen, welche separatistischer Aspirationen verdächtigt werden, im Iran brutal unterdrückt, sie können dort nicht legal tätig sein. Diese Mitglieder werden oftmals unter falschem Vorwand verhaftet und unfairen Gerichtsverfahren unterworfen sowie zu schweren Strafen verurteilt. Die iranische Regierung duldet keinerlei Aktivitäten im Zusammenhang mit kurdischen politischen Parteien im Iran. Im Iran müssen auch Unterstützer mit niedrigem Profil mit Haft und Folter rechnen. Des Weiteren sind Rückkehrer aus dem Irak, die dort in Kontakt mit kurdischen Exilparteien gestanden haben, Gefährdungen ausgesetzt. Der iranische Geheimdienst zeigt in den kurdischen Gebieten im Irak eine starke Präsenz und pflegt gute Beziehungen zur irakischen Zentralregierung sowie den irakisch kurdischen Parteien. Iranische Behörden überprüften Rückkehrende, ob sie im Irak gelebt hätten. Alle Personen aus diesem Bereich, insbesondere diejenigen, die sich lange in den kurdischen Gebieten aufgehalten habe, seien für die Behörden verdächtigt. Sie würden von den iranischen Behörden einer genauen Überprüfung unterzogen, um ihre dortigen Aktivitäten herauszufinden. Wenn eine Person in Kontakt mit der KDPI oder anderen politischen Parteien war, ist davon auszugehen, dass sie in Schwierigkeiten gerät.
Der Danish Immigration Service (vgl. Country Report, Iranian Kurds, Consequences of political activities in Iran an KRI, Februar 2020, S. 19 ff.) berichtet in diesem Zusammenhang, dass in Einzelfällen bereits einfache Aktivitäten, wie die Teilnahme an Demonstrationen oder an Streiks ausreichen würden, um der Zusammenarbeit mit der Opposition beschuldigt zu werden. Die konkrete Behandlung variiere jedoch von Fall zu Fall und hänge unter anderem vom zuständigen Beamten ab.
Zusammenfassend könne man sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, Ziel politischer Verfolgungsmaßnahmen zu werden, grundsätzlich mit dem Grad des oppositionellen Engagements, insbesondere in Kurdengebieten, zunimmt.
In den vorliegenden Lageberichten des Auswärtigen Amtes (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 26. Februar 2020, S. 12; vom 8. Dezember 2016, Stand: Oktober 2016, S. 9 sowie vom 9. Dezember 2015, Stand: November 2015, S. 14) ist vermerkt, dass die Mitgliedschaft in verbotenen politischen Gruppierungen zu staatlichen Zwangsmaßnahmen führen kann. Zu diesen verbotenen Organisationen zählen unter anderem die Kurdenparteien (z.B. DPIK, Komalah). Den Lageberichten ist weiter zu entnehmen, dass es zunehmend Hinweise auf Diskriminierung von im Iran lebenden Kurden hinsichtlich ihrer kulturellen Eigenständigkeit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit in den Fällen gibt, in denen die Zentralregierung separatistische Tendenzen vermutet. Einzelne kurdische Gruppierungen, denen die Regierung separatistische Tendenzen unterstellt, stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte. Hierzu zählen insbesondere die marxistische Komalah-Partei und die Democratic Party of Iranian Kurdistan (DPIK bzw. DPKI). Diese werden von der Regierung als konterrevolutionäre und terroristische Gruppen betrachtet, die vom Irak aus das Regime bekämpfen. Festnahmen und Verurteilungen zu hohen Gefängnisstrafen einschließlich der Todesstrafe gegen mutmaßliche radikale Mitglieder kommen weiterhin vor. Weiter ist zu den exilpolitischen Tätigkeiten ausgeführt, dass davon auszugehen ist, dass die iranischen Stellen die im Ausland tätigen Oppositionsgruppen genau beobachten. Einer realen Gefährdung bei einer Rückkehr in den Iran setzen sich daher solche führenden Persönlichkeiten der Oppositionsgruppen aus, die öffentlich und öffentlichkeitswirksam (z.B. Redner, Verantwortliche oder leitende Funktionsträger) in Erscheinung treten und zum Sturz des Regimes aufrufen. Im Ausland lebende prominente Vertreter im Iran verbotener Oppositionsgruppen haben im Fall einer Rückführung mit sofortiger Inhaftierung zu rechnen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 9. Dezember 2015, Stand: November 2015, S. 24).
Das Österreichische Bundesamt für Fremdenwesen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Iran vom 14. Juli 2019, S. 13 f., 18 ff., 60 f.) führt aus, dass kurdische Gruppierungen aufgrund der unterstellten separatistischen Tendenzen im Zentrum der Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte stünden. Des Weiteren sei zu beobachten, dass Teilnehmer an irankritischen Demonstrationen bei späteren Besuchen im Iran seitens des Sicherheitsdienstes zu ihren Aktionen befragt würden. Eine Quelle berichte zwar, dass sie noch nie davon gehört hätte, dass eine Person nur aufgrund einer einzigen politischen Aktivität auf niedrigem Niveau, wie z.B. dem Verteilen von Flyern, angeklagt wurde. Andererseits sei es aber laut einer anderen Quelle schon möglich, dass man inhaftiert werde, wenn man mit politischem Material, oder beim Anbringen von politischen Slogans an Wänden erwischt werde. Es sei jedoch festzustellen, dass vor allem Aktivitäten im Fokus stünden, die als Angriff auf das politische System empfunden würden und die islamischen Grundsätze in Frage stellten.
Ob eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im Falle der Aktivität für kurdische Oppositionsgruppen vorliegt, ist damit nach den konkret-individuellen Gesamtumständen des Einzelfalles zu beurteilen. Ab welcher Intensität der politischen Aktivitäten es zu Verfolgungshandlungen kommt, lässt sich dabei nicht allgemeingültig beantworten. Die passive Mitgliedschaft oder die vereinzelte Teilnahme an Demonstrationen allein genügen in der Regel jedoch nicht. Insoweit erscheint es lebensfremd, dass jede Person, die an Veranstaltungen der kurdischen (Exil-)Opposition teilnimmt, als möglicher Regimekritiker erkannt und verfolgt wird. Bei einfachen Mitgliedern und untergeordneten Tätigkeiten für kurdische (exil-)oppositionelle Gruppen muss für die Begründung einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit jedenfalls hinzutreten, dass diese Mitglieder oder Personen erkennbar und identifizierbar derart in die Öffentlichkeit getreten sind, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von den iranischen Behörden und Sicherheitskräften erkannt und identifiziert worden sind und zudem wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates besteht. Maßgeblich ist, ob die Aktivitäten den jeweiligen Asylsuchenden aus der Masse der mit dem Regime im Teheran Unzufriedenen herausheben und ihn als ernsthaften (und gefährlichen) Regimegegner erscheinen lassen. Denn es ist auch dem iranischen Regime bekannt, dass eine große Zahl iranischer Asylbewerber aus wirtschaftlichen oder anderen unpolitischen Gründen versucht, im westlichen Ausland und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland dauernden Aufenthalt zu finden, und hierzu Asylverfahren betreibt, in deren Verlauf eine oppositionelle Betätigung geltend gemacht und dementsprechend auch ausgeübt wird (vgl. auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 9. August 2012 – 14 ZB 12.30263 –, juris Rn. 5; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6. August 2010 – 13 A 829/09.A –, juris Rn. 5 f.). Lediglich im Falle hervorgehobener Funktionäre dürfte danach regelhaft von einer belastbaren Verfolgungsgefahr auszugehen sein (vgl. auch Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 23. November 2005 – 11 UE 3311/04.A –, juris Rn. 48).
Vor diesem Hintergrund besteht für den Kläger eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung bei einer Rückkehr in den Iran. Denn nach dem persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung hat der zur Entscheidung berufene Einzelrichter keine daran Zweifel, dass der Kläger spätestens seit 2008 durch seine Aktivitäten erkennbar und identifizierbar derart in die Öffentlichkeit getreten ist, dass er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von den iranischen Behörden und Sicherheitskräften erkannt und identifiziert worden ist und zudem wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranisches Staates besteht. Der Kläger vermochte das Gericht durch seine glaubhaften, auf zahlreiche Belege gestützten Ausführungen von seinen (exil-)politischen Aktivitäten zu überzeugen.
Bereits die Kindheit des Klägers war aufgrund der Geschehnisse innerhalb Familie für das spätere Engagement von großer Bedeutung. Aufgrund der kurdischen Volkszugehörigkeit habe sich die Familie bereits vor der Revolution 1979 politisch engagiert und das Engagement später fortgesetzt. Viele Mitglieder der Familie hätten aufgrund ihres Engagements ihr Leben verloren oder seien in Haft gefoltert worden. Eine prägende Rolle für den Kläger habe vor allem der Onkel mütterlicherseits gehabt. Dieser sei Kommandant der Luftwaffe vor der Revolution gewesen. Er habe sich geweigert, kurdische Gebiete zu bombardieren und sei daraufhin in Haft genommen worden. Wegen seines Engagements für das kurdische Volk während der Chomeini Zeit habe man ihn dann 1980 umgebracht. Die Familie sei auch für einige Jahre zwangsumgesiedelt worden, um sie von der politischen Umgebung abzuschneiden. Dieser familiäre Hintergrund habe dazu geführt, dass sich der Kläger zu Beginn des Endes seiner Gymnasialzeit mehr informiert habe, um sein Engagement in der ersten Zeit der Universität zu beginnen. Im Jahr 2005 sei er schließlich Mitglied in der Demokratischen Partei Kurdistan – Iran geworden. Er habe mehr Verantwortung übernehmen wollen und sei bereit gewesen, sich mehr für das kurdische Volk einzusetzen. In dieser Zeit seien die Parteimitglieder B... M... und O... A... in O...getötet worden. Der Kläger habe dann seitens der Partei deren Aufgaben übertragen bekommen. So sei er für eine kleinere Organisationszelle im Raum Mokrian, West-Aserbaidschan zuständig gewesen. Sein Engagement bestand unter anderem darin, Parolen an die Wände zu schreiben, CDs und Flugblätter zu verteilen und so die Öffentlichkeit aufzuklären. Im Jahr 2008 habe er sich mit anderen Genossen in einem Koordinationskomitee zur Errichtung unabhängiger NGOs für Arbeiter zusammengeschlossen, um den Tag der Arbeit zu organisieren. Im Vorfeld der Veranstaltung sei er zusammen mit H... A... und N... M... A... vom Geheimdienst (Vevak) festgenommen worden. Für den Kläger sei es bereits das zweite Mal in Haft gewesen. 2005 sei er für drei Wochen inhaftiert gewesen. In der Haft sei er drangsaliert und misshandelt worden. Im Jahr 2008 habe er die Haftzeit von etwa einer Woche in einer Einzelzelle verbracht, die nur 1,5 x 2,0 m klein war. Eine Decke für den Boden habe er nicht gehabt. Auch habe er nur mittags Essen erhalten. Abends sei er zur Toilette geführt worden. Die Soldaten, die im Sicherheitsbereich eingesetzt worden seien, hätten ihn beschimpft und schlecht behandelt. In Haft sei er auch verhört worden. So habe man von ihm wissen wollen, ob er Kontakt zu kommunistischen Organisationen oder Parteien habe, warum er sich für Arbeiter einsetze und woher das Geld für die geplanten Veranstaltungen oder Organisationen stamme. Trotz Folter habe er alle Vorwürfe zurückgewiesen und auch keine Namen genannt. Nach Hinterlegung einer Kaution sei er bis zu der geplanten Verhandlung vor dem Revolutionsgericht freigekommen. Nach der Entlassung aus der Haft sei er ständig angerufen worden und habe auch zum Geheimdienst gehen müssen, um Fragen zu beantworten. Trotz der Beobachtung durch den Geheimdienst habe er sich weiter politisch engagiert. So habe er einen Generalstreik in Gedenken an den in Wien am 13. Juli 1989 getöteten Vorsitzenden der Demokratischen Partei Dr. Ghassemlou mitorganisiert. Anschließend sei er in das Dorf seines Onkels mütterlicherseits untergetaucht. Zu dieser Zeit sei auch eine Ladung für das Gerichtsverfahren gegen ihn bei seinen Eltern eingegangen. Der Geheimdienst habe auch sein Elternhaus durchsucht, wo er CDs und Flyer der Partei lagerte. Seine Familie habe ihm berichtet, dass sie seinen Vater zum Verhör mitgenommen haben. Am 18. September 2008 sei er der Aufforderung der Partei, er solle den Iran verlassen und in den Nordirak gehen, nachgekommen. Zuvor seien Personen festgenommen worden, die unter Folter den Namen des Klägers verraten und über diesen gesprochen haben. Da er mit vielen verdeckten Zellen Kontakt gehabt habe, hätte er für die Untergrundorganisation eine Gefahr darstellen können.
Im Nordirak führte der Kläger seine Aktivitäten für die Demokratische Partei Kurdistan – Iran fort, indem er nunmehr öffentlich und medienwirksam tätig wurde. Die hierzu eingereichten und in der mündlichen Verhandlung teilweise in Augenschein genommenen Quellen belegen, dass er unter anderem für die Hauptmedienorgane der Partei tätig wurde. Der Kläger führte hierzu aus, dass er Mitglied im Schreibgremium sowie Mitglied der Hauptredaktion für den persischen Bereich der Zeitung „Kurdistan“ gewesen sei. Ferner sei er Teil der Hauptredaktion für die Produktion von TV Beiträgen auf dem TV Sender „K... C...“, dem Propagandakanal der Partei, gewesen. Er sei unter anderem Leiter der Sendung „B...“ gewesen, in der er sich kritisch mit den Nachrichten auseinandersetzte, die von iranischen Medien veröffentlicht wurden. Überwiegend habe es sich dabei um Nachrichten zu den Themenschwerpunkten Frauenrechte im Iran, Kurdenproblematik, staatliche Repressalien gegenüber der Bevölkerung und Menschenrechtsverletzungen des iranischen Regimes gehandelt. Darüber hinaus habe er die Sendung „B... R...“ moderiert, die wöchentlich auf dem „K... C...“ ausgestrahlt wurde. Bei der Sendung handele es sich um eine politische Diskussionssendung, die sich thematisch vor allem mit der Kurdenproblematik im Iran befasse. Neben der Arbeit für den „K... C...“ habe der Kläger Artikel in der Zeitung „Kurdistan“ verfasst, die jede zweite Woche erschienen sei. Die Zeitung enthalte neben einem kurdischen- auch einen persischsprachigen Teil. Thematisch habe sich der Kläger vor allem mit den Kurden im Iran befasst.
Nach dem Austritt aus der Partei im Jahr 2012 verließ der Kläger den Irak und setzte sein Engagement als Journalist zunächst in der Türkei, später in Syrien fort. Der Grund für den Austritt aus der Partei habe darin gelegen, dass die ethischen und ideologischen Prinzipien der Partei aus Sicher des Klägers nicht mehr eingehalten worden seien. Er habe sich zusammen mit anderen Mitgliedern zu einer Fraktion zusammengeschlossen, um die innerparteiliche Demokratie hochzuhalten. Doch die Wirklichkeit habe nach 2010 und 2011 anders ausgesehen: Die politische Unabhängigkeit der Partei habe in den Händen der Familie B... gelegen, die im Nordirak in einer feudalen Familienstruktur herrsche und ihren Machtanspruch auch in der Partei durchgesetzt habe. Der Kläger habe gesehen, wie seine Ideale, und letztlich auch die von Herrn Dr. Ghassemlou, zerredet worden seien. So sei etwa von der Familie B... ein Wirtschaftssystem präferiert worden, das auf der Abhängigkeit der Bourgeoisie aus dem Ausland fußte. Dies widersprach der Vorstellung des Klägers, der sich für ein sozialdemokratisches bzw. sozialistisches Wirtschaftssystem eingesetzt habe. Dass er sein Engagement im Nordirak auch außerhalb der Partei hätte fortsetzen können, sei ohne die Genehmigung der Familie B... nicht möglich gewesen. Daher sei er zunächst in die Türkei und später nach Syrien gegangen. In der Türkei habe mit der prokurdischen BDP, die später aufgelöst worden sei, zusammengearbeitet. So habe er zum Beispiel in dem Radiosender „Dünya“ gearbeitet, der von der Partei unterstützt worden sei. Der Radiosender habe mehrere Stunden am Tag auf Kurdisch gesendet. Der Kläger sei für den kurdischen Teil der Sendung verantwortlich gewesen und habe die Sendung auch moderiert. In der Türkei habe er ferner auch für zwei Zeitungen gearbeitet. Viele seiner türkischen Journalistenkollegen seien in dieser Zeit von der Polizei verhaftet oder sogar getötet worden. Vor diesem Hintergrund zog es ihn nach Syrien, wo er unter anderem am 3. August 2014 den Angriff des IS auf die Yeziden in Shingal miterlebt habe.
In Deutschland setzte der Kläger sein politisches Engagement fort, wie die in der mündlichen Verhandlung in Augenschein genommenen Videos belegen. Im Mai 2017 nahm der Kläger an einer Demonstration anlässlich der Präsidentschaftswahl im Iran statt. Zusammen mit anderen Teilnehmern befand sich der Kläger vor der Botschaft der Islamischen Republik in Berlin und skandierte die Worte „Mykonos“ in Anspielung auf den Anschlag am 17. September 1992 auf drei Anführer der Demokratischen Partei durch Sicherheitskräfte des iranischen Regimes. Im September 2017 nahm der Kläger an einer Veranstaltung anlässlich der Verhaftung des kurdischen Aktivisten Ramin Panahi teil. Die Kundgebung fand auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburg Tor statt. Der Kläger hielt vor den Teilnehmern der Veranstaltung eine Rede, in der es unter anderem um die Unterdrückung politischer Gefangener und die Unterdrückung des kurdischen Volkes ging. Neben weiteren Veranstaltungen nahm der Kläger auch am 11. August 2018 an einer Veranstaltung auf dem Alexanderplatz zu Ehren von Abdullah Öcalan teil. Auf dieser Veranstaltung hielt der Kläger eine Rede, in der er zunächst auf Öcalan einging, den er im Verlauf zu Nelson Mandela in Beziehung setze. Aus Sicht des Klägers sei eine solche Rede im Iran nicht möglich gewesen und definitiv bestraft worden, da die Bücher Öcalans verboten seien. Ferner gebe es seit 2004 eine verbotene Partei im Iran (PJAK), die die Gedanken Öcalans aufgreife. Neben der Teilnahme an Demonstrationen erhalte der Kläger auch von verschiedenen ausländischen TV-Sendern Auftrittsanfragen, die er jedoch aufgrund seiner Arbeit und seines Status nicht habe annehmen können. Zuletzt habe der Kläger an einer Demonstration anlässlich des Abschusses eines ukrainischen Passagierflugzeuges Anfang 2020 teilgenommen. Das Flugzeug sei von der Sepah Pasdaran über dem iranischen Luftraum abgeschossen worden, wobei 51 Menschen umgekommen seien.
In der Gesamtschau der politischen Aktivitäten des Klägers innerhalb und außerhalb des Irans, ist das Gericht davon überzeugt, dass eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit besteht. Insbesondere durch die Arbeit für die Hauptmedienorgane der Demokratischen Partei im Irak in der Zeit von 2008 bis 2012 und durch sein öffentliches Engagement in Deutschland hat sich der Kläger gegenüber dem iranischen Regime als Regimekritiker identifizierbar gemacht. Aufgrund der starken Präsenz des iranischen Geheimdienstes in der kurdischen Region im Nordirak ist davon auszugehen, dass der Kläger durch seine Aktivitäten von den iranischen Sicherheitsbehörden erkannt und identifiziert worden ist, sodass er bei einer Rückkehr in den Iran mit Verfolgung rechnen muss. Dies gilt umso mehr, als der Kläger bereits vor seiner Flucht im Jahr 2008 in Kontakt mit Verfolgungsmaßnahmen seitens des Geheimdienstes (Vevak) gekommen ist, die zur Identifizierung des Klägers führten. Dass der Kläger 2012 aus der Demokratischen Partei Kurdistan – Iran ausgetreten ist, steht einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht entgegen, denn bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3 Abs. 2 AsylG). Überdies hat sich die politische Überzeugung des Klägers mit dem Austritt aus der Partei nicht verändert. Darüber hinaus ist in der mündlichen Verhandlung anhand der in Augenschein genommenen Videos und der Ausführungen des Klägers deutlich geworden, mit welchem Ziel der Kläger sich engagiert: Die Lösung für Kurdistan sei das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes, sodass es einen unabhängigen Staat Kurdistan gebe. Diese klare Zielsetzung macht den Kläger aus Sicht des iranischen Staates zu einem ernsthaften und gefährlichen Regimegegner und begründet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verfolgungsinteresse.
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat zur Folge, dass auch die Nummern 3. bis 6. des angefochtenen Bescheides aufzuheben waren. Einer Entscheidung über die Hilfsanträge bedarf es nicht. Insbesondere hat die Abschiebungsandrohung keinen Bestand, da eine solche nach § 34 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 AsylG nur erlassen werden darf, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).