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Entscheidung 412 Cs 271 Js 18848/20 (124/20)


Metadaten

Gericht AG Frankfurt (Oder) Entscheidungsdatum 06.05.2021
Aktenzeichen 412 Cs 271 Js 18848/20 (124/20) ECLI ECLI:DE:AGFF:2021:0506.412CS271JS18848.2.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Leitsatz

1. Die Strafvorschrift des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (passloser Aufenthalt) ist, wie auch die Strafnormen des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG), aufgrund des Vorrang des Rückführungsverfahrens gemäß der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008, ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98) europarechtskonform einschränkend auszulegen.

2. Die europarechtskonforme Auslegung führt in Fällen, in denen unmittelbar nach der Einreise ein Asylgesuch angebracht wird, in aller Regel zur Annahme eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes.

Tenor

Die Angeklagte wird freigesprochen.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten.

Gründe

I.

Die nicht vorbestrafte und ledige Angeklagte stammt aus Kamerun, wo sie 1986 in Baham geboren wurde. Sie meldete sich mit ihrem 2019 geborenen Sohn … am 16.06.2020 gegen 13.50 Uhr im Hauptbahnhof in Berlin bei der Bundespolizei als Asylsuchende, einen Pass, einen Passersatz, einen Ausweisersatz oder ein anderes Identitätsdokumente führte sie nicht bei sich, ein Aufenthaltstitel oder eine Duldung war ihr bis zu diesem Zeitpunkt nicht erteilt.

Zur Begründung Ihres Asylersuchens führte die Angeklagte insbesondere aus, dass sie Kamerun am 11.03.2018 verlassen habe, auf dem Landweg nach Marokko, wo sie zehn Monate gearbeitet habe, und von dort mit dem Schlauchboot nach Spanien gelangt sei; von dort sei sie über Frankreich, wo sie sich ungefähr zwei Monate aufgehalten habe, am Abend des 15.06.2020 mit dem Auto nach Deutschland eingereist. Als Fluchtgründe gab sie an, Probleme in Kamerun mit der Polizei und in Niger mit der Ehefrau eines muslimischen Mannes gehabt zu haben. Die Angeklagte meldete sich sodann am 02.07.2020 beim Landesamt für Flüchtlinge in Berlin und wurde nach Brandenburg verteilt, wo sie sich am 07.07.2020 in Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt meldete und am 10.07.2020 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag stellte; ihr wurde eine Aufenthaltsgestattung als Dokument erteilt. Sie hat gegenüber dem Bundesamt insbesondere angegeben, sich zwei Monate in Spanien und drei Monate in Frankreich aufgehalten zu haben.

Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 20.07.2020 den Asylantrag der Angeklagten als unzulässig ab, verneinte das Vorliegen von Abschiebungshindernissen und ordnete unter Bezugnahme auf ein Übernahmeersuchen an Spanien ihre Abschiebung nach Spanien an. Ihr wurde in der Folge am 31.08.2020 eine Duldung erteilt mit dem Zusatz „Die Duldung erlischt mit der formlosen Bekanntgabe des Abschiebungstermins.“

Das Bundesamt hob seinen genannten Ablehnungsbescheid mit weiterem Bescheid vom 02.03.2021 auf und führte zur Begründung aus, dass auf Grund des Ablaufs der Überstellungsfrist die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf Deutschland übergegangen sei; das Asylverfahren wird als nationales Verfahren fortgeführt.

Die Staatsanwaltschaft wirft der Angeklagten mit dem Antrag auf Erlass eines Strafbefehl vom 07.09.2020 vor, in der Zeit von 15. bis 16.06.2020 in Wuppertal, Berlin und anderen Orten durch dieselbe Handlung sich entgegen § 3 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in Verbindung mit § 48 Abs. 2 AufenthG im Bundesgebiet aufgehalten zu haben und entgegen § 14 Abs.1 Nr. 1 AufenthG in das Bundesgebiet eingereist zu sein; Vergehen nach strafbar nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG, § 52 des Strafgesetzbuches.

Der Angeklagten wird im Einzelnen Folgendes zur Last gelegt: „Sie fuhren am 15.06.2020 mit Ihrem Kleinstkind … in einem Straßenkraftwagen über die französisch-deutsche Staatsgrenze und am 16.06.2020 mit einem Personenzug der Bahn von Wuppertal-Hauptbahnhof nach Berlin-Hauptbahnhof, ohne durch Reisepass und Aufenthaltstitel amtlich berechtigt gewesen zu sein, nach Deutschland zu kommen und zu verweilen oder sich in der Bundesrepublik Deutschland zu bewegen. Sie verletzten die für Sie als kamerunische Staatsangehörige geltenden Bestimmungen über die Einreise und den Aufenthalt bewusst, um sich und Ihr Kind durch die deutschen Behörden und Institutionen dauerhaft versorgen zu lassen.“

Die Angeklagte hat in einer polizeilichen Vernehmung den zu ihrer Reise von Kamerun nach Deutschland im zitierten Anklagesatz dargestellten Sachverhalt geschildert. In der Hauptverhandlung hat sie sich entsprechend eingelassen. Sie trägt ergänzend vor, dass ihr sei nicht bewusst gewesen, Unrecht zu tun.

Die Feststellung beruhen auf den Angaben der Angeklagten und den Aussage der Polizeibeamten …, die das Asylgesuch der Angeklagten in Berlin entgegengenommen haben sowie den Unterlagen zum Asylverfahren der Angeklagten.

II.

Die Angeklagte ist im Ergebnis der Hauptverhandlung aus rechtlichen Gründen freizusprechen.

1. Keine Strafbarkeit wegen unerlaubter Einreise

Gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG (unerlaubte Einreise) wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer entgegen § 14 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 in das Bundesgebiet einreist. Die Einreise eines Ausländers in das Bundesgebiet ist nach § 14 Abs. 1 AufenthG unter anderem unerlaubt, wenn er (Nummer 1) einen erforderlichen Pass oder Passersatz gemäß § 3 Abs. 1 nicht besitzt, oder (Nummer 2) den nach § 4 erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt.

a) Die Angeklagte erfüllte den objektiven Tatbestand der Vorschrift, denn sie besaß bei ihrer Einreise nach Deutschland weder den erforderlichen Pass oder Passersatz noch den erforderlichen Aufenthaltstitel.

aa) Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AufenthG dürfen Ausländer nur in das Bundesgebiet einreisen oder sich darin aufhalten, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz besitzen, sofern sie von der Passpflicht nicht durch Rechtsverordnung befreit sind.

Die einzige Ausnahme der in Absatz 1 Satz 1 vorgesehenen Befreiung von der Passpflicht durch Rechtsverordnung sieht § 14 der Aufenthaltsverordnung (AufenthV) zur Befreiung von der Passpflicht in Rettungsfällen vor (vergleiche BeckOK AuslR/Maor, 27. Edition, Stand: 01.10.2020, AufenthG § 3 Rn. 31, zitiert nach beck-online), der in vorliegender Sache nicht einschlägig ist.

bb) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedürfen Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet grundsätzlich eines Aufenthaltstitels. Etwas anderes gilt nur, sofern nicht durch das Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist. Für eine Befreiung von der Verpflichtung zum Besitz eines Aufenthaltstitels kommen als Rechtsgrundlagen Artikel 20 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) in Verbindung mit § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, § 15 AufenthV, Artikel 21 SDÜ in Verbindung mit § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, § 15 AufenthV sowie § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit §§ 16 ff. AufenthV in Betracht (vergleiche Landgericht Hof, Urteil vom 20.04.2017, 5 KLs 354 Js 1442/16, Rn. 79, zitiert nach juris).

Hiervon ausgehend war die Angeklagte nicht von der Verpflichtung zum Besitz eines Aufenthaltstitels befreit; insbesondere waren nach der Gemeinsamen Liste der Drittländer, deren Angehörige in allen an die Verordnung (EG) Nr. 539/2001 gebundenen Mitgliedstaaten visumpflichtig sind, kamerunische Staatsangehörige nicht von dieser Verpflichtung befreit.

b) Die Anforderungen des subjektiven Tatbestandes sind ebenfalls erfüllt.

Erforderlich ist als Voraussetzung der Verwirklichung des Tatbestandes für alle hier zu erörternden Straftatbestände des § 95 Abs. 1 AufenthG vorsätzliches Handeln, wobei bedingter Vorsatz ausreichend ist. Insbesondere ist Kenntnis des Ausländers von der Passpflicht oder der Erforderlichkeit eines Aufenthaltstitels notwendig (vergleiche BeckOK AuslR/Hohoff, 29. Edition, Stand 01.04.2021, AufenthG § 95 Rn. 35, zitiert nach beck-online).

Ausgehend von dem Umstand, dass sich der jeweilige strafrechtliche Gesamttatbestand aus strafrechtlichem Blankett und außerstrafrechtlicher blankettausfüllender Norm ergibt, gilt, dass sich der Vorsatz auf die Elemente des Gesamttatbestandes beziehen muss. Damit muss der Vorsatz, ebenso wie bei normativen Tatbestandsmerkmalen, auch (außerstraf-)rechtliche Wertungen umfassen. Für diese Auffassung sprechen der Wortlaut der Blankettstraftatbestände, die die außerstrafrechtliche Vorschrift auf Tatbestandsebene inkorporieren, und die dem zugrundeliegende Gesetzestechnik (vergleiche BeckOK AuslR/Hohoff, 29. Edition, Stand 01.04.2021, AufenthG § 95 Rn. 25, zitiert nach beck-online).

Nach diesen Kriterien handelte die Angeklagte vorsätzlich. Ihr war bewusst, dass sie kein Personaldokument und keinen Aufenthaltstitel, etwa in Form eines Visums, besaß. In Ansehung der Umstände ihrer Einreise ist ferner davon auszugehen, dass ihr die Wertungen der dargestellten Einreiseerfordernisse nach dem Sinngehalt der Vorschriften bewusst waren, weil davon auszugehen ist, dass ihr bewusst war, dass sie nicht ohne Dokumente legal nach Deutschland einreisen durfte. Das alles genügt in vorliegendem Zusammenhang für den Vorsatz.

c) Gleichwohl ist die Angeklagte bei europarechtskonformer Einschränkung der in Rede stehenden Strafvorschrift wegen eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes nicht wegen unerlaubter Einreise zu bestrafen.

Jedenfalls die Strafnormen des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG) sind aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Vorrang des Rückführungsverfahrens gemäß der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008, ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008, S. 98) europarechtskonform auszulegen (vergleiche BGH, Urteil vom 24.06.2020, 5 StR 671/19, Rn. 27, zitiert nach juris).

Um den Vorrang des Rückführungsverfahrens auch praktisch wirksam zu sichern, sollen gegen Drittstaatsangehörige, die sich illegal in einem Mitgliedsstaat aufhalten oder dort illegal eingereist sind, für diesen illegalen Aufenthalt und die illegale Einreise keine freiheitsentziehenden Sanktionen verhängt und vollstreckt werden, weil diese geeignet sind, das Rückführungsverfahren zu verzögern. Dies hat der Europäische Gerichtshof selbst dann angenommen, wenn der Aufenthalt des Ausländers den Behörden bis dahin unbekannt war und deshalb bis zur Ergreifung kein Rückführungsverfahren vorgenommen werden konnte. Die Verhängung einer Geldstrafe ist nur gestattet, wenn weder die Durchführung des Strafverfahrens das Rückführungsverfahren verzögert noch eine Umwandlung der Geldstrafe in eine freiheitsentziehende Sanktion möglich ist (vergleiche BGH, Urteil vom 24.06.2020, 5 StR 671/19, Rn. 28, juris).

Da das deutsche Recht bei Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe regelmäßig die Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe vorsieht (§ 43 des Strafgesetzbuches), ergibt die richtlinienkonforme Auslegung jedenfalls von § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG, dass gegen illegal einreisende und hier aufhältige Drittausländer wegen dieser Straftaten weder Freiheits- noch Ersatzfreiheitsstrafen verhängt werden dürfen, sofern ein Rückführungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Für die genannten Straftaten darf demnach lediglich die „geringstmögliche“, in keinem Fall freiheitsentziehende Sanktion verhängt werden (vergleiche dazu BGH, Urteil vom 24.06.2020, 5 StR 671/19, Rn. 31, juris)

Unionsrechtlich ist es auch mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH und die darin angestellten Erwägungen, die sich auf einer praktischen Ebene bewegen, allerdings nicht geboten, den Vorrang des Rückführungsverfahrens dadurch zu erreichen, dass schon die Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit des illegalen Aufenthalts verneint werden; vielmehr kann aus diesem Vorrang allenfalls die persönliche Straflosigkeit der illegal Aufhältigen bzw. Eingereisten oder ein diesbezügliches (partielles) Bestrafungsverbot hergeleitet werden (vergleiche BGH, Beschluss vom 08.03.2017, 5 StR 333/16, NJW 2017, 1624, 1625, zitiert nach beck-online).

Dies geschieht nach Ansicht des erkennenden Gerichts durch die Annahme eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes (vergleiche dazu BGH, Urteil vom 04.05.2017, 3 StR 69/17, Rn. 21, zitiert nach juris).

Schuldspruch und Kostentragungspflicht als „Sanktion“ gegen migrationsstrafrechtliche Vorschriften während des Rückführungsverfahrens unterlaufen dessen rechtspolitischen und normativen Anwendungsvorrang. Die Antwort auf unerlaubte Einreise und einen solchen Aufenthalt soll vorrangig das Verwaltungsrecht mit Anwendung des Rückführungsverfahrens sein. Es soll kein Nebeneinander von Verwaltungsrecht und Migrationsstrafrecht geben. Dem dient die dargestellte materiell-rechtliche Lösung (vergleiche dazu Kretschmer, Anmerkung BGH, Urteil vom 24.6.2020, 5 StR 671/19, NJW 2020, 2819, zitiert nach beck-online). Ein bloßes Absehen von Strafe bei gleichzeitigem Schuldspruch (vergleiche dazu BGH, Urteil vom 24.06.2020, 5 StR 671/19, Rn. 31, juris) trägt dem vorstehend erläuterten Gehalt der Rückführungsrichtlinie nicht hinreichend Rechnung.

Die dargestellten Kriterien sind im Fall der Angeklagten einschlägig. Dass gegen sie ein Rückführungsverfahren möglich war und auch durchgeführt wurde, folgt schon daraus, dass das Bundesamt mit dem bereits erläuterten Bescheid vom 20.07.2020 die Rückführung der Angeklagten nach Spanien anordnete.

2. Keine Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts

Aus dem bereits dargestellten Strafrahmen wird nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (unerlaubter Aufenthalt) bestraft, wer ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Absatz 1 Satz 1 sich im Bundesgebiet aufhält, wenn (Buchstabe a) er vollziehbar ausreisepflichtig ist, (Buchstabe b) ihm eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist und (Buchstabe c) dessen Abschiebung nicht ausgesetzt ist. Ausländer bedürfen nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12.09.1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (BGBl. 1964 II S. 509) (Assoziationsabkommen EWG/Türkei) ein Aufenthaltsrecht besteht.

a) Die Angeklagte war, was zur Erfüllung des objektiven Tatbestandes der Strafvorschrift genügt, aufgrund einer unerlaubten Einreise (zunächst) bis zu ihrem Asylgesuch am 15.06.2020 vollziehbar ausreisepflichtig (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr.1 AufenthG). Sie handelte, wie sich der Sache nach aus den Ausführungen zur Strafbarkeit wegen unerlaubter Einreise ergibt, auch vorsätzlich.

b) Gleichwohl hat sie sich nicht nach der in Rede stehenden Vorschrift strafbar gemacht.

Jedenfalls die Strafnormen des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG) sind, wie bereits dargestellt, aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Vorrang des Rückführungsverfahrens gemäß der Rückführungsrichtlinie europarechtskonform auszulegen. Daraus folgt, dass durch die Annahme eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes eine Strafbarkeit entfällt.

3. Keine Strafbarkeit wegen passlosen Aufenthalts

Aus dem bereits dargestellten Strafrahmen wird nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (passloser Aufenthalt) bestraft, wer sich entgegen § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 48 Abs. 2 sich im Bundesgebiet aufhält. Ausländer dürfen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nur in das Bundesgebiet einreisen oder sich darin aufhalten, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz besitzen, sofern sie von der Passpflicht nicht durch Rechtsverordnung befreit sind. Für den Aufenthalt im Bundesgebiet erfüllen sie nach § 3 Abs. 1 Satz 2 AufenthG die Passpflicht auch durch den Besitz eines Ausweisersatzes (§ 48 Abs. 2).

a) Der objektive und der subjektive Tatbestand dieser Strafvorschrift sind erfüllt.

aa) Ein passloser und unerlaubter Aufenthalt der Angeklagten im Sinne der erläuterten Vorschrift war ab der Einreise am 15.06.2020 bis zur Meldung der Angeklagten bei der Bundespolizei in Berlin am 16.06.2020 gegeben und endete mit ihrer Vorsprache bei dieser Stelle.

Dass insoweit der Aufenthalt am 16.06.2020 mit der Vorsprache bei der Polizei legal geworden ist, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) ist einem Ausländer, der um Asyl nachsucht, zur Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt im Bundesgebiet ab Ausstellung des Ankunftsnachweises gemäß § 63a Abs. 1 AsylG gestattet. Wird kein Ankunftsnachweis ausgestellt, entsteht die Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 Abs. 1 S. 3 AsylG mit der Stellung des Asylantrags. Asylbewerbern darf bis zur Klärung der Asylberechtigung der Aufenthalt in der Bundesrepublik nicht verwehrt werden; sie sind mit Blick auf § 64 Abs. 1 AsylG von der Passpflicht befreit (vergleiche Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 16.10.2019, (1) 53 Ss 107/19 (69/19), Rn. 17, zitiert nach juris). Bereits das Nachsuchen um Asyl bei einer Polizeidienststelle führt in Fällen der vorliegenden Art zum Wegfall der hier in Rede stehenden Strafbarkeit; die genannten Vorschriften des Asylgesetzes führen bereits ab diesem Zeitpunkt zur Straflosigkeit, sie entfalten für den Zeitraum bis zur förmlichen Asylantragstellung eine Vorwirkung.

bb) Die Angeklagte handelte, wie sich der Sache nach aus den Ausführungen zur Strafbarkeit wegen unerlaubter Einreise ergibt, auch vorsätzlich.

b) Indessen hat die Angeklagte sich bei europarechtskonformer Einschränkung der in Rede stehenden Strafvorschrift wegen eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes nicht nach der in Rede stehenden Vorschrift strafbar gemacht.

aa) Die Konstellation des passlosen Aufenthalts wird allerdings von den bisher ergangenen Urteilen des EuGH nicht erfasst. Eine Bestrafung könnte aber im Falle des zusätzlich zur Passlosigkeit gegebenen illegalen Aufenthalts nach Einreise zum Zweck der Asylantragstellung das nach den gesetzlichen Vorschriften in Fällen der vorliegenden Art zwingend durchzuführende Rückkehrverfahren verzögern. Deshalb muss auch § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG europarechtskonform dahingehend ausgelegt werden, dass die Tat, was in vorliegender Sache nicht anzunehmen ist, erst nach auf einem ungerechtfertigten Handeln des Drittstaatsangehörigen beruhender Erfolglosigkeit des Rückkehrverfahrens sanktioniert werden darf, um die bereits mehrfach angesprochene Effizienz dieses Verfahrens zu gewährleisten (vergleiche Hörich/Bergmann: Das Ende der Strafbarkeit des illegalen Aufenthalts? NJW 2012, 3339, 3343, zitiert nach beck-online).

bb) Einer Vorlage der Sache an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung nach Artikel 267 AEUV bedarf es nach Lage der Dinge nicht.

Wird eine derartige Frage über die Auslegung der Verträge einem Gericht eines Mitgliedstaats, dessen Entscheidungen selbst mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann, gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen, zwingend ist die Vorlage nicht. Von einer Vorlage wird im Ermessenswege abgesehen, insbesondere deshalb, um zunächst eine weitere Klärung der Problematik im nationalen Instanzenzug zu ermöglichen.

4. Kostenentscheidung

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 der Strafprozessordnung.