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Entscheidung OVG 5 B 22.19


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 5. Senat Entscheidungsdatum 29.04.2021
Aktenzeichen OVG 5 B 22.19 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0429.OVG5B22.19.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen Anh 2 Kap VIII Nr 1 EGV 852/2004, Art 54 EGV 882/2004, Art 138 EUV 2017/625

Leitsatz

Die Lebensmittelaufsicht durfte nach Europarecht verlangen, dass Beschäftigte im Einzelhandel an der Fleischtheke helle Kleidung tragen.

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 24. März 2015 wird für wirkungslos erklärt.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Das Verfahren ist durch die übereinstimmenden Erklärungen der Beteiligten in der Hauptsache erledigt. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin ist wirkungslos (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO).

Über die Kosten des Verfahrens ist gemäß § 161 Abs. 2 VwGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu entscheiden. Billigem Ermessen entspricht es, die Kosten des Verfahrens der Klägerin aufzuerlegen, weil sie bei streitiger Entscheidung nach bisheriger Sach- und Rechtslage voraussichtlich unterlegen wäre und der Beklagte auf die geänderte Sach- bzw. Rechtslage nach gerichtlichem Hinweis in der mündlichen Verhandlung unverzüglich durch Aufhebung des angefochtenen Bescheides des Bezirksamts Steglitz-Zehlendorf von Berlin vom 22. März 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. August 2011 reagiert hat (vgl. § 156 VwGO).

Als Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides wäre nicht die nationale Regelung des § 39 Abs. 2 LFGB, sondern - als umfassende und abschließende, den nationalen Vorschriften vorgehende Rechtsgrundlage - Art. 54 der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 heranzuziehen bzw. im Hinblick auf den Charakter der angefochtenen Verfügung als sog. Dauerverwaltungsakt nach derzeitiger Rechtslage Art. 138 der Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017 (im Folgenden: Kontrollverordnung - KontrollVO) anzuwenden gewesen (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2015 - 3 C 7.14 - juris Rn. 10, 14; siehe auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 9. Februar 2021 - 13 ME 580/20 - juris Rn. 6).

Nach Art. 138 Abs. 1 b) (vgl. auch Art. 138 Abs. 2) KontrollVO ergreifen die zuständigen Behörden im Falle eines festgestellten Verstoßes geeignete Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass der betreffende Unternehmer den Verstoß beendet und erneute Verstöße dieser Art verhindert.

Die (vormals) von dem Bedienungspersonal der Fleisch- und Wursttheke im Lebensmitteleinzelhandelsgeschäft der (nunmehrigen) Klägerin getragene Bekleidung (bordeauxrote Hemden und schwarze Schürzen) verstieß nach - im Rahmen der Billigkeitserwägung allein gebotener - summarischer Prüfung gegen Kapitel II, Art. 4 Abs. 2, Anhang II Kapitel VIII Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über Lebensmittelhygiene in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 219/2009 vom 11. März 2009 (im Folgenden: Basisverordnung - BasisVO), wonach Personen, die in einem Bereich arbeiten, in dem mit Lebensmitteln umgegangen wird, ein hohes Maß an Sauberkeit halten und geeignete und saubere Arbeitskleidung und erforderlichenfalls Schutzkleidung tragen müssen. Der Begriff der Geeignetheit der Arbeitskleidung ist anhand der Ziele der Verordnung (vgl. Art. 2 Abs. 3 BasisVO), nämlich - ausweislich der Erwägungsgründe - ein hohes Verbraucherschutzniveau und damit ein hohes Maß an Schutz für Leben und Gesundheit des Menschen zu gewährleisten, zu beurteilen.

Beachtlich für die Lebensmittelunternehmer und die Behörden wären neben der Basisverordnung auch ausgearbeitete einzelstaatliche oder gemeinschaftliche Leitlinien für eine gute Hygienepraxis und für die Anwendung der HACCP-Grundsätze (Art. 7 bis 9 BasisVO). Eine von der Lebensmittelwirtschaft ausgearbeitete einzelstaatliche Leitlinie erlangt Verbindlichkeit jedoch erst, nachdem sie das Verfahren gemäß Art. 8 Abs. 3, 4 BasisVO erfolgreich durchlaufen hat. Fehlt es an derartigen Leitlinien, sind die Vorschriften der Basisverordnung nicht etwa womöglich zu unbestimmt. Vielmehr erlauben sie in Verbindung mit der Kontrollverordnung ohne Weiteres den zuständigen Behörden, die geeigneten Maßnahmen nach Ermessen zu ergreifen (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2015 - 3 C 7.14 - juris Rn. 15). Der Verwaltungsgerichtsbarkeit obliegt insoweit nicht mehr als eine Überprüfung der Maßnahme auf Ermessensfehler. Orientieren sich die Behörden in ihrer Ermessenspraxis an privaten Rechtsetzungen (DIN-Vorschriften und ähnlichem), ist das im Ausgangspunkt nicht mehr als ein Aspekt der Zweckmäßigkeit.

Nach diesen Maßstäben war die Ermessensbetätigung des Beklagten gerichtlich nicht zu beanstanden. Namentlich ist es nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Behörde unter geeigneter und sauberer Arbeitskleidung im Sinn der Basisverordnung, die sich nicht speziell zur Rohfleischverarbeitung und zu dessen Verkauf äußert, eine helle Kleidung verstand. Der Beklagte bezog sich auf die DIN 10524 „Lebensmittelhygiene - Arbeitsbekleidung in Lebensmittelbetrieben“, vormals in der Fassung der DIN 10524:2004-05, in der es unter 4.1.8 hieß: „Für hygienisch sensible Bereiche, insbesondere in offenen Arbeitsbereichen wie der Gewinnung, Herstellung, Zubereitung, Be- und Verarbeitung sowie dem Verpacken […] ist einer hellen bzw. weißen Arbeitsbekleidung der Vorzug zu geben (s. Tabelle 1). Besätze können farbig sein.“

Die Orientierung des Beklagten an dieser Deutschen Industrienorm war nicht offensichtlich fehlsam. Denn zur Gewährleistung einer funktionierenden Personalhygiene gehört auch die Auswahl einer geeigneten Hygienekleidung, die auf die Art der Tätigkeit und den Einsatzbereich des Personals abgestimmt ist. Die jeweilige Höhe der Anforderungen an die Hygienekleidung richtet sich nach den Kontaktmöglichkeiten des Personals mit den Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen. Bei der Handhabung leicht verderblicher Lebensmittel sind strengere Anforderungen zu stellen als beim Inverkehrbringen von verpackter Ware. Die Sorgfaltspflichten des Lebensmittelunternehmers sind beim Umgang mit leicht verderblichen Lebensmitteln besonders hoch, weil eine nachteilige Beeinflussung dieser Lebensmittel durch verschmutzte Kleidung sehr leicht möglich ist und insbesondere beim Herstellen und Behandeln von sehr leicht verderblichen Lebensmitteln ansonsten schnell eine Gesundheitsgefahr für den Konsumenten beim Verzehr besteht. Vor diesem Hintergrund stehen die Kriterien der Sauberkeit und der Geeignetheit der Arbeitsbekleidung nicht zusammenhangslos nebeneinander. Vielmehr gilt es, sie vor dem Hintergrund des Grundsatzes des umfassenden Verbraucher- und Gesundheitsschutzes zu kombinieren. Geeignete Hygienekleidung für die Herstellung und das Behandeln von leicht verderblichen Lebensmitteln muss derart beschaffen sein, dass der Grad der Verschmutzung schnell und problemlos erkennbar ist, um das rechtzeitige Wechseln der Hygienekleidung zu ermöglichen und Kreuzkontaminationen auszuschließen. Nur so kann gewährleistet werden, dass Personen, die in hygienisch sensiblen Bereichen mit Lebensmitteln arbeiteten, ein hohes Maß an Sauberkeit halten. Es reicht nicht aus, wenn Arbeitsbekleidung in bestimmten Intervallen zu wechseln ist, sondern dies muss in einem konkreten/offensichtlichen Verschmutzungsfall auch unverzüglich früher geschehen. Dies erfordert eine eindeutige Erkennbarkeit von Verschmutzungen. Das Personal muss Verschmutzungen schnell bemerken, also Art und Ausmaß der Verunreinigungen auf einen Blick erfassen können. Bei optischer Wahrnehmung eines bestimmten Verschmutzungsgrades wechseln die Mitarbeiter in der Regel ihre Arbeitskleidung bereits von selber. Dies führt zu einem frühzeitigeren Wechsel der Arbeitsbekleidung, unabhängig von einer Anweisung oder einem zeitlichen Reinigungs- bzw. Wechselzyklus. Dies wird auch deshalb der Fall sein, weil auf den ersten Blick erkennbare Arbeitsbekleidung nicht verkaufsfördernd, sondern eher abschreckend auf Kunden wirkt. Die Kundschaft kann sich auf diese Weise einen gewissen Eindruck von der Einhaltung der Hygienevorschriften im Betrieb verschaffen. Auch die staatlichen Lebensmittelkontrolleure können so schnell Anhaltspunkte für Kontaminationen gewinnen. Die Angestellten haben zudem die Möglichkeit zu überprüfen, ob das entsprechende Textilreinigungsunternehmen die Arbeitsbekleidung sorgfältig gereinigt hat. Dies gilt gerade für den streitgegenständlichen fleisch- und wurstverarbeitenden Einzelhandelsbetrieb, in dem Tätigkeiten u.a. hinter der Bedientheke und im Produktionsbereich (Vorbereitungsräume, Küche, Kühlräume) stattfinden, bei denen es zu Kontaminationen der Arbeitsbekleidung kommen kann. Der Arbeitsbereich der Wurst- und Fleischtheken dürfte wegen der Hackfleischherstellung der Risikoklasse 3 zuzuordnen sein; dieser Arbeitsbereich stellt lebensmittelhygienisch ein besonders sensibles Gebiet dar. Fleisch- und Wurstwaren zählen im Übrigen in Deutschland nach den Eiprodukten zu den mikrobiologisch empfindlichsten Lebensmitteln und weisen deshalb bei unsachgemäßer Behandlung eine hohes Gefährdungspotential auf. Daher ist es wichtig, bereits im Vorfeld ein Kontaminationsrisiko zu minimieren. Insoweit ist der Klägerin zwar zuzugestehen, dass eine optische Erkennbarkeit einer Verschmutzung nicht zugleich bedeutet, dass eine mikrobiologische Kontamination vorliegt. Entscheidend ist jedoch das dargelegte Gefährdungspotential, dem risikobasiert entgegengewirkt werden muss. Hier gilt es - wie ausgeführt -, die Begriffe der Sauberkeit (keine Kontaminationen) und der Geeignetheit (Identifizierbarkeit von Verschmutzungen) zu kombinieren.

Dieser Zusammenhang lässt sich über die Farbgebung der Kleidung erreichen. Dementsprechend fordern auch etwa die Leitlinie für eine gute Lebensmittelhygiene-Praxis im Anwendungsbereich der LMHV (Verkaufsbereich) in Fleischereibetrieben, S. 11, Abschnitt II. A. Nr. 1.b, und die Leitlinie für eine gute Hygienepraxis in handwerklichen Fleischereien des Deutschen Fleischer-Verbandes (2009) für die Bereiche Produktion und Küche in Fleischereien, S. 22-23, helle Arbeitsbekleidung. Das Verwaltungsgericht hat zudem auf die Fleischhygieneverordnung in der bis 14. August 2007 gültigen Fassung, Anlage 2, Kapitel II Nr. 1 Satz 3 (helle Arbeitsbekleidung) und Satz 4 sowie auf die RL 64/433/EWG (Frischfleischrichtlinie), Kapitel V Nr. 18 Buchst. a (helle Arbeitsbekleidung), hingewiesen, die zwar nicht für Verkaufsräume von Einzelhandelsgeschäften einschließlich Fleischereibetrieben galten, die aber zeigen, dass der Richtliniengeber aufgrund seiner fachlichen Einschätzung die hygienische Relevanz von im Laufe des Tages durch Blut und Fleischsäfte verschmutzte Arbeitsbekleidung als gegeben angesehen hat.

Der Beklagte hat mittlerweile seine Ermessenspraxis verändert und folgerichtig den an der alten Ermessensvorgabe ausgerichteten Bescheid (Dauerverwaltungsakt) aufgehoben. Nunmehr orientiert er sich an der DIN 10524:2020-06 (vgl. auch die Vorgängerfassungen DIN 10524:2012-04 und DIN 10524-2019-05). Diese sieht vor, dass in hygienisch sensiblen Bereichen, also in den Risikoklassen RK 2 und RK 3, die Farbe der Teile der Arbeitskleidung, die einer unmittelbaren hygienerelevanten Verschmutzung besonders ausgesetzt sein können (z.B. Schürze, Ärmel usw.), so ausgewählt wird, dass die bei der Ausübung der Arbeit anfallenden hygienerelevanten Verschmutzungen visuell leicht zu erkennen sind (unter Verweis auf eine standardisierte Kontrastermittlungsmethode nach DIN EN 20105-A02 und DIN EN 20105-A03). Andere Teile der Arbeitskleidung können abweichende Farbkontraste zu Verschmutzungen aufweisen. Abweichungen bei der Farbauswahl sind bei Besätzen, Logos und der Bekleidung des Wartungspersonals möglich, sofern sie hygienisch vertretbar sind. Als visuell leicht zu erkennen gilt nach der DIN eine Differenz im Kontrast der Farbe der Arbeitsbekleidung zu der zu erwartenden hygienerelevanten Verschmutzung nach dem genormten Graumaßstab DIN EN 20105-A02 und DIN EN 20105-A03 bei der Echtheitszahl 1 bis Echtheitszahl 3 (Ziff. 4.1.7). Bei Schürzen muss die Farbe so gewählt werden, dass die bei der Ausübung der Arbeiten anfallenden hygienerelevanten Verschmutzungen visuell leicht zu erkennen sind (vgl. Ziff. 4.3.1.4.4). Tabelle 1 - spezifische Anforderungen an die Arbeitsbekleidung - sieht für die Ziffern 4.1.7 und 4.3.1.4.4 vor, dass Verschmutzungen visuell leicht erkennbar sein müssen. Diese neue Ermessenspraxis hat der Senat im vorliegenden Verfahren nicht zu beurteilen.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 47 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).